Daheim: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Daheim: Roman' von Judith Hermann
4
4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Daheim: Roman"

Judith Hermann erzählt in ihrem neuen Roman »Daheim« von einem Aufbruch: Eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht. Sie hat ihr früheres Leben hinter sich gelassen, ist ans Meer gezogen, in ein Haus für sich. Ihrem Exmann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben im Norden. Sie schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affaire, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks, in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
Verlag: FISCHER, S.
EAN:9783103970357

Rezensionen zu "Daheim: Roman"

  1. Ein neuer Weg im Leben

    Klappentext:

    „Judith Hermann erzählt in ihrem neuen Roman »Daheim« von einem Aufbruch: Eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht.

    Sie hat ihr früheres Leben hinter sich gelassen, ist ans Meer gezogen, in ein Haus für sich. Ihrem Exmann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben im Norden. Sie schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affaire, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks, in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.“

    Der Ton in dieser „Geschichte“ ist recht kühl, trübe und nebelig und die namenlose Portagonistin bleibt einem bis zum Schluss fremd. Ich muss gestehen, ich hatte damit keinerlei Probleme, denn der Zugang zu ihren Emotionen und ihrer Gefühlswelt war dennoch da und hat mich sehr stark beeindruckt. Autorin Judith Hermann hat eine ganz besondere Art, dem Leser ihre Protagonistin näher zu bringen. Wir erleben eine gewisse Distanz, sehen sie ihr „Ding machen“, erleben sie in ihrer Entwicklung und sind dabei einfach nur stille Beobachter. Wie gesagt, ich fand es treffend, denn nach ihrer Entscheidung muss sie erstmal ihre Gedanken und ihre Welt in die ihren richtigen Bahnen bringen, wieder auf eigenen Füßen stehen, es zumindest versuchen. Deshalb ist Hermanns Ton hier auch wahrlich perfekt getroffen. Laute und schrille Töne oder zu viel Selbstbewusstsein wären hier völlig fehl am Platze. Als Leser ist man hier nur Beobachter und Aufnehmer der Situation, denken muss man hier nicht, außer vielleicht das eigene Gedankengut selbst mal neu zu sortieren. Die raue Küstenlandschaft mit ihren Beschreibungen tut natürlich ihr Übriges dazu und auch das war sehr treffend formuliert. Der Weg eines Neuanfangs, eines Neustarts ist immer ein besonderer Schritt im Leben. Man muss für ihn kämpfen aber auch für das eigene „Ich“. Judith Hermann hat hier einen ganz starken und nachhallenden, aber auch grauen und trübsinnigen Roman geschaffen, der meine Erwartungen getoppt hat und deshalb gibt es auch sehr gut 4 von 5 Sterne und eine klare Leseempfehlung.

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  1. Aufbruch einer Frau in mittleren Jahren

    Als Einstieg erinnert sich die namenlose Ich-Erzählerin an ein Erlebnis vor rund 30 Jahren, als sie eine Einraumwohnung in einer namenlosen Stadt mit Blick auf eine Tankstelle bewohnte. Sie arbeitete damals in einer Zigarettenfabrik. Offensichtlich lebte sie sehr zurückgezogen ohne Kontakte zu Verwandten und Freunden. Da wird sie eines Tages von einem älteren Mann angesprochen: Er unterbreitet ihr das Angebot, seine Assistentin zu werden. Dieser hat ein Engagement als Zauberer auf einem Kreuzfahrtschiff angenommen, mit dem man drei Monate unterwegs sein wird. Die Erzählerin verabredet sich zunächst mit dem Zauberer und seiner Frau zu einem Probetermin, bei dem sie in die magische Kiste steigt und sich „durchsägen“ lässt. Obwohl bei diesem Termin objektiv nichts weiter passierte, bleibt er ihr über Jahrzehnte im Gedächtnis hängen…

    In der Gegenwart lebt die Erzählerin seit einem Jahr in einem abgeschiedenen Haus hinter dem Deich an der Nordsee. Sie arbeitet als Kellnerin in der Kneipe ihres älteren Bruders, der eine eigenartige Beziehung mit der 20-jährigen stark heruntergekommenen Nike unterhält, die ihn aus dem Tritt bringt. Die Erzählerin hat Freundschaft mit ihrer Nachbarin, der Künstlerin Mimi, geschlossen, die eine deutlich lebhaftere Persönlichkeit besitzt und von einem großen Bauernhof in der Nähe abstammt. Mimi fühlt sich mit ihrer Heimat verbunden, sie hat Wurzeln geschlagen, fühlt sich zuhause, während die Erzählerin sich in einem Schwebezustand befindet. Ursächlich dafür dürfte die Trennung von ihrem Mann Otis sein sowie der Auszug der 20-jährigen gemeinsamen Tochter Ann, die sich aufgemacht hat, die Welt zu erkunden.

    „Sie war Bildhauerin und Malerin. Sie sagte, sie hätte seit Ewigkeiten keinen Ton und keine Leinwand mehr in der Hand gehabt, aber nun sei sie wieder bei ihren Wurzeln und sie sei in Wallung.
    Es war das, was sie sagte. Ich bin in Wallung.
    Sie betonte das mehrmals, sie fügte hinzu, sie sei gut zufrieden. (…)
    Sie sagte, wo sind deine Wurzeln.
    Ich sagte, oh, ich fürchte, ich hab keine.
    Ich sagte, Gott. Sieh mich nicht so an. Das ist ganz normal. Manche Leute haben Wurzeln und andere eher nicht.“

    Die Erzählerin führt uns in ihre Vergangenheit. Sie ist Otis, einem eigenwilligen, zu Endzeitstimmungen und zur Sammelleidenschaft neigenden Mann, noch immer freundschaftlich verbunden. Sie schreibt ihm Briefe über das gegenwärtige Leben, Erinnerungen und ihre Gedanken. Nach und nach lernt man die Ich-Erzählerin besser kennen. Man bekommt eine Vorstellung davon, wie sie sich zu der unsicheren, zuweilen ängstlichen Frau entwickelt hat. Sie reflektiert wesentliche Ereignisse und Begegnungen ihres Lebens. Sie analysiert ihren Bruder, ihren Ex-Mann, Mimi und deren Bruder sowie ihre Tochter Ann.

    „Das Leben verlangsamt sich, findest du nicht, sagt Mimi. Ich finde, es wird langsamer und langsamer. Unangenehm, in gewisser Weise. Aber es gibt dir Zeit, zu verstehen, was du hast – stell es vor dich hin. Dann weißt du, wovon du was brauchst. Und worauf du verzichten kannst.
    Sie sagt, weißt du, was ich meine.
    Ich sage, ja. Vielleicht. Ich muss drüber nachdenken.“

    Alles in einem sehr ruhigen Ton gehalten erlangt der Leser Erkenntnis um Erkenntnis. In kurzen, klaren und zuweilen lakonischen Sätzen wird die Geschichte erzählt. Trotz vieler Dialoge gibt es keine Redezeichen. „Daheim“ ist ein ruhiges Buch ohne nennenswerte Spannungskurven. Es geht um eine Frau in mittleren Jahren, die sich neu austarieren, ihre Zugehörigkeit definieren und sich klar werden will, wie sie den neuen Lebensabschnitt gestalten wird. Dabei werden unterschiedliche Lebensentwürfe im Umfeld der Protagonistin vorgestellt.

    Es geht um Selbstfindung und -bestimmung, um Wehrhaftigkeit, um Zugehörigkeit, Wurzeln, Spuren, auch um Rollenbilder, Gewalt, um Gefängnisse im übertragenden Sinn, um Vertrauen, Familie, Freundschaft und Liebe. Es geht aber auch um die Zuverlässigkeit von Erinnerungen.

    Wunderbar eingebettet wird das alles in die norddeutsche Landschaft, und das dörfliche Leben in Abhängigkeit von Natur und Gezeiten.

    Dieser Roman hat auf mich einen intensiven Sog ausgeübt, ich habe ihn innerhalb zweier Tage ausgelesen. Die Charaktere sind vielschichtig angelegt und wirken sehr glaubwürdig, jeder hat seinen individuellen Hintergrund, die Protagonistin entwickelt sich anschaulich und nachvollziehbar. Die nüchterne sprachliche Gestaltung hat mich fasziniert, gerade weil so viel Intensität und Bedeutsamkeit in den Sätzen mitschwingen. Man sollte das Buch unbedingt aufmerksam lesen. Denn viele Themen werden behandelt, starke Symbole und Motive säumen den Roman, der durchaus literarische Ansprüche befriedigt, sich ideal für Lesekreise eignet und völlig zurecht für den Leipziger Buchpreis 2021 nominiert wurde.

    Für mich war es die erste Begegnung mit der Schriftstellerin Judith Herrmann, aber es wird nicht die letzte gewesen sein. Große Leseempfehlung!

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  1. Eine deprimierende Geschichte, einprägsam erzählt

    „Wir sind Trabanten, denke ich, wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene.“ (Zitat Pos. 1667)

    Inhalt
    Die Ich-Erzählerin ist siebenundvierzig Jahre alt, geschieden. Vor dreißig Jahren hätte sie als Mitglied einer Zaubergruppe auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur reisen können, erzählt sie, hat es aber doch nicht getan. Plötzlich erinnert sie sich wieder an diese Geschichte. Seit beinahe einem Jahr wohnt sie jetzt schon in einem kleinen, baufälligen Haus in einem Dorf an der östlichen Nordseeküste. Ihrem Bruder gehört hier eine Kneipe am Hafen und sie arbeitet für ihn, fünf Tage pro Woche. Sie sehnt sich nach ihrer erwachsenen Tochter Ann, die rastlos durch die Welt zieht und auch ihrem Exmann Otis schreibt sie oft, erinnert sich an gemeinsame Erlebnisse, erzählt von der Natur im Wechsel der Jahreszeiten. Wird sie bleiben?

    Thema und Genre
    Themen dieses Romans sind die Suche nach dem Platz im eigenen Leben, Beziehungen, Veränderungen, Aufbruch, Ankommen, Neubeginn. Es geht auch um Erinnerungen, reale und falsche.

    Charaktere
    Nicht grundlos erinnert sich die erzählende Hauptfigur beim Anblick einer Marderfalle an die Geschichte mit dem Zaubertrick und Singapur, sie scheint auch in ihrem Leben irgendwo zwischen Vergangenheit und Neubeginn gefangen, wie auch alle sie umgebenden Figuren irgendwie festzuhängen scheinen, der Bruder, ein Lebenskünstler, der die Arbeit in der Kneipe lieber der Schwester überlässt und in einer Beziehung zu einer Frau gefangen ist, die jünger ist, als seine Nichte. Der Landwirt, der nie wo anders leben könnte, als in diesem Dorf, und sich deshalb um den Hof seiner Eltern kümmert, samt Feldern und Schweinen in Massentierhaltung. Nur Mimi, die Bildhauerin und Malerin ist freiwillig zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen. Obwohl wir viel über das Leben und die Gedanken und Wünsche der einzelnen Figuren erfahren, bleiben sie auf Distanz.

    Handlung und Schreibstil
    Die Hauptfigur erzählt von ihrem Aufbruch aus dem alten Leben und dem Neubeginn in diesem kleinen Dorf an Meer. Die Handlung spielt während eines Jahres, im Wechsel der Jahreszeiten und der Natur, und wird rückblickend am Ende dieses ersten Jahres erzählt. Es geht um die kleinen Ereignisse, entspannte Stunden der Hauptfigur mit der neugierigen, aufgeschlossenen Mimi, die wie ein nicht aufzuhaltendes Ereignis als Freundin in das Leben der Ich-Erzählerin stürmt und ein Lichtblick in dieser insgesamt trostlosen, deprimierenden Geschichte ist. Die Sprache der Autorin ist klar und knapp, einprägsam in ihren symbolhaften Bildern, wie zum Beispiel die Marderfalle: „Du fängst selten das, was du fangen willst. Du fängst mitunter was ganz anderes. Dann musst du sehen, was du damit machst.“ (Zitat Pos. 1802).

    Fazit
    Eine deprimierende Geschichte und wenig sympathische Figuren. Gegen Ende wirft die Autorin plötzlich noch ein Gewaltverbrechen in die Handlung, ohne jedoch weiter darauf einzugehen, eine von vielen offenen Fragen, mit denen mich dieser Roman etwas ratlos zurücklässt.

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