Serpentinen: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Serpentinen: Roman' von Bov Bjerg
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4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Serpentinen: Roman"

Ein Vater unterwegs mit seinem Sohn. Ihre Reise führt zurück in das Hügelland, aus dem der Vater stammt, zu den Schauplätzen seiner Kindheit. Da ist das Geburtshaus, dort die elterliche Hochzeitskirche, hier der Friedhof, auf dem der Freund Frieder begraben liegt. Ständiger Reisebegleiter ist das Schicksal der männlichen Vorfahren, die sich allesamt das Leben nahmen: "Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt." Der Vater muss erkennen, dass sein Wegzug, seine Bildung und sein Aufstieg keine Erlösung gebracht haben. Vielleicht helfen die Rückkehr und das Erinnern. Doch warum bringt er seinen Jungen in Gefahr? Warum hat er keine Antwort auf dessen bange Frage: "Um was geht es?" Er weiß nur: Wer zurückfährt, muss alle Kurven noch einmal nehmen. Wenn er der dunklen Tradition ein Ende setzen will.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
Verlag: Claassen
EAN:9783546100038

Rezensionen zu "Serpentinen: Roman"

  1. Krass

    „Um was geht es?“ Diese Frage, die sich wie ein roter Faden durch „Serpentinen“ von Bov Bjerg zieht, habe ich mir genauso oft gestellt, wie sie im Buche steht *g*.

    Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich sie jetzt – nach Beendigung der Lektüre und beim Verfassen dieser Rezension – kompetent und richtig beantworten kann. Dafür hat mich das Buch zu sehr mitgerissen (auf der einen Seite) und verwirrt (auf der anderen Seite). Aber die Frage ist ja: will ich das überhaupt? Jeder setzt schließlich andere Prioritäten. Wir können zwar alle dasselbe Buch lesen, aber jeder wird für sich die Geschichte anders lesen.

    Ich habe es so gelesen: Es ist eine Vater-/Sohn-Reise. Es ist eine Reise in die Vergangenheit. Es ist eine Reise durch die dunklen Gedanken des Vaters, der eine „Tradition“ seiner Familie unterbrechen will, nämlich die der Selbsttötung (Vater, Großvater, Urgroßvater).

    Kurvig wie eine Serpentinenstraße verfolgen die Leserinnen und Leser dem Erzähler durch sein Leben. Dabei befindet man sich mal am Anfang, mal am Ende der Straße ohne direkt zu wissen, wo oben und unten ist. Soweit so unklar? *g* Genauso ging es mir während der Lektüre.

    Die Gedanken und Zeiten springen munter hin und her, so dass einem schon mal schwindelig werden kann ob der Detailfülle auf der einen und dem Nichtgesagten auf der anderen Seite. Und doch kann man sich dem Fahrtwind die Serpentinen rauf und runter nicht entziehen, wird um eine Kurve nach der anderen geschleudert, obwohl man angeschnallt ist und die Geschwindigkeit durch eigene Gedanken(pausen) drosseln kann – und sollte.

    Denn der Autor fordert seine Leserinnen und Leser heraus – nachzudenken, was war, was ist, was ist „vererbt“, was kann ich oder was lässt sich überhaupt ändern…

    Das Buch hallt nach. Definitiv. Und ich bin noch nicht am Ende meiner „Serpentinen“ sprich meiner Gedanken zu dieser Geschichte. Darum zücke ich auch noch nicht die Höchstnote, aber wie ein Auto vier Reifen hat, ziehe ich 4* und spreche eine klare Leseempfehlung aus für alle, die es auch mal experimentell und kurvig mögen.

    ©kingofmusic

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  1. »Um was geht es? Um was geht es!«

    Handlung:⠀

    Der Ich-Erzähler fährt mit seinem kleinen Sohn in die Schwäbische Alb, wo er selbst aufgewachsen ist. Er will dem Jungen zeigen, wo seine Wurzeln liegen – doch ist dies keineswegs eine Geschichte voller warmherziger Erinnerungen. Denn die Familie wird seit Generationen geplagt von einem schwarzen Fluch: Depressionen und psychische Erkrankungen, die die Betroffenen letztendlich zum Äußersten führen. Die Erzählung verläuft stets auf zwei Bedeutungsebenen, denn wie der Junge die Reise erlebt und wie der Vater insgeheim mit seinen Dämonen kämpft, könnte konträrer kaum sein.⠀

    »Um was geht es? Um was geht es!«⠀

    Um was es geht, das ist ein Spiel zwischen Vater und Sohn. Es geht um die Serpentinen. Es geht um die Serpentinen. Es geht um die SER-PEN-TI-NEN. Es geht darum, sich in die Kurve zu legen. »Um was geht es?« Wieder und wieder verlangt der Junge eine Antwort, die letztlich ohne Bedeutung ist – ein Ritual, in dem es nur um die Verbindung geht, um das Gefühl der Kameradschaft.⠀

    Für ihn ist die Reise ein großes Abenteuer, ein spannender Roadtrip. Er freut sich über die Aufmerksamkeit des Vaters, reicht ihm Bierdosen ans Steuer. »Wir machen ganz schön viel zusammen« sagt er glücklich. Er ahnt nicht, dass die Mutter schon die Polizei gerufen hat. Dass der Vater ihm nachts das Kissen aufs Gesicht legt, wenn er schläft. Dass der versucht, sich zu wappnen für den erweiterten Suizid – oder dafür, eben doch weiterzuleben, leben zu lassen.⠀

    »Um was geht es?«⠀

    Es geht um die Familiengeschichte, die Nazivergangenheit, die Vertreibung der sudetendeutschen Ahnen. Es geht um drei Generationen von Selbstmördern. Es geht um vaterlose Söhne, die zu ‘Scheißvätern’ werden, die den fatalen Zyklus fortführen. Die Rückblicke sind durchdrungen von familiärer und gesellschaftlicher Gewalt, Armut und Alkoholismus, Variationen der Ausgrenzung und Fremdheit.⠀

    Und immer wieder senkt sich ein grauer Schleier über die Psyche – seit drei Generationen der finale Vorhang für den jeweiligen Patriarchen. Auch der Protagonist leidet an lähmenden Depressionen, die ihn in äußerster Konsequenz hierher geführt haben: zu den Serpentinen, zu seiner Vergangenheit, vielleicht zu seinem Tod.⠀

    Das liest sich über lange Passagen wie ein dunkler Fiebertraum, aus dem es kein Erwachen gibt – das bedrückende Panorama einer Depression ohne Wiederkehr. Man steht am Scheideweg, der Leser wie der Protagonist, und hat doch das Gefühl, es könne nur in die eine unheilvolle Richtung gehen.⠀

    Die Vorbelastung ist in jedweder Hinsicht vernichtend. Der Erzähler kämpft gegen seine Depression an, lässt sich jedoch immer mehr von ihr auf Abwege leiten – sie verdreht seine Gedanken, lässt den möglichen Kindsmord wie eine logische Konsequenz der Liebe erscheinen.⠀

    Und dennoch: um was geht es?⠀

    Die Bedrückung, die ich beim Lesen empfand, blieb meist distanziert. Die Geschehnisse erschienen mir in vielen Passagen geradezu exemplarisch – abgenutzte Vorzeigebilder psychischer und familiärer Verstrickungen, das A bis Z der Dysfunktion. Die Charaktere wandern durch diese Szenen wie Statisten, losgelöst von aller Konsequenz.⠀

    Selbst wenn mein Verstand urteilte “Das ist schrecklich!”, hatte ich noch das Gefühl, dass die Erzählung an der Oberfläche trieb und ich die wahre Hölle nur erahnen konnte, weit unten am tiefen Grund. Mir fehlte sozusagen der Sog, der mich nach unten gezogen hätte, damit ich das Ertrinken (üb)erleben und begreifen kann.⠀

    Dabei kann der Schreibstil durchaus Atmosphäre aufbauen und hat großartige Momente, durch deren Lupe auf einmal alles glasklar erscheint – nur sind diese in meinen Augen zu rar gesät. Vieles ist zu nüchtern, zu verkopft, zu konstruiert. ⠀

    Im Endeffekt verharrt der Erzähler in der Opferrolle. Er zählt all das Schreckliche auf, das ihm und anderen geschehen ist, spielt es immer wieder durch. Ihm ist bewusst, dass er aufgrund seiner Depression in Gefahr steht, sich und/oder seinem Sohn etwas anzutun. Aber er macht das mit sich selbst aus, er sucht keine Hilfe – und er sieht nicht, wie unverantwortlich das ist.⠀

    Auf jede Passage, in der sich emotionaler Fortschritt erahnen lässt, folgen mehrere, in denen er den Fortschritt zunichte macht und sich nur umso sturer an sein Leid klammert. Als Leserin hörte ich irgendwann auf, mitzuleiden, denn ich sah darin keinen Sinn mehr. Um was geht es? Um was geht es!⠀

    Fazit⠀

    “Serpentinen” beschreibt das düstere Psychogramm einer Familie, die seit Generationen gefangen ist in einem Kreislauf von Schuld und Gewalt. Der Protagonist, dessen Urgroßvater, Großvater und Vater alle durch Suizid gestorben sind, begibt sich mit seinem kleinen Sohn auf eine Reise an die Plätze seiner Kindheit – im Hinterkopf den Gedanken, der Zyklus ließe sich möglicherweise endlich durchbrechen, indem Vater UND Sohn sterben.⠀

    Die Grundidee ist aus psychologischer Sicht gesehen ohne Zweifel interessant. Die Familiengeschichte wartet mit einer Vielzahl von Themen auf (möglicherweise zu viele!), die auch für sich genommen alle schon genug Potential für einen Roman böten, und der Schreibstil hat seinen ganz eigenen, oft großartigen Klang.⠀

    Dennoch fehlt mir da etwas – der letzte Schritt, der die Distanz zum Leser geschlossen hätte, vielleicht. Ich nahm den Schmerz und die Tragik zur Kenntnis, hatte indes das Gefühl, als ränne mir die wahre Bedeutung durch die Finger. Der Protagonist macht sein Leid zum Lebensinhalt, und mir bleibt letztendlich nur die Erinnerung an ein ungewöhnliches Gedankenspiel.⠀

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  1. 5
    08. Feb 2020 

    Intensives Leseerlebnis

    Der 1965 im Schwäbischen geborene Autor, der sich Bov Bjerg nennt, hatte mit seinem zweiten Roman „Auerhaus“ einen Riesenerfolg. Das Buch wurde verfilmt und ist mittlerweile Schullektüre geworden.
    Sein neuer Roman „ Serpentinen“ knüpft an manches von damals an, ist aber völlig anders, härter, dusterer und noch besser.
    Der Ich- Erzähler, ein Mann Mitte 40, reist zurück in die schwäbische Provinz, zurück in die eigene Vergangenheit. Mit dabei auf der Reise sind sein 7-oder 8-jähriger Sohn und als drohender Schatten das Familienerbe, das er mit sich schleppt. Die Furcht, so zu enden wie seine männliche Vorfahren: ( Zitat ) „Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere. Ich war noch am Leben.“
    Eigentlich könnte er zufrieden sein. Er hat seine provinzielle Heimat verlassen, lebt seit Jahren in Berlin. Auch beruflich ist ihm der Aufstieg geglückt. Er ist Soziologieprofessor, seine Frau erfolgreiche Juristin. Doch er fühlt sich fremd im akademischen Bürgertum, nicht zugehörig.
    Nun unternimmt er mit seinem Sohn diese Reise, um ihm zu zeigen, wo er herkommt.
    Aufgewachsen in einem kleinen Ort auf der schwäbischen Alb. Die Eltern hatte es nach dem Krieg hierher verschlagen. Die Mutter ist Sudetendeutsche, der Vater stammte aus Brandenburg. Heimisch geworden sind beide hier nicht.
    Der Vater, einfacher Arbeiter, war Alkoholiker, der Frau und Kinder schlug. Der Autor sagt von ihm: ( Zitat ) „Der Vater war ein Nazi, bis zu seinem Ende. Keiner von denen, die den Massenmord abstritten. Er war ein richtiger Nazi. Einer, der den Mord gut fand.“
    Und : „ Er war kein Rudolf Höß, er war kein Hans Frank, auch wenn er endete wie sie. Er hatte kein Nazi der Tat mehr sein können. Er musste ein Nazi der Meinung bleiben. Ein Mörder nur in der Fantasie und auf dem Wahlzettel.“
    Danach folgt das Ergebnis der Landtagswahl in Baden- Württemberg von 1968, in dem die NPD 9,82 % der Stimmen erhielt.
    Im Alter von 44 Jahren hat sich der Vater erhängt. Der kleine Sohn findet ihn im Badezimmer.
    Schon länger belastet nun den Erzähler die Furcht, so zu enden wie die Männer in der Familie. Aber er will seinem Sohn das Schicksal ersparen, das er erlitten hat. Er würde ihn mitnehmen in den Tod.
    Als Leser lebt man nun ständig in der Angst um das Kind.
    Bov Bjerg hat mit „ Serpentinen“ einen Roman geschaffen, der manchmal schwer erträglich ist. Trotzdem liest man gebannt weiter und nach der letzten Seite lässt einem das Buch immer noch nicht los. Auch die Sprache und die motivische Struktur machen „ Serpentinen“ zu einem intensiven Leseerlebnis.

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