Serpentinen: Roman

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Rezensionen zu "Serpentinen: Roman"

  1. Krass

    „Um was geht es?“ Diese Frage, die sich wie ein roter Faden durch „Serpentinen“ von Bov Bjerg zieht, habe ich mir genauso oft gestellt, wie sie im Buche steht *g*.

    Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich sie jetzt – nach Beendigung der Lektüre und beim Verfassen dieser Rezension – kompetent und richtig beantworten kann. Dafür hat mich das Buch zu sehr mitgerissen (auf der einen Seite) und verwirrt (auf der anderen Seite). Aber die Frage ist ja: will ich das überhaupt? Jeder setzt schließlich andere Prioritäten. Wir können zwar alle dasselbe Buch lesen, aber jeder wird für sich die Geschichte anders lesen.

    Ich habe es so gelesen: Es ist eine Vater-/Sohn-Reise. Es ist eine Reise in die Vergangenheit. Es ist eine Reise durch die dunklen Gedanken des Vaters, der eine „Tradition“ seiner Familie unterbrechen will, nämlich die der Selbsttötung (Vater, Großvater, Urgroßvater).

    Kurvig wie eine Serpentinenstraße verfolgen die Leserinnen und Leser dem Erzähler durch sein Leben. Dabei befindet man sich mal am Anfang, mal am Ende der Straße ohne direkt zu wissen, wo oben und unten ist. Soweit so unklar? *g* Genauso ging es mir während der Lektüre.

    Die Gedanken und Zeiten springen munter hin und her, so dass einem schon mal schwindelig werden kann ob der Detailfülle auf der einen und dem Nichtgesagten auf der anderen Seite. Und doch kann man sich dem Fahrtwind die Serpentinen rauf und runter nicht entziehen, wird um eine Kurve nach der anderen geschleudert, obwohl man angeschnallt ist und die Geschwindigkeit durch eigene Gedanken(pausen) drosseln kann – und sollte.

    Denn der Autor fordert seine Leserinnen und Leser heraus – nachzudenken, was war, was ist, was ist „vererbt“, was kann ich oder was lässt sich überhaupt ändern…

    Das Buch hallt nach. Definitiv. Und ich bin noch nicht am Ende meiner „Serpentinen“ sprich meiner Gedanken zu dieser Geschichte. Darum zücke ich auch noch nicht die Höchstnote, aber wie ein Auto vier Reifen hat, ziehe ich 4* und spreche eine klare Leseempfehlung aus für alle, die es auch mal experimentell und kurvig mögen.

    ©kingofmusic

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  1. »Um was geht es? Um was geht es!«

    Handlung:⠀

    Der Ich-Erzähler fährt mit seinem kleinen Sohn in die Schwäbische Alb, wo er selbst aufgewachsen ist. Er will dem Jungen zeigen, wo seine Wurzeln liegen – doch ist dies keineswegs eine Geschichte voller warmherziger Erinnerungen. Denn die Familie wird seit Generationen geplagt von einem schwarzen Fluch: Depressionen und psychische Erkrankungen, die die Betroffenen letztendlich zum Äußersten führen. Die Erzählung verläuft stets auf zwei Bedeutungsebenen, denn wie der Junge die Reise erlebt und wie der Vater insgeheim mit seinen Dämonen kämpft, könnte konträrer kaum sein.⠀

    »Um was geht es? Um was geht es!«⠀

    Um was es geht, das ist ein Spiel zwischen Vater und Sohn. Es geht um die Serpentinen. Es geht um die Serpentinen. Es geht um die SER-PEN-TI-NEN. Es geht darum, sich in die Kurve zu legen. »Um was geht es?« Wieder und wieder verlangt der Junge eine Antwort, die letztlich ohne Bedeutung ist – ein Ritual, in dem es nur um die Verbindung geht, um das Gefühl der Kameradschaft.⠀

    Für ihn ist die Reise ein großes Abenteuer, ein spannender Roadtrip. Er freut sich über die Aufmerksamkeit des Vaters, reicht ihm Bierdosen ans Steuer. »Wir machen ganz schön viel zusammen« sagt er glücklich. Er ahnt nicht, dass die Mutter schon die Polizei gerufen hat. Dass der Vater ihm nachts das Kissen aufs Gesicht legt, wenn er schläft. Dass der versucht, sich zu wappnen für den erweiterten Suizid – oder dafür, eben doch weiterzuleben, leben zu lassen.⠀

    »Um was geht es?«⠀

    Es geht um die Familiengeschichte, die Nazivergangenheit, die Vertreibung der sudetendeutschen Ahnen. Es geht um drei Generationen von Selbstmördern. Es geht um vaterlose Söhne, die zu ‘Scheißvätern’ werden, die den fatalen Zyklus fortführen. Die Rückblicke sind durchdrungen von familiärer und gesellschaftlicher Gewalt, Armut und Alkoholismus, Variationen der Ausgrenzung und Fremdheit.⠀

    Und immer wieder senkt sich ein grauer Schleier über die Psyche – seit drei Generationen der finale Vorhang für den jeweiligen Patriarchen. Auch der Protagonist leidet an lähmenden Depressionen, die ihn in äußerster Konsequenz hierher geführt haben: zu den Serpentinen, zu seiner Vergangenheit, vielleicht zu seinem Tod.⠀

    Das liest sich über lange Passagen wie ein dunkler Fiebertraum, aus dem es kein Erwachen gibt – das bedrückende Panorama einer Depression ohne Wiederkehr. Man steht am Scheideweg, der Leser wie der Protagonist, und hat doch das Gefühl, es könne nur in die eine unheilvolle Richtung gehen.⠀

    Die Vorbelastung ist in jedweder Hinsicht vernichtend. Der Erzähler kämpft gegen seine Depression an, lässt sich jedoch immer mehr von ihr auf Abwege leiten – sie verdreht seine Gedanken, lässt den möglichen Kindsmord wie eine logische Konsequenz der Liebe erscheinen.⠀

    Und dennoch: um was geht es?⠀

    Die Bedrückung, die ich beim Lesen empfand, blieb meist distanziert. Die Geschehnisse erschienen mir in vielen Passagen geradezu exemplarisch – abgenutzte Vorzeigebilder psychischer und familiärer Verstrickungen, das A bis Z der Dysfunktion. Die Charaktere wandern durch diese Szenen wie Statisten, losgelöst von aller Konsequenz.⠀

    Selbst wenn mein Verstand urteilte “Das ist schrecklich!”, hatte ich noch das Gefühl, dass die Erzählung an der Oberfläche trieb und ich die wahre Hölle nur erahnen konnte, weit unten am tiefen Grund. Mir fehlte sozusagen der Sog, der mich nach unten gezogen hätte, damit ich das Ertrinken (üb)erleben und begreifen kann.⠀

    Dabei kann der Schreibstil durchaus Atmosphäre aufbauen und hat großartige Momente, durch deren Lupe auf einmal alles glasklar erscheint – nur sind diese in meinen Augen zu rar gesät. Vieles ist zu nüchtern, zu verkopft, zu konstruiert. ⠀

    Im Endeffekt verharrt der Erzähler in der Opferrolle. Er zählt all das Schreckliche auf, das ihm und anderen geschehen ist, spielt es immer wieder durch. Ihm ist bewusst, dass er aufgrund seiner Depression in Gefahr steht, sich und/oder seinem Sohn etwas anzutun. Aber er macht das mit sich selbst aus, er sucht keine Hilfe – und er sieht nicht, wie unverantwortlich das ist.⠀

    Auf jede Passage, in der sich emotionaler Fortschritt erahnen lässt, folgen mehrere, in denen er den Fortschritt zunichte macht und sich nur umso sturer an sein Leid klammert. Als Leserin hörte ich irgendwann auf, mitzuleiden, denn ich sah darin keinen Sinn mehr. Um was geht es? Um was geht es!⠀

    Fazit⠀

    “Serpentinen” beschreibt das düstere Psychogramm einer Familie, die seit Generationen gefangen ist in einem Kreislauf von Schuld und Gewalt. Der Protagonist, dessen Urgroßvater, Großvater und Vater alle durch Suizid gestorben sind, begibt sich mit seinem kleinen Sohn auf eine Reise an die Plätze seiner Kindheit – im Hinterkopf den Gedanken, der Zyklus ließe sich möglicherweise endlich durchbrechen, indem Vater UND Sohn sterben.⠀

    Die Grundidee ist aus psychologischer Sicht gesehen ohne Zweifel interessant. Die Familiengeschichte wartet mit einer Vielzahl von Themen auf (möglicherweise zu viele!), die auch für sich genommen alle schon genug Potential für einen Roman böten, und der Schreibstil hat seinen ganz eigenen, oft großartigen Klang.⠀

    Dennoch fehlt mir da etwas – der letzte Schritt, der die Distanz zum Leser geschlossen hätte, vielleicht. Ich nahm den Schmerz und die Tragik zur Kenntnis, hatte indes das Gefühl, als ränne mir die wahre Bedeutung durch die Finger. Der Protagonist macht sein Leid zum Lebensinhalt, und mir bleibt letztendlich nur die Erinnerung an ein ungewöhnliches Gedankenspiel.⠀

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  1. 5
    08. Feb 2020 

    Intensives Leseerlebnis

    Der 1965 im Schwäbischen geborene Autor, der sich Bov Bjerg nennt, hatte mit seinem zweiten Roman „Auerhaus“ einen Riesenerfolg. Das Buch wurde verfilmt und ist mittlerweile Schullektüre geworden.
    Sein neuer Roman „ Serpentinen“ knüpft an manches von damals an, ist aber völlig anders, härter, dusterer und noch besser.
    Der Ich- Erzähler, ein Mann Mitte 40, reist zurück in die schwäbische Provinz, zurück in die eigene Vergangenheit. Mit dabei auf der Reise sind sein 7-oder 8-jähriger Sohn und als drohender Schatten das Familienerbe, das er mit sich schleppt. Die Furcht, so zu enden wie seine männliche Vorfahren: ( Zitat ) „Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere. Ich war noch am Leben.“
    Eigentlich könnte er zufrieden sein. Er hat seine provinzielle Heimat verlassen, lebt seit Jahren in Berlin. Auch beruflich ist ihm der Aufstieg geglückt. Er ist Soziologieprofessor, seine Frau erfolgreiche Juristin. Doch er fühlt sich fremd im akademischen Bürgertum, nicht zugehörig.
    Nun unternimmt er mit seinem Sohn diese Reise, um ihm zu zeigen, wo er herkommt.
    Aufgewachsen in einem kleinen Ort auf der schwäbischen Alb. Die Eltern hatte es nach dem Krieg hierher verschlagen. Die Mutter ist Sudetendeutsche, der Vater stammte aus Brandenburg. Heimisch geworden sind beide hier nicht.
    Der Vater, einfacher Arbeiter, war Alkoholiker, der Frau und Kinder schlug. Der Autor sagt von ihm: ( Zitat ) „Der Vater war ein Nazi, bis zu seinem Ende. Keiner von denen, die den Massenmord abstritten. Er war ein richtiger Nazi. Einer, der den Mord gut fand.“
    Und : „ Er war kein Rudolf Höß, er war kein Hans Frank, auch wenn er endete wie sie. Er hatte kein Nazi der Tat mehr sein können. Er musste ein Nazi der Meinung bleiben. Ein Mörder nur in der Fantasie und auf dem Wahlzettel.“
    Danach folgt das Ergebnis der Landtagswahl in Baden- Württemberg von 1968, in dem die NPD 9,82 % der Stimmen erhielt.
    Im Alter von 44 Jahren hat sich der Vater erhängt. Der kleine Sohn findet ihn im Badezimmer.
    Schon länger belastet nun den Erzähler die Furcht, so zu enden wie die Männer in der Familie. Aber er will seinem Sohn das Schicksal ersparen, das er erlitten hat. Er würde ihn mitnehmen in den Tod.
    Als Leser lebt man nun ständig in der Angst um das Kind.
    Bov Bjerg hat mit „ Serpentinen“ einen Roman geschaffen, der manchmal schwer erträglich ist. Trotzdem liest man gebannt weiter und nach der letzten Seite lässt einem das Buch immer noch nicht los. Auch die Sprache und die motivische Struktur machen „ Serpentinen“ zu einem intensiven Leseerlebnis.

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Das Zuhause

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Rezensionen zu "Das Zuhause"

  1. Keine Philosophie erkennbar

    Klappentext:

    „Wie das Zuhause unsere Psyche beeinflusst. »Ein aufschlussreiches Buch, das die Räume erhellt und verstehen lässt, was sie bedeuten.« la Repubblica

    Drei Zimmer, Küche, Bad – ist damit erklärt, was ein Zuhause ist? Keineswegs, beweist Emanuele Coccia in seiner „Philosophie des Wohnens“. Obwohl die Philosophie von jeher eine besondere Beziehung zur Stadt hatte, ging es ihr bislang kaum um Häuser und Wohnungen. Dabei spielt das Zuhause für das menschliche Glück eine entscheidende Rolle. Die Aufteilung der Räume spiegelt und verstärkt soziale und kulturelle Ungleichheiten. Emanuele Coccia zeigt, wie Wohnzimmer, Flur und Küche die Psyche prägen. Meisterhaft verknüpft er das Leben zwischen vier Wänden mit der ökologisch drängenden Frage, wie der Mensch die Welt zu seinem Zuhause macht.“

    Ich muss gestehen, ich hatte völlig andere Erwartungen an das Buch. Nach beenden kann ich klar sagen: das Lesen des Buches war reine Zeitverschwendung. Um was es geht: der Autor erklärt uns seine Sicht der Dinge bezüglich unseres Zuhauses. Seine Wortwahl ist dabei nicht immer neutral und er beharrt auf seine Sicht. Seine Philosophie des Wohnens ist nicht nur trocken, sondern er tut mir einfach nur Leid wenn er sich so in seinem Zuhause sieht. Wie andere Leser schon schrieben, ist seine Erläuterung bezüglich Badezimmer schon mehr als fragwürdig. Philosophie kann ich da keine entdecken. Seine Sichtweisen als Mann wirken in vielen Parts mehr als befremdlich und man sucht einerseits nach der Logik aber auch nach dem Sinn seiner Ausführung - beides blieb mir verborgen und ich bin nicht böse darum. 1 von 5 Sterne für dieses undefinierbare Buch.

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  1. Häppchenweise zu lesen!

    Das Cover ist ja der absolute Wahnsinn. Immer wieder entdeckt man beim Schauen Einzelheiten und ist versucht damit wie mit einem Suchbild zu spielen. Oder darüber zu philosophieren. Wo Antennen stehen und wo keine und was das bedeutet zum Beispiel.
    Schon beim Lesen der Inhaltsangabe kommt man ins Grübeln oder ist das auch philosophieren?
    Thema Haustiere, mal schnell reinlesen. Den Text so ganz und gar nicht erwartet und die Aussage sinngemäß, dass ein Ziel-Zuhause das sein muss, in dem wir nicht mehr wissen ob wir Menschen oder Karnickel sind, die habe ich auch nach mehrfachem lesen nicht verstanden.
    Dann gibt es das Thema Weißes Pulver. Hier geht es tatsächlich um Drogen, aber eigentlich auch wieder nicht. So geht es halt zu beim Philosophieren.
    Insgesamt ein sehr interessantes Buch, man braucht kein philosophisches Vorwissen tut sich aber schwer damit, mehr als ein Kapitel auf einmal zu lesen. Daher der Ratschlag, häppchenweise zu Gemüte führen.

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Beschreibung einer Krabbenwanderung: Roman

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Durch die Nacht: Roman

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Rezensionen zu "Durch die Nacht: Roman"

  1. „Die Welt verhöhnte uns.“

    Karl und Eva führen eine Bilderbuchehe, mit den zwei gemeinsamen Kindern Ole-Jakob und Stine. Da ist ganz viel Liebe, das spürt man beim Lesen immer wieder, doch dann gerät alles aus dem Ruder: Karl verlässt die Familie für ein junges Mädchen, tauscht Liebe gegen flüchtige Lust. Wenig später ist Ole-Jakob tot, vermutlich Suizid, und hinterlässt die Hinterbliebenen mit quälenden Fragen.

    Wer ist schuld? Karl flieht vor dieser Frage, flieht vor sich selbst.

    Stig Sæterbakken erzählt die Geschichte einer Familie, die nach dem Selbstmord des 18-jährigen Sohnes Stück für Stück zerbricht. „Durch die Nacht“ nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Schattengründe von Schuld, Trauer, Scham und Zorn, und das ist keine leichte Kost – umso verstörender, wenn man weiß, dass sich der Autor 2012 das Leben nahm, ein Jahr nach Erscheinen des Romans.

    Wer selbst schon einmal einen geliebten Menschen verloren hat – vor allem zu jung, vor allem unerwartet –, kennt dieses Gefühl der fassungslosen Trauer, das hier geradezu die Seiten tränkt. Wie man neben sich steht. Wie man den Eindruck hat, dass die ganze Welt aus dem Takt geraten ist, während man selber versucht, wieder Halt zu finden.

    Die Trauer des Lesers, selbst wenn sie nur noch als leises Echo widerhallt, gibt dieser Geschichte einen tiefen Resonanzboden, und das macht sie in meinen Augen so universell und zeitlos.

    Schon nach wenigen Seiten beschlich mich das Gefühl, dass ich leicht den Tritt verlor, auf trügerischem Gelände ins Rutschen kam. Für einen Augenblick gefangen zwischen dem Impuls, das Buch zur Seite zu legen, und dem, mich fallen zu lassen, las ich dann doch direkt weiter – in der dumpfen Erwartung, dass das Buch den emotionalen Tiefpunkt noch lange nicht erreicht hatte.

    Und damit lag ich richtig.

    Der Autor schont weder seine Charaktere noch den Leser (und beim Schreiben sicher auch sich selber nicht).

    Zitat:
    „Kälte kam und ging. Wärme kam nie. Es gab nur Kälte und die Abwesenheit von Kälte.“

    Dennoch will man wissen, muss man wissen, wie es weitergeht. ‚Sogwirkung‘ ist ein überstrapazierter Begriff, aber er trifft es am ehesten: dieses Gefühl der Unvermeidlichkeit und gleichzeitig der gespannten Erwartung.

    Sæterbakken schreibt Charaktere, die man sicher nicht immer mögen muss, die sich aber geradezu schmerzhaft authentisch lesen. Selbst in ihren Fehlern und Schwächen sind sie einfach durch und durch menschlich – man kann ihnen als Leser daher alles verzeihen, auch wenn sie sich selbst rein gar nicht verzeihen können.

    Zitat:
    „Tausend Mal am Tag vergaß ich, dass Ole-Jakob tot war. Tausend Mal am Tag fiel es mir plötzlich ein. Beides war unerträglich.“

    Besonders Karl, der trauernde Vater, ist sicher kein strahlender Held. Er setzt seine Familie auf Spiel, wirft die Liebe seines Lebens weg, und wofür? Für eine Affäre, die nicht mehr ist als eine erotische Stichflamme, eine oberflächliche, kurzlebige Verliebtheit. Und dann ist es passiert: Ole-Jakob ist tot und Karl muss sich fragen, ob er seinen Sohn in den Selbstmord getrieben hat. Dennoch konnte ich für ihn nichts empfinden außer ehrliches Mitleid und den Wunsch, er möge in irgendeiner Form seinen Frieden finden – angesichts seiner Trauer wird alles andere bedeutungslos.

    Zitat:
    „Während ich so dastand, ging die Sonne unter, und es wurde Nacht. Seitdem ist Nacht.“

    Tatsächlich verliert er jedoch den Halt und damit jeden Bezug zur Realität.

    Denn sein Freund Boris erzählt ihm von einem Haus in der Slowakei, das man als geläuterter Mensch verlässt – sofern man es im Vollbesitz der geistigen Kräfte überlebt, was nicht gewährleistet ist. Urban Legend? Schauergeschichte? Ammenmärchen? Egal. Karl sieht nur noch diese eine Möglichkeit, die quälenden Schuldgefühle hinter sich zu lassen. So oder so.

    Er bricht auf, dieses Haus zu suchen – den Ort, wo „Hoffnung zu Staub wird“. Die Handlung kippt, während Karl sich zunehmend in Selbstauflösung befindet. Was danach wirklich passiert und was seiner wahnhaften Depression entsprungen ist, dessen kann man sich als Leser nie hundertprozentig gewiss sein.

    Die Geschehnisse lesen sich zunehmend unwirklich und alptraumhaft, Kafka und Edgar Allan Poe lassen grüßen.
    Sæterbakken balanciert gekonnt zwischen Realität und Surrealität, mit ausdrucksstarken Worten voller Dringlichkeit und Atmosphäre. Einfache Antworten liefert er nicht – tatsächlich fühlte ich mich vom Ende im ersten Moment geradezu vor den Kopf gestoßen! –, dafür aber eine Vielzahl möglicher Interpretationen. Zentral steht meines Erachtens auf jeden Fall die Frage, was der Selbstmord eines geliebten Menschen im Leben der Hinterbliebenen anrichtet.

    FAZIT

    Ole-Jakob war erst 18, doch Ole-Jakob ist tot. Zurück bleiben seine Eltern und seine Schwester, die sich fragen müssen, warum er außer dem Freitod keine Lösung sah. Vater Karl geht zugrunde an seiner Schuld, als sein bester Freund ihm von einem geheimnisvollen Haus erzählt, das jeden Besucher von seinen tiefsten Ängsten läutert – oder ihn in den Wahnsinn treibt. Verzweifelt bricht Karl auf zu einer Reise, bei der es für ihn um alles oder nichts geht.

    Das Buch hat mich zutiefst erschüttert – nicht nur, weil ich immer im Hinterkopf hatte, dass sich der Autor etwa ein Jahr nach Veröffentlichung das Leben nahm. Es ist schon ungeachtet dessen sicher keine leichte Lektüre für nebenher. Zum einen atmen die Worte geradezu Trauer und Schmerz, und zum anderen nimmt die Geschichte immer surrealere Wendungen – bis hin zu einem Ende, nach dem ich alles hinterfragte, was ich über die Geschichte zu wissen glaubte.

    Ich erwäge, das Buch direkt noch einmal zu lesen, um zu schauen, wo und wie sich dieses Ende angekündigt hat. Noch einmal durch die Nacht.

    #ThePassionWeShare
    #ReadingThroughTheNight
    #DurchDieNachtLesen

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Die Entflohene: Roman

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Ich bin nicht da: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Ich bin nicht da: Roman' von Lize Spit
4.35
4.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ich bin nicht da: Roman"

Leo ist seit zehn Jahren mit Simon zusammen. Er ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben, und viele andere sind da auch nicht. Eines Nachts kommt Simon wie ausgewechselt nach Hause, völlig überdreht, mit neuer Tätowierung, neuen Freunden, neuen Zukunftsplänen. Er schläft immer weniger und wird zunehmend paranoid. Eine manische Episode hat Leos große Liebe fest im Griff. Als sie begreift, wozu Simon jetzt fähig ist, ist es vielleicht zu spät. Zu lange hat Leo alles für ihn aufs Spiel gesetzt. Nun bleiben ihr genau elf Minuten, um eine Tragödie zu verhindern, die nicht nur ihr Leben für immer verändern würde. Ein Roman über eine junge Frau, die zusehen muss, wie ihre große Liebe von einer psychischen Krankheit geradezu verschlungen wird.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:576
Verlag: S. FISCHER
EAN:9783103971248
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Rezensionen zu "Ich bin nicht da: Roman"

  1. "... eine Version von Simon, die es nicht mehr gab"

    "Ich besaß Geduld wie eine Tube Zahnpasta. Solange man nicht aufgibt, kann man zur eigenen Überraschung immer noch etwas herausdrücken."

    Die Erzählerin Leonie (genannt Leo) und ihr Partner Simon, beide Ende 20, leben zusammen in einer Eigentumswohnung in Brüssel, die Simon von geerbtem Geld gekauft hat. Simon arbeitet als Grafikdesigner in einer Kreativfirma, Leo verkauft hochwertige Umstandsmode in einem Kettenladen, obwohl sie eigentlich lieber schreiben möchte (sie hat Drehbuch studiert). Ihr Zusammenleben ist vielleicht ein bisschen zu eingeigelt, aber innig und im wesentlichen störungsfrei. Bis eines Morgens Simon - nachdem er die ganze Nacht unterwegs war - mit einem neuen Tattoo hinter dem Ohr auftaucht und mit nimmermüder Energie beginnt, beider Leben umzukrempeln.

    Simon und Leo kommen beide aus schwierigen Familienverhältnissen; vor allem Leo ist wenig vernetzt und lebt eher zurückgezogen. Vielleicht liegt es daran, dass sie Simons Schnapsideen lange Zeit widerspruchslos akzeptiert, in der Hoffnung, er werde sich schon irgendwie wieder fangen - und vielleicht sind seine Pläne ja auch gar nicht so absurd, wie sie sich anhören? Der Umgang mit schwer kranken Menschen ist in unserer auf Jugend und Leistungsfähigkeit getrimmten Gesellschaft schon schwierig genug. Der Umgang mit psychisch Kranken noch schwieriger, weil jemand, der sich wie Simon verhält, erstmal als "bisschen nerdig, aber nett" eingestuft wird, später ausgelacht, schlimmstenfalls stigmatisiert - alle diese Stadien dürfen wir mit seiner Freundin durchleben.

    Der Roman erzählt auf zwei Zeitebenen. Die eine ist ein rückblickender Bericht, beginnt im Frühjahr 2018 (wobei stellenweise bis in die Jugend der Protagonisten zurückgehende Vorfälle miterzählt werden) und endet im Februar des Folgejahres. Es ist wichtig zu wissen, dass Leo nicht eigentlich über eine psychische Erkrankung erzählt, sondern über das Zusammenleben mit einer psychisch erkrankten Person. Was sie aus Liebe und Treue zu Simon leistet, ist fast zuviel des Guten. Sie beobachtet und beschützt ihn, duldet seine Verrücktheiten solange wie nur möglich. Sie überredet ihn, sich endlich behandeln zu lassen, trägt alle Stadien der Krankheit mit und bleibt auch an seiner Seite, als sich abzeichnet, dass Simon nie wieder so werden wird, wie er mal war (oder vielleicht überhaupt nie war - auch diese Frage wird in dem Buch verhandelt). Der zweite Zeitstrang umfasst gerade mal elf Minuten, nämlich die letzten elf Minuten des ersten Zeitstrangs, und wird häppchenweise parallel geliefert: Leo wird telefonisch von ihrer Arbeit weggerufen und radelt in aller Eile nach Hause. Diese Kapitel sind übertitelt mit: "Noch elf Minuten" .... "Noch sechs Minuten" ... "Noch zwei Minuten und dreißig Sekunden" usw. und vermitteln das Gefühl größter Panik. Etwas Schreckliches könnte passiert sein - was das denkbar schlimmste Szenario wäre, begreift die Leserin schon ziemlich früh und fiebert mit. Diese Erzählweise ist ein dramatischer Kunstgriff, der etwas Filmisches an sich hat; vielleicht hatte die Autorin tatsächlich eine Verfilmung im Sinn, aber andererseits braucht es dieses "Action"-Element unbedingt, um etwas Schwung in eine Handlung zu bringen, die sich ansonsten als deprimierende Abwärtsspirale darstellen würde.

    In einer Amazon-Rezension wird kritisiert, die Erzählerin sei empathielos und ohne Mitgefühl für den Patienten. An diesem Vorwurf ist insoweit etwas dran, als das Buch klarmacht, dass es keine wirkliche Einfühlung in die Innenwelt eines psychotischen Menschen geben kann - wie oben erwähnt, geht es weniger um die Krankheit selbst als den Umgang mit einem Betroffenen. Leo tut, was sie kann, und mehr. Sie leistet geradezu Übermenschliches, um ihrem Freund beizustehen; auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit, ihres eigenen Gleichgewichts. Aber wie soll man einen Menschen "verstehen", der jeden Realitätssinn verloren hat? Ein zweiter Vorwurf, der in den Rezensionen erhoben wurde, ist das Fehlen einer Triggerwarnung. Die gebe ich hiermit ab. Es gibt Bilder und Szenen, die sich nachdrücklich festfressen und schwer zu verkraften sind.

    Die Autorin kann erstklassig schreiben und beschäftigt sich mit einem außergewöhnlichen Thema, was ich gern mit voller Punktzahl honoriere. Dabei merke ich aber ausdrücklich an, dass das kein Buch für jede(n) ist. Die Geschichte hat das Potential, empfindliche Leute Tage und Wochen niederzudrücken. Wer selbst betroffen ist, liest es vielleicht wieder ganz anders; das kann ich nicht beurteilen. Meine Bewunderung für die Erzählerin Lize Spit gilt uneingeschränkt. Sie hat die Gabe, die Leserin buchstäblich an das Buch zu ketten; auch mit schwierigen Themen, wie sie schon mit "Und es schmilzt" bewiesen hat. Wenn, wie es heißt, große Literatur nur aus Dringlichkeit entstehen kann, dann ist diese Bedingung jedenfalls erfüllt.

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  1. Intensiv und bedrückend - sprachlich toll

    Vertrauen ist wie ein Pflaster - ist es einmal ab, klebt es nicht mehr richtig

    In ihrem zweiten Roman begibt sich Lize Spit in das Seelenleben der jungen Frau Leo, die sich von heute auf morgen in einer völlig veränderten Lebenssituation befindet, als ihr Partner Simon beginnt, seine Persönlichkeit radikal zu verändern. Als es nicht mehr (er-)tragbar für sie ist, holt sie sich Hilfe. Dennoch vergeht einige Zeit und es passieren furchtbare Dinge, so dass Simon schließlich in die Psychiatrie kommt, wo eine schwere psychische Erkrankung diagnostiziert wird.

    Dieser Roman beschreibt in Rückblenden die Beziehung von Leo und Simon, wie sie zehn Jahre zuvor zueinander gefunden haben, wie sehr sich ihre Kindheit und Jugend ähnelt - bei beiden gab es traurige Verluste in der Vergangenheit und schwierige Familienverhältnisse. Die Gemeinsamkeiten haben sie gewissermaßen zusammengeschweißt. Es ist eine intensive, glückliche Beziehung der beiden, an Familiengründung mit Hochzeit und Kindern denken sie bereits. Alles wirkt sehr harmonisch.

    Schon bald wird in diesen Rückblenden aber ausschließlich der Zeitraum seit Simons plötzlicher Erkrankung bis zum Jetzt beschrieben. Immer aus der Sicht Leos.

    Zusätzlich erleben wir im Roman - einem Countdown gleich - die letzten elf Minuten bis zur Auflösung einer möglicherweise grausamen Tat Simons. Diese elf Minuten werden durch die Rückblicke unterbrochen und erzeugen dadurch eine gleichbleibende, enorme Spannung.

    Lize Spit schafft es durch einen sehr einfühlsamen, oftmals poetischen Erzählstil, mich komplett in diese Geschichte hineinzuziehen. Wie Leo diese Situation versucht zu meistern, wie verlassen sie ist und völlig am Ende ihrer Kräfte. Wie sehr sie aber aus Liebe zu Simon nicht aufgeben will, ungeahnte Kräfte und Möglichkeiten findet um durchzuhalten, wie sie weiterhin krampfhaft versucht zu vertrauen, obwohl es ihr schier unmöglich scheint, wie sie sich selbst bei alledem immer mehr verliert... dieses gesamte Stimmungskaleidoskop ist in einer Intensität beschrieben, dass mich das Erzählte extrem berührt und mitnimmt.

    Ebenso die Beobachtungen von Simons Auf und Ab - die verschiedenen Phasen der bipolaren Störung sind extrem detailliert und ausführlich dargestellt. Es wirkt alles sehr authentisch, jedoch wiederholt es sich zum Ende hin und zieht sich ein bisschen in die Länge.

    Alles in allem habe ich den Roman mit Haut und Haar erlebt - was bei dieser Thematik aber dazu führt, dass ich nun am Ende etwas down bin ;-) Es war für mich ein sehr intensives, augenöffnendes, bedrückendes und trotzdem großartiges Leseerlebnis. Lize Spit schreibt auch in diesem Zweitling ganz grandios! Kann ich allen, die psychologisch gut ausgearbeitete, sprachlich hervorragende Romane mögen, sehr ans Herz legen. Aber Vorsicht: es gibt auch grausame Gewaltszenen...

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  1. Außer Kontrolle

    Lize Spit hat sich viel Zeit gelassen für ihren neuen dicken Roman. 571 Seiten. Wir mussten etwa vier Jahre warten und hatten so die Zeit das unvergessliche Werk „Und es schmilzt“ zu verdauen.

    Hier sind die Protagonisten älter geworden, wie die Autorin selbst etwa. Leo ist um die zwanzig, als es losgeht und um die dreißig, als es aufhört. Simon, Leos Partner und fast einziger Freund ist ungefähr drei Jahre älter als sie. Das Paar wohnt wie die Autorin in Brüssel. Leo hat Regie und Drehbuchschreiben an der Filmakademie studiert, arbeitet aber als Verkäuferin in einem Umstandsmodegeschäft. Simon ist Grafikdesigner, begnadet und sehr erfolgreich. LS lässt sich viel Zeit für die Entwicklung ihrer Figuren.

    Leo hat zwei Freundinnen: Indra und Lotte. Ihre Mutter verunglückte tödlich und zum Vater will sie keinen Kontakt. Bei Simon ist es ähnlich, seine Mutter starb und der Vater agiert in Italien. Es gibt nur Fernkontakt, durchaus häufiger, aber es kommt nie zu persönlichen Begegnungen während dieser Geschichte. Bei Leo verschwindet so nach und nach die eine Freundin aus ihrem Leben: Indra. Und einzig mit Lotte, ihrer Kollegin im Geschäft, teilt sie Freud und Leid. Simons Vater wird ab und zu von Leo informiert, aber zurück kommen nur wenig hilfreiche Vorschläge.

    Als Coen in der Agentur anfängt, in der Simon beschäftigt ist, eskaliert die Lage: Simon wird zunehmend paranoid. Aber auch Leo verändert sich. „Ich war schon genauso paranoid wie er, seine Krankheit hatte auch mein Gehirn infiziert.“ (Seite 199)

    Spät sorgt sie dafür, dass Simon eingeliefert wird. „Dieses Ding, das in ihm hauste, musste erst ganz aus ihm raus, bevor ich ihn wieder bei mir haben wollte.“ (Seite 287)

    In der Psychiatrie arbeitet auch Dr. „Einhorn“, den Leo und Simon auch vorher konsultiert hatten. Sieben Wochen währt die stationäre Behandlung, in der Simon medikamentös gedämpft wird. Mehr soll hier, an dieser Stelle, nicht verraten werden. Auf jeden Fall hat dieses Buch es in sich. Verschiedentlich erinnerte ich mich an Terézia Moras beeindruckenden Roman „Das Ungeheuer“. Nur dass dort der Protagonist erst posthum erfährt, wie schlimm es wirklich um seine Frau bestellt war. Und hier ist Leo live dabei, harrt aus und verhält sich selbst teilweise extrem grenzwertig. So legt sie einmal ein Reiskorn auf sein Kopfkissen, um zu kontrollieren, ob er geschlafen hat, bzw. sich ins Bett gelegt hat. Auch ihre seltsame Starre, dass sie viel zu wenig bis nichts unternimmt, um zumindest für sich die Situation in den Griff zu kriegen, finde ich bedenklich.

    Überhaupt fiel mir auf, was für verhängnisvolle und auch extrem übertriebene Rollen die ewig eingeschalteten Handys der Protagonisten spielen. Da wird sich schon gegenseitig zu-gesimst, während man im selben Zimmer am selben Tisch sitzt. Oder beim Radfahren werden E-Mails gelesen oder beantwortet. Was ist das für eine kranke Gesellschaft?

    Der Roman ist in drei Ebenen eingeteilt: die Gegenwartsebene, in der Leo versucht ein Verbrechen zu verhindern; die Entwicklungsgeschichte des Paares und schlussendlich im Hauptteil der Verlauf von Simons Krankheit gepaart mit der Ohnmacht der Ärzte und der Pharmaindustrie.

    Fazit: Ein ungewöhnlicher Roman, sehr empfehlenswert für hartgesottene Gemüter und ein würdiger Nachfolger für „Und es schmilzt“. Einige Stellen im ersten Drittel fand ich etwas aufgebläht, dennoch 4,5 verdiente Sterne.

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Triskele: Roman

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Rezensionen zu "Triskele: Roman"

  1. 4
    22. Aug 2022 

    Drei Schwestern...

    Drei Schwestern treffen sich in der Wohnung der Mutter. Die zielstrebige Mercedes ist 48, die flatterhafte Mira ist 32, und Matea, die noch zuhause lebt, ist 16. Ihre Mutter Mone hat sich das Leben genommen und nur wenig hinterlassen: alten Schmuck, die Katze Muriel und einen Brief. Als drei Kinder aus drei Generationen sind sie mit der gleichen Frau aufgewachsen, aber nicht gemeinsam. Wer war Mone für jede einzelne von ihnen? Und was teilen die drei, wenn schon keine Erinnerungen? Matea, verschlossen und in sich gekehrt, muss sich bei ihrer ältesten Schwester in Berlin einleben und verbringt ihre Tage online. Mercedes vergisst manchmal, dass plötzlich ein Teenager bei ihr wohnt, und Mira fühlt sich, wie immer, überflüssig. (Klappentext)

    Da die Katze aus juristischen Gründen nicht als weitere Erbin eingesetzt werden konnte, teilen sich die drei Schwestern die Hinterlassenschaft ihrer verstorbenen Mutter. Nicht nur aufgrund ihres Altersunterschiedes - Mercedes, Mira und Matea sind jeweils 16 Jahre nacheinander geboren - haben die drei Frauen nur wenig miteinander gemein. Sie stammen nicht nur von unterschiedlichen Vätern, die nie auch nur eine Sekunde eine Rolle in ihrem Leben gespielt haben, sie wuchsen auch unter vollkommen anderen Bedingungen auf. Die eine wurde noch in der ehemaligen DDR groß, die zweite kurz nach der Wende und die dritte - nun, für sie sind Google und virtuelle Welten selbstverständlich.

    Der Roman berichtet von den Ereignissen im ersten Jahr nach dem Suizid der Mutter, jedes Kapitel stellt einen weiteren Monat dar, wechselnd jeweils erzählt aus der Ich-Perspektive einer der Schwestern, wobei sich die Art des Ausdrucks an den jeweiligen Charakter anpasst. Da Matea noch minderjährig ist, kommt sie bei ihrer ältesten Schwester Mercedes unter, und Mira schneit ab und zu bei ihnen rein, um etwas mit ihnen zu unternehmen. Das ist mehr Kontakt, als sie all die vergangenen Jahrzehnte zueinander hatten. Anfangs kreisen die drei doch recht unbeholfen umeinander, haben sich auch nicht immer unbedingt viel zu sagen. Doch allmählich kommt es dann zu kleinen Annäherungen, die eigene Schale bricht ein wenig auf zugunsten einer Gemeinsamkeit und eventuell auch einer eigenen Neuorientierung.

    Der Roman spielt im Wesentlichen in Berlin, und ich fand es spannend zu sehen, dass diese Stadt für jede der drei Schwestern eine andere Bedeutung hat und unterschiedlich empfunden wird. Aber auch die ehemalige DDR spielt eine Rolle und schwappt immer wieder ein wenig nostalgisch aber durchaus auch kritisch in die Erzählung. Miku Sophie Kühmel hat einen lakonischen Schreibstil gewählt, trocken und treffend und manchmal von einem feinen Humor durchzogen. Dadurch bleiben die Charaktere lange Zeit auf Distanz, was ihnen größtenteils aber auch Recht zu sein scheint. Mit dem allmählichen Aufbrechen der rauen Schale, die jede der drei Schwestern um sich gezogen hat, kommen die drei jedoch nicht nur sich gegenseitig näher, sondern auch ihrer verstorbenen Mutter sowie dem/der Leser:in.

    Dies ist ein leiser Roman ohne großartige Spannungsbögen, der mich in drei Leben entführt hat, die sich einander annäherten ohne die eigene Einzigartigkeit aufzugeben. Ein Roman, den ich sehr gerne gelesen habe und von dem ich mir vorstellen kann, dass er auf der Longlist des diesjährigen Buchpreises landen wird. Morgen wissen wir mehr...

    © Parden

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Rezensionen zu "Zwei am Meer: Roman"

  1. Wenn die Zeit gekommen ist

    Klappentext:

    „Mit über achtzig ist noch lange nicht Schluss, entscheidet Camille. Die alleinstehende Dame hat als Mutter und Ehefrau lange ihre Bedürfnisse zurückgestellt und möchte an ihrem Lebensabend noch einmal etwas erleben.

    Irgendwann ist auch mal Schluss, entscheidet Isabelle und kündigt ihren Job. Eingebunden in ein stressiges Arbeitsleben, hat sie ihre eigenen Wünsche und Ziele aus den Augen verloren. Als sich die beiden Frauen auf der Beerdigung von Arnaud, Camilles Sohn und Isabelles Ex-Mann, nach Jahren wiederbegegnen, stellen sie fest, dass sie mehr verbindet als die gemeinsame Trauer. Ein lange vergessener Traum kommt ihnen wieder in den Sinn: Eine Reise durch die Normandie und die Bretagne. Aber ist es dafür nicht zu spät? Nein, bestimmt Camille. Was als spielerischer Wettstreit darum beginnt, welche der beiden Regionen mehr zu bieten hat, entwickelt sich bald zu einem Roadtrip, der alles verändert.“

    Welch schönes, schlichtes Cover, ein wohlklingender Titel dazu und dann noch so eine nette und liebenswerte Geschichte - hierfür gibt es 4 von 5 Sterne von mir. Die Geschichte von Camille und Isabelle hat wahrlich authentische und äußerst berührende Parts und kommt fast ohne Kitsch aus. Die Beiden verbindet mehr als nur die Trauer um Arnaud, das wird schnell klar und genau diese Verbindung zu erlesen bietet dem Leser vergnügliche und nachdenkliche Lesestunden. Ich mochte die Idee ihres Traumes (wer reist schon gern mit der Schwiegermutter?! bzw. wer hat wohl so ein Verhältnis zur Schwiegermutter das man zusammen verreisen will?!). Der Altersunterschied der Beiden fügt sich geschmeidig zueinander hin und uns Lesern wird schnell bewusst, dass es sich hier um einen Generationsgespräch handeln wird zwischen den Beiden. Die beiden Damen erleben eine Reise, die viele Vorurteile beiseite räumt, die Annäherung bietet endlich mal die Möglichkeit seinen Gefühlen Luft zu machen. Die Landschaft bietet dafür genügend Raum um einen freien Kopf zu bekommen. Zwischen den Zeilen werden sehr viele Themen hier bedient und alle haben ihre Berechtigung und sind sinnvoll platziert. Der flüssige Schreibstil gibt allem eine runde Note, die bildhaften Beschreibungen setzen die nötigen Akzente und überhaupt - die Charaktere sind der Autorin gut gelungen.

    Ich vergebe hier eine klare Leseempfehlung!

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