Das Mädchen, das man ruft (Quartbuch)

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Mädchen, das man ruft (Quartbuch)' von  Tanguy Viel
3.8
3.8 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Mädchen, das man ruft (Quartbuch)"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
EAN:9783803133458

Rezensionen zu "Das Mädchen, das man ruft (Quartbuch)"

  1. Stilistisch anspruchsvoll, schal im Abgang

    Es ist eine kleine Hafenstadt in der Bretagne. Der abgetakelte Boxer Max Le Corre ist nach dem Ende seiner Karriere Chauffeur des Bürgermeisters. Für seine Tochter Laura bittet Max um einen Gefallen. Der Bürgermeister besorgt der jungen Frau Wohnung und Arbeit, aber dies nicht ohne Hintergedanken.

    Der französische Autor Tanguy Viel reitet mit seinem Roman „Das Mädchen, das man ruft“ auf der metoo Welle. Das Buch ist nicht sehr lange, die Sätze, die der Autor bildet, schon. Verschachtelt, bildhaft, nur so von Metaphern strotzend führt ein Erzähler durch diese Geschichte eines sexuellen Abhängigkeitsverhältnisses. Eingeflochten in die Erzählung folgen wir einer Aussage, die Laura vor der Polizei macht.

    Vieles in dem Buch erinnert an einen Film, eine Art Kameraführung zeigt detailreich die Schauplätze, fast schon in Slow Motion. Die auftretenden Personen spielen gekonnt ihre Rollen: der Mächtige, der Windige, die Schöne und der Tor.

    Laura wird das Mädchen, das man(n) ruft. Als Jugendliche hat sie Fotos in Unterwäsche von sich machen lassen, hat damit einen gewissen ruf. Hat rote Lippen und kurze Röcke. Sie setzt sich nicht zur Wehr. Lässt sich steuern. Hätte sie sich weigern können?

    „Wissen Sie, warum das zweite Mal schlimmer ist als das erste? Ganz einfach, in diesem Mal, im zweiten sind alle weiteren enthalten.“

    Stilistisch anspruchsvoll ist diese kleine alltägliche Geschichte des Missbrauchs über die, die es sich richten können und die, über die gerichtet wird. Irgendwie desillusionierend mit schalem Nachgeschmack.

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  1. Von Macht und Ohnmacht

    Von Macht und Ohnmacht

    Ehrlich gesagt habe ich mir bei dem Titel „Das Mädchen, das man ruft“, dem neuen, im französischen Original 2021 veröffentlichten Roman von Tanguy Viel und hier 2022 im Klaus Wagenbach Verlag (Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel) erschienen, keinen Kopf über die Bedeutung desselben gemacht.

    Relativ zu Anfang aber wird deutlich, dass es sich um die (freie?) Übersetzung von „Call Girl“ handelt. Nun…

    Aber der Titel ist (im Nachhinein betrachtet) gut gewählt – passend zum (meiner Meinung nach) leicht undurchsichtigen Charakter von Laura, deren Geschichte die Leserinnen und Leser hier nach und nach erfahren.

    Es ist die (altbekannte) Geschichte „Ich tue dir einen Gefallen, sehr gerne sogar, aber ich erwarte auch etwas dafür!“ Laura kehrt in die Stadt ihres Vaters Max Le Corre, eines ehemaligen Boxprofis und jetzt Chauffeur des Bürgermeisters, zurück. Da die Wohnsituation in der kleinen bretonischen Küstenstadt schwierig ist, lässt Max seine Verbindungen „nach ganz oben“ spielen und sein Chef ergreift nur zu gern die Gelegenheit…

    Die sich zuspitzende Situation erzählt Tanguy Viel in etlichen Thomas Mann-Endlossätzen und würzt das Ganze mit teilweise äußerst klugen und schönen Metaphern, die zwar auch mal über das Ziel hinausschießen, aber da sei hier großzügig der Mantel des Schweigens drüber ausgebreitet. Denn der Großteil weiß wirklich zu gefallen bzw. zu begeistern.

    Man könnte dem Autor vorwerfen, dass seine Charaktere zu „holzschnittartig“ sprich zu eindeutig böse oder (wie in Lauras Fall) naiv daherkommen und so das Ganze etwas „vorhersehbar“ ist. Nein, ist es ganz und gar nicht – das kann ich versichern.

    Ich gebe zu, „Das Mädchen, das man ruft“ ist kein Buch für´s Wartezimmer oder für´s Sofa, wenn nebenbei der Fernseher läuft – dafür ist es sprachlich und thematisch zu komplex und auch wenn der Roman nur 160 Seiten hat, braucht es seine Zeit, um sich an die wechselnde Perspektive, die Bandwurmsätze und die nie (offen, aber deutlich genug beschriebenen) Handlungen und Ungeheuerlichkeiten zu gewöhnen. Und trotzdem kann man es ab einem bestimmten Punkt nicht mehr aus der Hand legen, weil man wissen will, wer hier eine Niederlage „kassiert“ und wer „oben auf“ ist bzw. bleibt.

    Wer also komplex-kompakte Geschichten mag, dem sei dieser Roman ans Herz gelegt.

    Von mir gibt´s sehr gute 4* und ergo eine Leseempfehlung.

    ©kingofmusic

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  1. Metaphorische Gedankenströme, atmosphärisch dicht, MeToo...

    Das Mädchen - Tochter des Ex-Boxers Max, der als Chauffeur des Bürgermeisters Le Bars arbeitet und demnächst sein Comeback als Boxer feiern wird, kommt zurück in die Stadt und ist auf der Suche nach einer Wohnung. Max denkt sich nichts dabei und will seiner Tochter etwas Gutes tun, als er Le Bars darum bittet, bei der Wohnungssuche behilflich zu sein. Das Mädchen Laura allerdings ist einerseits bildhübsch und andererseits hat sie bereits seit jungen Jahren als Unterwäschemodel gejobbt. Vater und Tochter könnten quasi fast vis-á-vis auf Plakatwänden zu sehen sein, jetzt, wo der Ex-Boxmeister zurückkehrt. Le Bars hilft Laura gern, aber erwartet dafür auch etwas.

    Dies alles wird nie direkt ausgesprochen, aber Tanguy Viel lässt Gesten eindeutig sprechen und jedem Leser/ jeder Leserin klar werden, was hier gewünscht wird.

    Dieses Spiel von Macht und Nötigung, von Mauscheleien in den Hinterzimmern, ist alt und doch hochaktuell. Die Personen wirken auf den ersten Blick übel plakativ. Jedoch erschließt sich einem beim Lesen immer mehr, dass genau DAS gewollt ist, denn es soll klar sein, mit wem wir es zu tun haben. Viel mehr will der Autor ins Eingemachte, in die Gedankenströme eintauchen und damit letztlich die Frage stellen: wo genau beginnt eigentlich sexuelle Belästigung? Dies ist zuweilen äußerst beklemmend und man ist beim Lesen zuerst hin- und hergerissen...

    Sprachlich ist dieses kleine Stück Literatur ein Schatz: es lebt von gedankenstromartigen Schachtelsätzen, die einen soghaft durch die ganze Wirrnis an Empfindungen ziehen. Eingeflochten darin sind toll platzierte und zumeist großartig passende Metaphern, die für echten Lesegenuss sorgen. Kleine Hänger im Plot zum Schluss muss ich allerdings auch eingestehen, dennoch ist es meiner Meinung nach nicht so ausschlaggebend für die Geschichte und ich drücke hier beide Augen zu.

    Fazit: wer Atmosphäre, Gedankenströme, Metaphern liebt und dies in Verbindung mit MeToo spannend findet, dem empfehle ich unbedingt diesen Roman! Von diesem Autor werde ich garantiert noch mehr lesen!

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  1. Schonungslos realistisch

    Schonungslos realistisch

    Max Le Corre, einst ein gefeierter Boxer, tritt an seinen Arbeitgeber, den Bürgermeister Quentin Le Bars heran, und bittet ihn ihm zu helfen eine Wohnung für seine Tochter zu finden. Die 20 jährige Laura war ein paar Jahre in einer anderen Stadt, und hat es nun schwer unterzukommen. Sie ist hübsch, das ist Le Bars bekannt, und er weiß augenscheinlich auch, womit sie bisher ihr Geld verdient hat. Also sorgt er dafür, dass sie bei einem befreundeten Casino Inhaber wohnen und arbeiten kann. Das macht er allerdings nicht uneigennützig, er erwartet etwas von Laura.

    Der Roman macht direkt zu Beginn deutlich, dass Laura Polizisten über die Übergriffe des Bürgermeisters informiert. Wie alles genau zusammenhängt wurde mir erst nach und nach klar. Laura spricht nichts direkt aus, ob aus Scham oder aus anderen Gründen ist ebenfalls schwer zu greifen. Der Schreibstil des Autors sorgte bei mir ebenfalls für Verwirrung, da die Sätze unverhältnismäßig lang sind, und man sich sehr konzentrieren muss, um alles inhaltlich zu erfassen.

    Was mich oft gewundert hat während des Lesens ist die Tatsache, dass Vater und Tochter so gut wie überhaupt nicht kommuniziert haben, obwohl Max im weiteren Verlauf mit den Handlungen des Bürgermeisters konfrontiert wird, sucht er nie das direkte Gespräch mit Laura.

    Der Kern des Romans zeigt, dass Männer in gehobenen Positionen oftmals durch ihren Einfluss mit schrecklichen Dingen durchkommen, ein System, dass für die Opfer himmelschreiend ungerecht ist. Ich finde es toll, dass der Autor sich dieses Thema vorgenommen hat, da es leider tatsächlich häufig so passiert, dass Menschen in einflussreichen Positionen sich nie verantworten müssen.

    Meine Meinung zu diesem Buch fällt etwas verhalten aus. Die Message, die es vermittelt, sollte gehört werden, allerdings gefiel mir die Umsetzung nicht besonders gut. Ich habe mich keinem der Charaktere verbunden gefühlt, was ich mir bei so einem heiklen Thema aber gewünscht hätte.

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  1. Gefälligkeiten

    Die bildhübsche Laura, die schon mit sechszehn vor der Schule für Modelshootings angesprochen wurde, lernt schnell das schmutzige Geschäft mit den gut aussehenden, aber unerfahrenen Frauen kennen und lässt mehr von ihrem Körper sehen, als ihr lieb ist.

    Der Ausweg scheint der Rückzug in ihre Heimatstadt zu ihrem Vater zu sein. Laura und ihre Mutter verließen ihn vor Jahren, doch jetzt soll er seiner erwachsenen Tochter helfen. Der Vater war ein erfolgreicher Boxer, doch nach der Trennung von seiner Frau, stürzte er regelrecht ab und ist nun des Bürgermeisters Chauffeur. Diesen bittet er nun um Hilfe bei der Wohnungssuche für seine Tochter. Der Bürgermeister, erkennt seine Chance und lässt Laura in seinem Büro antreten. Sie ist immer noch so hübsch wie auf den Plakaten, die ihr natürlich auch in diese Stadt vorausgeeilt sind.
    Anstatt beim Wohnungsamt ein gutes Wort für sie einzulegen, verschafft er ihr ein Zimmer im örtlichen Casino, dessen Besitzer ihm auch noch einen Gefallen schuldig ist und außerdem der Exmanager von Lauras Vater war, als dieser noch eine geldsprudelnde Boxerkarriere versprach.

    Dieser Filz lässt nichts Gutes ahnen und tatsächlich soll Laura bald für die ihr erwiesenen Gefälligkeiten bezahlen. Laura glaubt ein Stück vom großen Kuchen abbekommen zu können, wenn sie nur lange genug still hält. Diese Annahme versucht sie auch den beiden Kriminalbeamten zu verdeutlichen, als sie schließlich doch Anzeige gegen den inzwischen zum Minister in Paris aufgestiegnenen, einstigen Gönner/Gauner aus der Kleinstadt erstattet.

    Mit der Perspektive aus dem Polizeirevier, Lauras rückblickende Schilderung der Ereignisse und den gedanklichen Abschweifungen der vernehmenden Polizisten versetzt Tanguy Viel den Leser auf den Richterstuhl. Was soll man von Laura halten, die es doch eigentlich darauf angelegt hat und sich Vorteile verschafft hat? War der Vater naiv, oder hat er mit Absicht die Augen verschlossen? Kann man irgendeinem Mann einen Vorwurf machen, wenn Frau sich ohne Worte fügt?

    Die Figuren bleiben distanziert und das personale Umfeld wird ausgeblendet (Was ist mit Lauras Mutter, oder Freundinnen?). Die Geschichte fokussiert sich allein auf das System des Machtmissbrauchs. Dieses aber wird in blumigen Schachtelsätzen gebettet und entfaltet mitunter in eine wunderbare bildhafte Sprache. Allein dafür mochte ich den Roman gerne lesen, obwohl er keine Hoffnung auf Gerechtigkeit und kein Happy End bietet. Die offenen Fragen sollen keine Lösung anbieten, sie sollen nur den Blick offenhalten für Systemfehler, wie sie überall zu finden sind.

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  1. 2
    16. Apr 2022 

    Viele Wörter, wenig Inhalt

    „Das Mädchen, das man ruft“ ist der aktuelle Roman des bretonisch-französischen Autors Tanguy Viel, der sich insbesondere in seiner Heimat als Thriller- und Krimi-Autor einen Namen gemacht hat.
    Für seinen aktuellen Roman „Das Mädchen, das man ruft“ war er für den renommierten Prix Goncourt nominiert.

    Darum geht es in diesem Roman:
    Schauplatz ist eine Hafenstadt in der Bretagne. Hier sucht Laura, Anfang 20, eine Bleibe und einen Job. Sie ist in dieser Stadt aufgewachsen, hat aber nach der Schule ihr Glück in der Großstadt gesucht. Dank ihres blendenden Aussehens lagen ihr bereits als Schülerin diverse Angebote vor, um aus ihrer Schönheit Profit zu schlagen. Diese Angebote nahm sie an und verdiente ihr Geld als Model - mal mehr, mal weniger bekleidet. Nun ist sie wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, wo ihr Vater Max Le Corre lebt. Max ist ein preisgekrönter Boxer und ehemaliger Held der Stadt, der seine besten Jahre hinter sich hat. Er will es aber nochmal wissen und trainiert für einen Fight, der in wenigen Wochen stattfinden soll. Wenn er nicht trainiert, dient er dem Bürgermeister Le Bars als allzeit bereiter Chauffeur. Die Verbindung zum Bürgermeister wird genutzt, um Laura die benötigte Bleibe zu verschaffen. Bürgermeister Le Bars ist ein skrupelloser Politiker, der das Spielchen um Macht und Einfluss par Excellence beherrscht. Er nimmt sich der schönen Laura an, leider zu intensiv. Denn jede Leistung erfordert Gegenleistungen. Laura lässt sich auf dieses geheime Arrangement ein. Irgendwann wird Max dahinterkommen und die Geschichte wird für alle Beteiligten eine unschöne Wendung nehmen.

    Leider kann ich nur wenig zu diesem Roman sagen. Der Inhalt ist mir in etwa in Erinnerung geblieben. Alles andere, wie z. B. die Charaktere, deren Motivation und Entwicklung haben sich mir nicht erschlossen, was an einem Sprachstil liegt, den ich schlichtweg als Zumutung empfunden habe. Der Autor macht unglaublich viel Worte in Form von verschachtelten Endlossätzen, die aber nur wenig Inhalt liefern. Es kann auch sein, dass mir diese Inhalte verborgen blieben, da ich gedanklich inmitten der Sätze abgeschaltet habe. Ein Satz von Tanguy Viel besteht gern aus mehreren Schleifen, die wieder und wieder bereits Erzähltes wiederholen, wenn auch mit unterschiedlichen Worten. Für mich ist das ein trauriger Rekord, wenn ein Autor es schafft, pro Seite und mit viel Glück (für den Leser) mehr als 3 Sätze zu produzieren. Wenn dieser Autor dann noch seinen verbalen Exzess mit einer Vielzahl an Metaphern aufmotzt, ändert es nichts daran, dass er viele Worte macht, ohne viel zu erzählen, insbesondere, wenn einige dieser Metaphern „eigenwillig“ sind.

    Laut Wikipedia ist Tanguy Viel für einen „präzisen, spannungsgeladenen und elliptischen Stil (Einzelnachweis: Institut Francais Bremen) und für gehaltvolle, nicht seitenumfangreiche Bücher bekannt (Einzelnachweis: pagesdefrance.de)“.

    Diese Aussagen kann ich nur bedingt bestätigen - bezogen auf diesen Roman. Denn andere Bücher von Tanguy Viel kenne ich nicht.
    „Präzision und Spannung“ habe ich nicht entdecken können. Den „elliptischen Sprachstil“ kann ich bestätigen, wobei das Auslassen von Satzteilen die Länge seiner Sätze leider nicht reduziert hat.

    Das „gehaltvoll“ kann ich bestätigen, wobei ich diese Aussage anders auslege, als ihr Verfasser vermutlich beabsichtigt hat. Dank der Endlossätze dieses Romans ist der Wortgehalt unglaublich hoch. Nur leider bleibt dabei der Inhalt auf der Strecke, weil er von dem Sprachstil erdrückt wird. Tanguy Viel macht also viele Worte, erzählt dafür aber sehr wenig. Der Roman und ich sind daher keine Freunde geworden. Der Sprachstil ist Schuld!

    © Renie

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  1. Fische derselben und anderer Gattung

    Es gibt Geschichten, die sind simpel und altbekannt, können aber trotzdem nicht oft genug erzählt werden. Sie gleichen sich fatal und doch verfolgt man das Geschehen gebannt, immer in schlechter Vorahnung und zugleich in der Hoffnung, der Ausgang könnte gerade dieses eine Mal ein anderer sein.

    Eine solche Geschichte erzählt der 1973 geborene, mehrfach preisgekrönte bretonische Autor Tanguy Viel in "Das Mädchen, das man ruft", der wörtlichen Übersetzung des englischen Wortes Callgirl. Der französische Originaltitel "La fille qu’on appelle", eigentlich exakt wiedergegeben, ist dank der Satzstellung und der Doppelbedeutung von „appeler“ als „rufen“ und „nennen“ noch origineller, fordert er doch dazu auf, eine Bezeichnung für die Protagonistin Laura zu ergänzen: das Flittchen, die Unschuldige, das naive Opfer, die Verführerin, die Strategin?

    Alles hat einen Preis
    Laura Le Corre ist mit 20 Jahren in ihre bretonische Heimatstadt am Meer zu ihrem Vater Max, einem Ex-Boxchampion, zurückgekehrt, ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung. Jahre vorher hatte ihre Mutter mit ihr den zwischen Boxring und exzessivem Nachtleben pendelnden Ehemann verlassen. Mit 16 wurde die attraktive, dunkelhäutige Teenagerin vor dem Gymnasium angesprochen, es folgte ein Intermezzo in Rennes als Model für Dessous und in Zeitschriften „die im Kiosk dann in der obersten Regalreihe stehen“ (S. 25). Nun ist sie überraschend wieder da und Max, seit drei Jahren Chauffeur des Bürgermeisters, vermittelt ihr zur Beschleunigung ihrer Wohnungssuche einen Termin bei seinem Chef. Quentin Le Bars, knapp 50, mit dem für französische Bürgermeister typischen einschüchternden Büro im Stil des Ancien Régime und dem Blick Richtung Paris und Ministeramt, zeigt sich sofort kooperativ. Er verspricht sogar Hilfe bei der Jobsuche, allerdings nicht ohne Gegenleistung:

    "Und da spürte sie, so wie sich in der Tektonik irgendwann die Spannung entlädt, wie seine Hand sich auf ihre legte und er zugleich zu ihr sagte:
    Ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen." (S. 35)

    Der narzisstische Le Bars lässt seine Kontakte spielen unter den „Fischen derselben Gattung“ (S. 39), wo jeder jedem einen Gefallen schuldet und alles miteinander verwoben ist. Er bringt Laura als Hostess bei seinem Freund Franck Bellec, Ex-Manager ihres Vaters, im Casino unter, wo er zukünftig kommt und geht, wann es ihm behagt, stets chauffiert vom ahnungslosen, kurz vor seinem Comeback stehenden Max.

    Altbekannt und topaktuell
    Während die Figuren allen denkbaren Klischees entsprechen, was ich nicht für eine Schwäche des Romans, sondern für eine bewusste Wahl halte, schließlich folgt auch die Handlung einem altbekannten Drehbuch, sind Viels Sprache, seine von Hinrich Schmidt-Henkel sehr gut übersetzten Endlossätze und die enorme Fülle an Metaphern ausgesprochen originell und für mich ganz klar die Stärke des 2021 in die Auswahlliste für den Prix Goncourt aufgenommenen Romans. Aus Lauras polizeilicher Zeugenaussage, ergänzt durch die Stimme einer allwissenden Erzählerin oder eines Erzählers, erfahren wir von den Mechanismen patriarchaler Machtentfaltung, den Klüngeln in gesellschaftlichen Hinterzimmern, dem Wegducken der Justiz und dem Entstehen einer missbräuchlichen Beziehung, die durch ein fehlendes Nein nicht weniger verwerflich wird. Am Ende können wir selbst über Laura richten: Flittchen, Unschuldige, naives Opfer, Verführerin oder Strategin?

    Eine bedauerlicherweise zeitlose Geschichte im neuen Kleid über Machtmissbrauch, gesellschaftliche Hierarchien, Abhängigkeit und Schuld und ein lesenswerter Beitrag zur aktuellen MeToo-Debatte.

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  1. Kleine Geschichte, großer Erzähler

    Kurzmeinung: Opulenter Text mit Stream of Consciousness

    Tanguy Viel schreibt in seinem neuen Roman über eine unscheinbare Me-too-Geschichte: ein junges Mädchen mit zweifelhafter Vergangenheit, wird mehr oder weniger subtil in eine Rolle gedrängt, aus der es sich nicht befreien kann.

    Der Kommentar.
    Der französische Roman ist oft experimentell. Man darf in dem Roman „Das Mädchen, das man ruft“ nicht die typische Konstellation von vielschichtigen Protagonisten erwarten, sondern er ist Performance, eine Art Aufstellung. Die Protagonisten sind Anschauungsmaterial, sie veranschaulichen, wie es funktioniert. Macht, Wirtschaft, Geld und Beziehungen auf der einen Seite, Abhängigkeiten und Armut, gepaart mit Schlichtheit und ungenügender Bildung auf der anderen Seite.

    Zweifelsfrei schreibt Tanguy Viel auf hohem Niveau. Seine Sätze haben es in sich. Sie sind lang, und gehaltvoll und bilderreich. Sie sind kompliziert. Über die verwendeten Metaphern kann man sich streiten. Manche sind genial, manche schief, manche grotesk und völlig unmöglich, sie sind aber das Salz in der Suppe. Ohne sie hätte Tanguy Viels kurzer Text nicht funktioniert. Mit ihnen wird der Text opulent und süffig. Tanguy Viel versteht es, in eine kurze Mee-too-Geschichte viel mehr hineinzulegen als nur das. Er räsoniert in einem ständigen Bewusstseinsstrom über die Kurzlebigkeit von Sportlerruhm, über die Verzwicktheit politischer Freundschaften, die eigentlich gut getarnte Feindschaften sind, er denkt über Eitelkeit nach und männliche Überheblichkeit, er beschreibt die Sprachlosigkeit der Bildungsfernen, die mehr fühlen als wissen, dass ihnen Unrecht geschieht. Und er schreibt über ihre Ohnmacht. Ja, das ist frustrierend. Aber sehr real.

    Nicht zuletzt beschreibt der Autor mit treffenden Worten eine Stadt am Meer. Man sieht sie vor sich, man riecht das Meer. So etwas mag ich. Ich mag Atmosphäre. Und Atmosphäre kann er, der Herr Tanguy Viel.

    FAZIT: Die Meetoo-Geschichte ist klein. Sie ist der kleine Alltag von Nebenan. Aber sie passiert. (Fast )jeden Tag. Und sie ist es von daher wert, immer wieder neu erzählt zu werden. "Das Mädchen, das man ruft", ist eine kleine Geschichte mit einem großen Erzähler.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman
    Verlag: Wagenbach, 2022

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  1. Das System von Macht und Ohnmacht

    Laura ist 20 Jahre alt. Sie sitzt im Polizeipräsidium zwei Polizisten gegenüber und will Anzeige erstatten. Was ist passiert? Laura ging bereits mit 16 Jahren von der Schule ab, um ihr Glück als Fotomodell in Rennes zu versuchen, womit sie krachend scheiterte. Ohne Abschluss, ohne Referenzen kehrt sie in ihre kleine Heimatstadt an der bretonischen Atlantikküste zurück, wo ihr Vater Max Le Corre als Fahrer von Bürgermeister Quentin Le Bars arbeitet. Ihr Vater ist es auch, der Le Bars um Hilfe bei der Wohnungssuche für Laura bittet, woraufhin sie einen Termin im Rathaus bekommt: „Ob sie vom Bürgermeister erwartet würde oder vom Gutsherrn, dass machte in ihrem Kopf keinen Unterschied – dieselbe fiebrige Erregtheit, dasselbe gewisse Herzklopfen angesichts der großen Eingangshalle…“ (S. 7). Laura hat Respekt vor den Insignien der Macht. Der Bürgermeister indessen ist sofort betört von ihrer außergewöhnlichen Schönheit und Jugend. Der Mächtigere versteht es, seine Netze zu spinnen, indem er sich hilfsbereit zeigt, später aber auch Gegenleistungen einfordert…

    Die Geschichte klingt unspektakulär und gewöhnlich. Was Tanguy Viel jedoch daraus macht, ist große Kunst. Er erzählt in Zeitlupe, in Bildern. Er weitet den Blick, schwenkt die Perspektiven, lässt eine Art allwissenden Erzähler die Wissenslücken des Lesers füllen. Dabei nutzt er virtuos komponierte, verschachtelte Sätze, die zwar Zeit und Konzentration erfordern, aber einen unglaublich intensiven Sog ausüben. Diese Schreibkunst vermag es, Stimmungen und Atmosphäre höchst authentisch zu transportieren. Wir schauen dabei tief in die Köpfe der Charaktere hinein, erfahren viel über ihre mitunter ambivalenten Gedanken, ihre Beziehungen zueinander und Abhängigkeiten voneinander. Als Leser erkennt man sehr klar, wie abgekartet das Spiel ist. Es tut weh zu sehen, wie sich die naive Laura langsam in die Fänge dieser scheinbaren Macht begibt und sich in deren Netzen verfängt. Das Szenario wirkt bedrohlich und erzeugt durch die sprachliche Gestaltung Gänsehaut und Emotion. Man möchte die junge Frau warnen. Man erkennt aber gleichfalls ihre eigenen offensichtlichen Fehler. Ebenso anschaulich werden die Schauplätze als solche beschrieben.

    Das Thema könnte aktueller nicht sein: Macht und Ohnmacht, Schuld und Gerechtigkeit, MeToo-Bewegung. Tanguy Viel hat die unspektakuläre Handlung nicht in Hollywood angesiedelt, sondern in die Kleinstadt verlegt. Das macht den Mechanismus des Machtmissbrauchs anschaulich und alltagsnah. Darum geht es dem Autor offensichtlich. Keiner der Akteure ist ein Sympathieträger, auch Laura nicht. Manche Figur scheint auch etwas schablonenhaft gezeichnet. Aber das stört kaum, weil die Figuren nicht im Zentrum des Romans stehen. Es geht um die akribische Beleuchtung der Umstände, des Mechanismus, des Systems, wie es zu einem Fall von sexuellem (Amts-)Missbrauch kommen kann: Wo fängt sexuelle Gewalt an, wodurch macht sich das Opfer mitschuldig, wie deutlich muss der Protest ausfallen? Dabei werden Interpretationsspielräume und Graubereiche aufgezeigt. Permanent evaluiert man als Leser die Fakten, bildet sich ein eigenes Bild. Nur schwarz oder nur weiß gibt es nicht.

    Die Vater-Tochter-Beziehung bildet den Rahmen der Handlung. Beide haben ähnliche Eigenschaften, wirken eher schwach. Sie sind keine Alpha-Tiere und ordnen sich bereitwillig unter. Mit der Bitte um eine Gefälligkeit beim Bürgermeister nimmt das Unheil langsam seinen Lauf, entwickelt zunehmend Dynamik, bis der dramatische, defätistische Höhepunkt mit Beginn des zweiten Teils erreicht ist und sich langsam der Kreis schließt.  Auch hier hat Max eine Hauptrolle. Nach diesem zentralen Ereignis kann der Spannungsbogen nicht ganz gehalten werden, was meiner Begeisterung jedoch keinen Abbruch tut.

    „Das Mädchen, das man ruft“ ist ein Roman mit einer ungeheuren Sogwirkung, ein stilistisches Kunstwerk, ein Feuerwerk der Sprache. Man muss hier die Leistung des Übersetzers Hinrich Schmidt-Henkel ausdrücklich hervorheben, der den komplexen Text wunderbar aus dem Französischen übertragen hat.

    Ich empfehle dieses Buch allen Lesern, die sich gerne mit aktuellen, ernsthaften Themen beschäftigen und Freude an metaphern- und bildreicher Sprache haben. Für mich ist dieser französische Roman ein absolutes Highlight. Unbedingt lesen!

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  1. MeToo in der Bretagne

    Eine kleine Hafenstadt in der Bretagne: Max Le Corre, ein abgehalfterter Boxer, der als Chauffeur des Bürgermeisters Quentin Le Bars arbeitet, legt bei seinem Chef ein gutes Wort für seine Tochter ein. Die 20-jährige Laura ist gerade aus Rennes zurückgekehrt und sucht in ihrer Heimatstadt nun eine Wohnung und einen Job. Und siehe da: Le Bars lässt seine Beziehungen spielen und besorgt ihr beides innerhalb kürzester Zeit - jedoch nicht ohne Hintergedanken, denn ohne gewisse "Gefälligkeiten" macht so ein Provinzbürgermeister schließlich keinen Finger krumm...

    "Das Mädchen, das man ruft" ist der neue Roman des französischen Autors Tanguy Viel, der kürzlich im Wagenbach-Verlag erschienen ist. Der Roman mit dem recht sperrigen Titel ist eine Mischung aus Krimi und Sozialdrama und punktet vor allem durch seine originelle Erzählweise. Denn Viel breitet auf gerade einmal 160 Seiten das gesamte Spektrum seines literarischen Könnens nahezu komplett aus und trifft dabei zumeist den richtigen Ton.

    Zugegebenermaßen dauert es eine Weile, bis man sich als Leser:in an die vielen Verschachtelungen und an den Bewusstseinsstrom gewöhnt, an die endlos wirkenden Bandwurmsätze, die zum Teil ganz oben auf einer Seite beginnen und sich manchmal bis über die Seitenmitte hinwegziehen, hier einen Schlenker einlegen, um Boxer Max apathisch in einer Autowaschanlage zu beobachten oder sich plötzlich im Casino der Stadt wiederfinden, wo Bürgermeister Quentin Laura gerade besucht, um sich eine der besagten "Gefälligkeiten" abzuholen und dabei nicht aufgehalten wird, weder von Casino-Inhaber Franck, der aber ohnehin ein recht schmieriges Bündnis mit dem Bürgermeister eingegangen ist, so glauben wir es zumindest, wenn wir uns die erste Szene in Erinnerung rufen, noch von Francks Schwester Hélène, von der man sich dann als Leser:in doch noch eine gewisse Unterstützung für Laura erhoffte, aber Pustekuchen.

    Mir gelingt es natürlich nicht einmal ansatzweise, so gut zu formulieren, aber der oben stehende Satz könnte zumindest als exemplarisch betrachtet werden. Nach den geschilderten Anpassungsschwierigkeiten fand ich diesen Erzählstil jedenfalls durchaus gelungen, auch wenn Viel es bei seinen Metaphern manchmal übertreibt und nicht jede davon sitzen mag.

    Durch den Schreibstil wirkt die eigentliche Handlung jedoch recht aufgebauscht, denn die Geschichte ist relativ simpel zusammenzufassen: Ein junges Mädchen in Not lässt sich sexuell von einem Machtmenschen ausnutzen, ohne direkt dagegen zu protestieren, während ihr naiver Boxer-Vater den Bürgermeister sogar noch zu diesen Treffen karrt. Ein wenig "MeToo in der Bretagne" und thematisch recht gefällig, denn wer mag schon Widerworte dagegen erheben, dass eine solche Geschichte ihre Berechtigung hat, erzählt zu werden?

    Dennoch gelingt es dem Autoren über weite Strecken ziemlich gut, trotz der simplen Handlung einen veritablen Spannungsbogen aufzubauen, denn tatsächlich fiel es mir schwer, vorauszusehen, in welche Richtung sich diese Geschichte denn nun entwickeln wird.

    Und so ist die größte Schwäche in meinen Augen auch gar nicht die Handlung, sondern es sind die Figuren, die fast schon erschreckend eindimensional geraten sind. Auf der einen Seite der Bürgermeister, ein korrupter Machtmensch aus dem Lager "Old White Man" und sein Lakai Franck, ein Provinzlude im weißen Anzug - auf der anderen Seite Laura, eine Art Fille Fatale, die sich ihrer Reize durchaus bewusst ist, aber nicht in der Lage scheint, gegen den Missbrauch zu protestieren und ihr völlig verblödeter Boxer-Vater, der offenbar nicht erst im letzten Boxkampf seine finalen Hirnzellen geopfert hat. Gerade Boxer Max ist ein echtes Ärgernis, denn selbst Tanguy Viel scheint keine große Empathie für den armen Tropf übrig zu haben. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass auch ich keinen Zugang zu den Figuren fand und mir ihr Schicksal größtenteils leider egal blieb.

    Insgesamt ist "Das Mädchen, das man ruft" trotz dieser Kritikpunkte ein recht unterhaltsamer Zeitvertreib, wenn man sich auf Viels Erzählstil einlässt und sich nicht an den Figuren stößt. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

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