Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr

Buchseite und Rezensionen zu 'Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr' von Per J. Andersson
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr"

Pikay lernt 1975 in Delhi durch Zufall die junge Schwedin Lotta kennen und verliebt sich unsterblich in sie. Als Lotta zurück nach Schweden geht, setzt sich Pikay kurz entschlossen auf ein altes Fahrrad und fährt ihr hinterher...

Format:Taschenbuch
Seiten:344
EAN:9783404608850
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Rezensionen zu "Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr"

  1. 5
    29. Mär 2017 

    Etwas absurd, aber trotzdem ein wunderschönes Romanerlebnis

    Das Buch hat mich auf den ersten Seiten ein wenig kritisch gestimmt. Ich dachte erst, da sind schon wieder die Engländer, die Indien besetzen und sie von ihren Rechten berauben. Die westliche Welt, die in anderen Ländern mit gehobenem Zeigefinger zeigt, was an deren Kultur falsch ist. Warum meint die westliche Welt immer zu wissen, was richtig ist?

    Aber um die Engländer ging es in dem Buch nur peripher. Es gab einen Großvater, der von einem Engländer angetan war, weil der den unterdrückten Indern, die aus der unteren Kaste, die Hand gab. Und so haben sich meine Befürchtungen in Wohlgefallen aufgelöst. In dem Buch werden viele Kulturen in Frage gestellt, auch die der westlichen Welt …

    Ich hatte anfangs, als das Buch noch im Buchladen stand, noch eine ganz andere Vorstellung zu dem Buch. Ich dachte, es hätte so etwas Ähnliches wie Der Mann, der aus dem Fenster stieg …, und nicht nur ich hegte diesen Verdacht. Nein, man kann dieses Buch keinesfalls mit dem anderen Buch vergleichen. Diesen jungen Inder, der mit dem Fahrrad nach Schweden fuhr … den gab es tatsächlich. Ein studierter Künstler, der mich doch ein wenig amüsierte, ohne ihn abwerten zu wollen. Denn er hatte gar keine Ahnung, wo Europa liegt, und er fuhr einfach drauf los, ohne zu wissen, auf welcher Seite der Landkarte sich Schweden befand. Er hatte noch nie eine Landkarte gesehen. Er war es gewohnt, von einen Tag auf den anderen zu leben, ohne große Vorbereitungen, wie wir das hier im Westen kennen, dass wir uns immer dick mit Reiseführern und Landkarten eindecken. Doch bevor es zu dieser Reise kam, erfährt man recht viel über die Hintergründe dieses Landes und vieles über den jungen Inder namens Pikay und dessen Familie. Pikay kommt eigentlich aus einer relativ weisen Familie, eine Familie, in der die Frauen nicht diskriminiert wurden. Sein Vater lebte anders als seine Eltern, denn Pikays Großmutter hatte ihre Schwiegertochter aus der Familie verstoßen, als sie mit dem vierten Kind ein Mädchen gebar. Pikay, seine Brüder und der Vater durften bleiben … Pikays Vater hielt die Trennung zu seiner Frau und seiner kleinen Tochter allerdings nicht aus, und sah zu, dass er mit einfachen Mitteln ein Haus für seine Familie baute, in dem er mit ihr leben wollte. Schließlich verließ der Vater seine Herkunftsfamilie und tat sich mit seiner eigenen Familie zusammen. Das fand ich sehr mutig. Der Vater zeigte Respekt vor den Frauen. Er gab Pikay mit auf den Weg, er dürfe niemals eine Frau zum Weinen bringen …

    Zitat:
    "… Und wenn doch einmal Tränen über ihre Wangen laufen, dann lass nicht zu, dass diese Tränen auf den Boden fallen<<, fuhr sein Vater vor, was heißen sollte, dass er immer zugegen sein müsse, um seine Frau zu trösten." (2015, 183)

    Pikays Herkunft ist kastenlos. Er und seine Familie werden in der indischen Gesellschaft, vor allem von den Brahmanen, als Dschungelmenschen bezeichnet, die man nicht berühren dürfe, sonst würde man sich beschmutzen. Deshalb die Bezeichnung die Unberührbaren.

    Dschungelmenschen, das sind die Ureinwohner Indiens gewesen, denen eigentlich das Land gehörte, bis Fremde kamen, und ihnen das Land wegnahmen. Diese Fremde bezeichnet man heute als Indo-Germanen.

    Ziemlich absurd. Als der kleine Pikay in die Schule kam, durfte er sich nicht in den Klassenraum setzen, neben seinen Mitschülern. Nein, er musste auf dem Boden der Terrasse sitzen. Völlig isoliert, wo Pikay sich auf seine Mitschüler gefreut hatte, um neue Freundschaften zu schließen. Seine Schulkameraden stammten alle aus der höheren Kaste. Es waren alles Brahmanenkinder.

    Pikay schafft es auf die höhere Schule. Seine Eltern sind stolz auf ihn, und sein Vater machte schon Pläne, sah seinen Sohn schon auf der Universität. Allerdings hatte Pikay Probleme mit den naturwissenschaftlichen Fächern. Aber er war künstlerisch veranlagt, sodass die Lehrer ihn auf eine Künstlerschule verweisen. Und so wird Pikay Maler. Doch leicht hat Pikay es nicht. Er bekommt zwar ein Stipendium, aber das Geld reicht nicht. Das Stipendium wurde außerdem wegen der Korruption für mehrere Monate ausgesetzt. Oftmals musste er unter der Brücke schlafen …

    Er konnte seinen Unterhalt aber ein wenig mit seiner Kunst aufbessern. Er lebte von seinen Bleistiftzeichnungen, Porträts und Miniaturen.

    Und hier ist noch Lotta, eine junge Schwedin, die eine Weltreise nach Indien macht. Sie fühlt sich zu Asien hingezogen. Lotta ist auch eine recht kritische Persönlichkeit, was ihre Herkunftskultur betrifft, vor allem, als sie ihre Religion mit der der Inder vergleicht:

    Zitat:
    "Die Christen scheinen vor allem daran interessiert, Grenzen zu anderen zu ziehen. Alle Menschen, ganz gleich, ob man gläubig war oder nicht, wurden vor derselben Lebensenergie getrieben. Das Herz, dachte sie, schlägt aus demselben Grund in allen Menschen, ganz gleich, was man glaubt." (47)

    Pikay lernt Lotta kennen, und beide fühlen sich zueinander hingezogen. Pika wusste, dass er Lotta kennenlernen und sie heiraten würde. Das entnahm er aus seinem Lebenshoroskop.

    Sie lernen sich kennen und philosophieren über das Leben. Pikay fragt Lotta, wie der Mensch glücklich werden könne, wenn die Menschen einander so rassistisch behandeln würden?

    Zitat:
    "Sie spürte, dass sie unmöglich eine Ideologie annehmen könnte, die von jemand anderem fertig ausgedacht war. Und sie konnte nicht mit ganzem Herzen sagen, dass sie Christin, Hindu oder Buddhistin war, konservativ, liberal oder sozialistisch.Ich nehme mir von allem etwas, dachte sie.Trotz der christlichen Mutter und ihrer eigenen Neugier auf Yoga und die asiatischen Lebensphilosophien stand sie den Religionen kritisch gegenüber. Sie war Humanistin. Das musste genügen. Alle Menschen hatten dieselbe Lebensenergie, ganz gleich, woher sie stammten und wie ihre Hautfarbe war. Wenn man so denkt, ist es unmöglich, rassistisch zu sein, meinte Lotta. "(127f)

    Durch Lotta erfährt Pikay, dass es in Europa auch ein ähnliches Kastensystem gibt, das die Menschen voneinander trennt. Dieses würde man nur anders nennen.

    Pikay musste lernen, mit dem Rassismus seines Landes fertigzuwerden, und geriet immer wieder in eine suizidale Identitätskrise. Er meinte, als sogenanntes Dschungelkind keinen Platz in der Gesellschaft zu haben. Ein höherer Lehrer konfrontierte ihn mit seinem Lebenssinn. Er musste lernen, sich gegen den Rassismus und gegen Vorurteile zu kämpfen. Nicht nur innerhalb seiner ethnischen Gruppe, sondern auch in den verschiedenen hierarchisch geordneten Kastenwelten.

    Zitat:
    "Pikay lernte, dass man Gott nicht nur benutzen konnte, um die Armen zu unterdrücken, sondern auch, um dem Hochmut ein Ende zu setzen und die Welt zu verändern. "(144)

    Der Rat seiner Mutter:

    Zitat:
    "Handle so, dass du hinterher für deine Taten geradestehen kannst und dich nicht dafür schämen musst. Und tue niemals einem Menschen etwas Böses. "(157)

    1975 bekommt Pikay die Erlaubnis seines älteren Bruders und seines Vaters, Lotta zu heiraten. Lotta befand sich allerdings wieder in Schweden, Pikay machte sich auf den Weg, ihr später mit dem Fahrrad nachzureisen. Pikay lernt auf seine Weise Europa kennen, mit einem etwas naiven Blick. Europa war in seiner Vorstellung ein paradiesischer Kontinent. Sauber und geordnet … Er idealisierte auch die dort lebenden Menschen.

    Er lernt in Österreich

    Zitat:
    "Silvia kennen, die ihn vor seiner Naivität warnt:
    >>Die Menschen hier sind nicht so gut wie in Asien. Die Europäer sind Individualisten und sich selbst am nächsten<<, mahnt sie und fügt hinzu, dass es guten und gutgläubigen Menschen in Europa übel ergehen könne."(273)

    In Europa wird Pikay mit Klischees konfrontiert, die er als Inder zu erfüllen hatte …

    Mein Fazit zu dem Buch?

    Ich bin über den Autor sehr erstaunt, der in der Lage war, differenziert über Indien zu schreiben. Frei von Klischees und Stereotypen ... Der Erlebnisroman ist recht authentisch geschrieben. Man hat als Leserin das Gefühl bekommen, in Indien zu sein und an den Reisen teilzunehmen. Auch die Wertschätzung zu vielen Ländern und deren Kulturen war zu spüren, dass überall die Menschen Menschen, aber alle Menschen verschieden sind.

    Zum Schluss wurden auch die europäischen Kulturen hinterfragt. In dem Buch steckt so viel Wissen so viel Weisheit.

    Der Rassismus. Kein Land ist davon wirklich frei. Ich war froh, als auch der Autor am Ende diese Ansicht vertrat. Kommen die Engländer nach Indien und mahnen den dortigen Rassismus, ohne dass sie mit ihrem eigenen Rassismus fertigwerden.

    Es gibt wenige AutorInnen, die es schaffen, über andere Länder so zu schreiben, dass mein Bedürfnis nach Differenziertheit erfüllt ist.

    Tina und ich waren uns beide einig, dass es ein gutes Buch ist. Auch Tina war der Meinung, dass der Autor sehr differenziert und mit viel Weisheit geschrieben hat. Ein bisschen gelächelt haben wir über die Reiseform des Protagonisten. Das schon, aber er wirkte trotz allem sehr sympathisch und auch sehr kompetent. Auf den letzten Seiten sind ein paar Fotos von ihm, seiner Familie und von Lotta abgebildet.

    Querleserin und ich können beide das Buch weiterempfehlen. Vor allem an Leserinnen und Leser, die gerne durch die Welt reisen.

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  1. Von Indien nach Schweden - eine wahre Geschichte

    Der Roman erzählt die wahre Geschichte des Inders Jagat Ananda Pradyumna Kumar Mahanandia, kurz Pikay genannt, der von Indien nach Schweden gereist ist, um seine große Liebe wiederzufinden.
    Mira hat den Roman wegen des Titels gekauft, mich hat er sofort an den "Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg..." erinnert.
    Es ist jedoch weder ein lustiger noch ein satirischer Roman, sondern eine berührender Lebensbericht, der sowohl die indische als auch die westliche Kultur differenziert betrachtet. Mira und ich sind uns einig, ein lesenswertes Buch!

    Inhalt
    Pikay wird als Sohn eines "Unberührbaren" und einer Frau aus dem Stammesvolk in einem Dorf in Indien, nahe des Dschungels Ende der 1940er Jahre geboren.
    Am Tag seiner Geburt prophezeit ihm der Astrologe des Dorfes, dass er ein Mädchen heiraten wird, das nicht aus diesem Land stamme, musikalisch sei und einen Dschungel besitze. Pikay hält Zeit seines Lebens an dieser "Bestimmung" fest, sie ist seine Triebfeder, die ihm den Ausbruch aus seiner aussichtslosen Lage als Unberührbarer ermöglicht.

    Die britischen Kolonialherren haben das besetzte Indien verlassen müssen und seltsamerweise verbindet der Vater mit den Briten positive Erinnerungen. Das mag damit zusammenhängen, dass die Briten Pikays Großvater zum "Chatai des Dorfes gemacht hatten - ein Titel, der verpflichtete" (S.70). Er war sozusagen der "Herrscher" des Dorfes und rechnete den Briten hoch an, dass sie ihn nicht wie einen Unberührbaren behandelten.
    Von der Geschichte her ist diese Aussage eigentlich nicht zu verstehen, darüber habe ich mit Mira diskutiert. Die britischen Besatzer haben überwiegend mit den Hindus der ersten drei Kasten zusammengearbeitet, während die unterste und die "Unberührbaren" regelrecht ausgebeutet und unterdrückt wurden.

    Währenddessen hat die neue indische Regierung Gesetze erlassen, die eine Diskriminierung der Kastenlosen, der Dalit, verbietet, die keiner der traditionellen 4 Kasten des Hinduismus angehören.
    Doch die Realität des kleinen Pikay sieht anders aus. In seinem Dorf wird er von den Brahmanen, den hinduistischen Priester, vom Tempel verjagt, in der Schule muss er außerhalb des Klassenraums sitzen und darf niemanden anfassen, stets spielt er für sich allein, gehört er doch zu den Unreinen.

    "An den Tagen, an denen der Schulinspektor zu Besuch kam, war alles anders. Der Inspektor sollte kontrollieren, ob die Schule die Gesetze Indiens befolgte, die besagten, dass niemand aufgrund seiner Kaste diskriminiert werden dürfe. (...) Die Gegenwart des Inspektors veranlasste den Lehrer und die Klassenkameraden, Pikay anders zu behandeln." (S.59)

    Während also der kleine Pikay in der Schule leidet und nur der Schein gewahrt wird, wächst in der Schwedin Lotta "am anderen Ende der Welt" die Sehnsucht nach Indien.

    Pikays Leidensdruck wird so stark, dass er sogar einen Selbstmordversuch unternimmt, doch sein Lebenswille siegt. Er beendet die Schule erfolgreich und da er ein begabter Künstler und Maler ist, gelingt es ihm, ein Stipendium für eine Kunsthochschule zu erlangen, so dass er sein Dorf und den Dschungel verlässt, um sich in der Großstadt Neu-Delhi durchzuschlagen.

    "In der ersten Nacht in seiner neuen, schönen Welt schlief er tief und traumlos im fünften Stock des staatlichen Gästehauses. Am ersten Morgen stand er im Flur und sah aus dem Fenster, rieb sich die Augen und verspürte Angst. (...) Plötzlich hatte er das Gefühl, am liebsten in die Geborgenheit, ins Bett, ins Dorf in Orissa, zur Familie zurückkehren zu wollen." (S.84)

    Zu Beginn scheint alles gut zu gehen, doch dann erhält aufgrund der Korruption kein Schulgeld mehr und wird obdachlos. Sein Leben ist fortan vom nagendem Hunger bestimmt, so dass er seiner einzigen Geldquelle, dem Porträtzeichnen nicht mehr nachkommen kann. Erneut will er seinem scheinbar sinnlosen Dasein ein Ende setzen, als sich das Blatt für ihn zum Guten wendet.
    Er lernt einen wohlhabenden Mitschüler kennen, Tarique, der ihn bei sich schlafen lässt - bis sein Vater, der Oberste Richter dies verbietet. Immer wieder stößt Pikay auf die offene Diskriminierung der Unberührbaren trotz der bestehenden Gesetze. In den Köpfen der Bevölkerung herrscht jedoch immer noch der Glaube an die Kastenzugehörigkeit.
    Zufällig zeichnet Pikay die erste Frau im Weltall, Walentina Tereskowa, was ihm zu einigem Ruhm verhilft, so dass er sogar Indira Ghandi zeichnen darf, was ihm kurzfristig eine finanzielle Sicherheit gewährt.
    Im Frühjahr 1975 ist Pikay der Springbrunnenmaler: "Ten Rupies, ten minutes" lautet seine Devise. Es ist der Ort, an dem er seine Zukünftige kennenlernt - Lotta aus Schweden, die mit einigen Freunden in einem alten VW-Bus nach Indien gereist ist.
    Lottas Lebenseinstellung hat Mira und mich sofort angesprochen, so dass wir es unabhängig voneinander markiert haben:

    "Trotz der christlichen Mutter und ihrer eigenen Neugier auf Yoga und die asiatischen Lebensphilosophien stand sie den Religionen kritisch gegenüber. Sie war Humanistin. Das musste genügen. Alle Menschen hatten dieselbe Lebensenergie, ganz gleich, woher sie stammten und wie ihre Hautfarbe war. Wenn man so denkt, ist es unmöglich, rassistisch zu sein, meinte Lotta." (S.128)

    Doch Lotta kehrt nach Schweden zurück und obwohl sie Pikay liebt, lässt sie sich von ihrer Mutter überzeugen zu warten. In seiner Verzweiflung macht sich der junge Inder auf den Weg nach Schweden, mit dem Fahrrad fährt er Ende 1976 auf dem Hippie-Trail gen Westen und stößt auf Hindernisse, die seiner Liebe entgegenstehen. Aber nichts scheint ihn aufhalten zu können...

    Bewertung
    Mira und ich sind uns einig, ein lesenswerter Roman, der viele Weisheiten enthält, die wir alle gar nicht aufschreiben können. Ein Roman, der einen Einblick in die indischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ermöglicht und der unterschiedliche Lebenswelten in diesem Land schildert: das Dorf Orissa und die Großstadt Neu-Delhi. Der einen differenzierten Blick auf die indische und westliche Kultur wirft und aufzeigt, dass Diskriminierung und Rassismus, aber auch Menschlichkeit und Nächstenliebe in jeder Kultur und Nationalität verankert sind. Pikay wird aufgrund seiner Herkunft in Indien ausgegrenzt, erfährt aber auch Anerkennung und Achtung. Auf seiner langen Reise durch Afghanistan, den Iran und die Türkei schildert er, wie gastfreundlich er behandelt wird. Wie er gegen eine Zeichnung zum Essen eingeladen wird, eine Unterkunft für die Nacht erhält. Das ist in unserer westlichen Kultur fast undenkbar, oder?
    Eine Freundin in Wien warnt ihn daher vor "Europa":

    "Pikay, sagen sie, du bist ein guter Mensch, du machst Menschen gut. Aber du kennst Europa nicht. In Europa ist die Mitmenschlichkeit ein aussterbendes Gut. In Europa werden die Taten der Menschen von Angst und nicht von Liebe gesteuert." (S.275)

    Fast scheitert er an der westdeutschen und schwedischen Grenze. Interessant ist auch die Szene, in der Pikay erkennt, wie schwierig es ist, seinem Ursprung zu entfliehen, obwohl er schon eine Zeit lang in Schweden lebt.

    "Die Umgebung findet, Pikay solle doch Yoga-Unterricht geben, auch wenn er beteuert, auf diesem Gebiet kein Experte zu sein. Doch die Erwartungen hängen ihm an, und die Angebote, Kurse zu leiten, häufen sich." (S.302)

    Das Klischee haftet an ihm und den Vorurteilen, auch wenn sie hier freundlich gemeint sind, kann er nicht entkommen.

    Ein lesenswerter Roman, an dem mich nur gestört hat, dass die Figuren aufgrund der Erzählform (Er-Form), fast ausschließlich aus der Sicht Pikays und der wenigen Dialoge und Szenen, auf Distanz bleiben. Ich habe - anders als Mira - länger gebraucht, um in den Roman eintauchen zu können und hätte mir weniger Zusammenfassungen und mehr "Einzelaufnahmen" gewünscht, die einen ins Geschehen hineinziehen. Das mag daran liegen, dass der Autor Reisejournalist mit dem Schwerpunkt Indien ist, was andererseits seine herausragenden Kenntnisse über das Land und seinen differenzierten Blick auf die Kultur erklärt.

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Mirabeau: oder Die Morgenröte der Revolution

Buchseite und Rezensionen zu 'Mirabeau: oder Die Morgenröte der Revolution' von Johannes Willms

Inhaltsangabe zu "Mirabeau: oder Die Morgenröte der Revolution"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:397
Verlag: C.H.Beck
EAN:9783406704987
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Habsburg: Geschichte eines Imperiums

Buchseite und Rezensionen zu 'Habsburg: Geschichte eines Imperiums' von Pieter M. Judson
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Habsburg: Geschichte eines Imperiums"

[Neuwertig und ungelesen, als Geschenk geeignet ]

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:667
Verlag: C.H.Beck
EAN:9783406706530
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Rezensionen zu "Habsburg: Geschichte eines Imperiums"

  1. Anregende Studie

    Als Mensch, der Joseph Roth zu sienen Lieblingsautoren zählt, habe ich irgendwie dessen ambivalente Haltung zurm ausgehenden Habsburgerreich übernommen, auch wenn ich, historisch gesehen, ein westfälischer Preuße gewesen wäre. Einerseits trauert Roth um dieses untergegangene Gebielde, das er als sein einziges Vaterland bezeichnet hat, andererseits sieht er durchaus dessen anachronistische Züge, die es dem Untergang geweiht erscheinen ließen.

    Pieter M. Judson hat mit seiner Studie "Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740 -1918" den Versuch unternommen, zu überprüfen, ob dieser Untergang tatsächlich vermeidbar gewesen wäre. Und siehe da, er stellt einige Thesen auf, die durchaus bedenkenswert sind. Das Haus Habsburg hatte die vielleicht undankbare Aufgabe, dieses üblicherweise als Vielvölkerstaat bezeichnete Gebilde zusammenzuhalten, und das gelang aus der Retrospektive betrachtet, eigentlich überraschend gut, wie allein schon die Dauer des beschriebenen Zeitraums, der ja längst nicht die gesamte Geschichte des Hauses Habsburg umfasst, zeigt.

    Was war der Kitt, der diese Vielzahl unterschiedlicher Völker zusammenhielt? Judson belegt mehrfach, dass es die Loyalität gerade der unteren Schichten war, die sich vom durch das Herrscherhaus repräsentierten Staat Unterstützung in der Auseinandersetzung mit den adligen Grundherren, später auch den bürgerlichen Kapitalisten erhofften. Und tatsächlich, zahlreiche Reformen im Laufe des beschriebenen Zeitraums verschafften ihnen zunächst rechtliche Gleichheit, sukzessive auch Wahlrecht, bis dann 1907 im cisleithanischen Bereich sogar das allgemeine (Männer-)Wahlrecht eingeführt wurde. Doch damit wurde gleichzeitig eine Art Gegenentwicklung eingeläutet, denn nationalistische Parteien, von denen es ja nun weiß Gott genug im Vielvölkerstaat gab, brauchten und missbrauchten den Druck der Massen, um ihre immer radikaler werdenden Forderungen durchzusetzen. Doch Judson vertritt die These, dass die Loyalität der Bevölkerung gegenüber dem Haus Habsburg bis zum Kriegsbeginn letztendlich höher war als das Zugehörigkeitsgefühl zu irgendeiner ethisch definierten Nation. Erst das Versagen des Staates bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und das Misstrauen, das vor allem die Militärführung Minoritäten gegenüber hegte, die potentiell mit den Feindstaaten verbunden sein könnten (Italiener und Slawen), zerstörten diese Loyalität, sodass 1918 das Habsburgerreich in zahlreiche Nachfolgestaaten zerbrach, die, Ironie der Geschichte, oft selbst alles andere als ethnisch homogen waren und mit ihren jeweiligen Minderheiten so verfuhren, wie sie es der Habsburgermonarchie oft zu unrecht vorwarfen (In diesem Kontext sei auf die kongeniale Studie Walter Rauschers, Das Scheitern Mitteleuropas" verwiesen, die zeitlich an Judson anknüpft, verwiesen). Dort war immerhin der Unterricht in der jeweiligen Muttersprache die Regel, wenngleich Deutsch so etwas wie die Verwaltugssprache in den cisteithanischen, ungarisch in den transleithanischen Ländern war. Wie so oft ist und war es also das Gift des Nationalismus, dass Menschen, die zuvor in Frieden zusammenleben konnten, entzweite und bittere Konflikte bis hin zur Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg auslöste. Und in diesem Sinne wird auch deutlich, warum gerade Juden wie Joseph Roth dem untergegangenen Reich nachtrauerten, denn anders als ihre nichtjüdischen nachbarn konnten sie sich keiner Nation einordnen, da sie von allen als Fremdkörper ausgegrenzt wurden.

    Eine kleine Enttäuschung, die der Autor allerdings nicht zu verantworten hat, sind einige überflüssige Rechtschreibfehler, die einem so renommierten Verlag wie dem Beck-Verlag nicht unterlaufen sollten. So wird auf S.493 darüber berichtet, dass Lehrer an die "Form" geschickt wurden, womit offensichtlich Front gemeint ist, und auf S.658 findet sich in einer Anmerkung das Wort unstritten, wobei sowohl die Lesart umstritten wie unstrittig denkbar ist. Schade.

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Maria Theresia: Die Kaiserin in ihrer Zeit

Buchseite und Rezensionen zu 'Maria Theresia: Die Kaiserin in ihrer Zeit' von Barbara Stollberg-Rilinger

Inhaltsangabe zu "Maria Theresia: Die Kaiserin in ihrer Zeit"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:1083
Verlag: C.H.Beck
EAN:9783406697487
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Rückkehr nach Reims (edition suhrkamp)

Buchseite und Rezensionen zu 'Rückkehr nach Reims (edition suhrkamp)' von Didier Eribon

Inhaltsangabe zu "Rückkehr nach Reims (edition suhrkamp)"

Als sein Vater stirbt, reist Didier Eribon zum ersten Mal nach Jahrzehnten in seine Heimatstadt. Gemeinsam mit seiner Mutter sieht er sich Fotos an – das ist die Ausgangskonstellation dieses Buchs, das autobiografisches Schreiben mit soziologischer Reflexion verknüpft. Eribon realisiert, wie sehr er unter der Homophobie seines Herkunftsmilieus litt und dass es der Habitus einer armen Arbeiterfamilie war, der es ihm schwer machte, in der Pariser Gesellschaft Fuß zu fassen. Darüber hinaus liefert er eine Analyse des sozialen und intellektuellen Lebens seit den fünfziger Jahren und fragt, warum ein Teil der Arbeiterschaft zum Front National übergelaufen ist. Das Buch sorgt seit seinem Erscheinen international für Aufsehen. So widmete Édouard Louis dem Autor seinen Bestseller »Das Ende von Eddy«.

Format:Taschenbuch
Seiten:240
EAN:9783518072523
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Die Menschheit hat den Verstand verloren

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Menschheit hat den Verstand verloren' von Astrid Lindgren
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Menschheit hat den Verstand verloren"

Format:Taschenbuch
Seiten:592
EAN:9783548288697
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Rezensionen zu "Die Menschheit hat den Verstand verloren"

  1. 5
    03. Sep 2018 

    Zum Glück: Nicht alle haben den Verstand verloren

    1939 bricht in Europa der Krieg aus und wird sich in den kommenden Jahren auf einen Weltkrieg ausweiten, der den Erdenball überall in Atem hält. So auch die Menschen in Schweden, obwohl dieses Land mit seinem neutralen Status eine der wenigen friedlichen Ecken des Kontinentes Europa bleiben kann. Und doch beherrscht das Kriegsgeschehen das Leben und Denken auch der Schweden in diesen Zeiten. Denn er kommt ihnen sehr nahe mit immer wieder unabsehbaren weiteren Entwicklungen und beherrscht auch dort die Versorgung der Menschen mit den lebensnotwendigen Gütern.
    In diesen Zeiten beschließt Astrid Lindgren - damals noch keine Schriftstellerin, sondern vor allem Ehefrau und Mutter - in einem Tagebuch das Geschehen festzuhalten. Und mit ihrem Tagebuch dokumentiert sie uns sehr menschlich und anschaulich: „Die Menschheit hat den Verstand verloren.“
    Die Tagebücher von Astrid Lindgren aus den Jahren 39-45 vereinen dabei einen Blick auf Familiäres in der sie wohl nicht ganz ausfüllenden Ehe mit einem erfolgreichen Bankmanager in Stockholm und mit zwei heranwachsenden Kindern mit dem Blick auf den Fortgang des Krieges, der in einigen Zeiten dem Stockholmer Heim der Autorin bis Dänemark und Finnland doch sehr nahe kommt, ihr in anderen Zeiten etwas mehr des Durchatmens ermöglicht, wenn er etwa auf Nordafrika oder andere ferne Länder konzentriert ist.
    Lindgren vermittelt dem Leser dabei eine Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg, wie er mir bisher noch nicht untergekommen ist. Von einer geografischen Position aus, die für mich bisher in diesem Zusammenhang keine Rolle gespielt hat und dadurch deren Kennenlernen umso interessanter macht. Und von einer relativ friedlichen Position heraus, die in der deutschen Sicht so nicht gegeben sein konnte. Das alles und ihre treffende, warme Sprache lässt für mich das manchmal durchaus stark Dokumentarische der Tagebücher zu einem literarischen Text mit hohem Wert und Erkenntnisgewinn werden.
    Der Aufbau des Buches ist folgendermaßen: Jedes der beschriebenen 7 Jahre wird zunächst durch die Wiedergabe der handschriftlichen Einträge Lindgrens, dann durch die im Faksimile abgedruckten Textausschnitte aus schwedischen Zeitungen und zum Schluss durch deren Übersetzung ins Deutsche abgedeckt.
    Lindgren arbeitet während des Krieges, also parallel zu der Führung des Tagebuches, als Schreibkraft in einer Kontrollstelle für internationalen Briefverkehr und kommt so auch zu ganz persönlichen Eindrücken über die Auswirkungen des Krieges auf Individuen aus den von Deutschen besetzten Ländern. Auch diese teilt sie immer wieder mit ihrem Tagebuch und damit auch mit dem Leser.
    Parallel beginnt sie auch aus der Geschichtenerzählung für ihre Kinder ein literarisches Werk zu machen und schreibt und veröffentlicht erste Werke, darunter auch die Pippi Langstrumpf, die im Jahr 1944 erscheint. Sie sagt dazu selber:
    Ein „verflixt lustiges Buch, das wahrscheinlich nie entstanden wäre, wenn ich mir im Spätwinter 1944 nicht den Fuß verknackst hätte. Aber das hätte vielleicht auch nichts gemacht!“
    Gut dass Astrid Lindgren sich in diesem Tagebuch nie so irrt wie an dieser Stelle.
    Mein Fazit:
    Der Blick einer klugen und schreibstarken Frau auf ein Geschehen, das auch heute nicht seine Bedeutung für unser Leben und unsere Zukunft verloren hat. Ein absolut lesenswertes Zeitdokument!

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  1. 5
    17. Mär 2017 

    Die Menschheit hat den Verstand verloren

    Das Buch haben Anne und ich schon vor Tagen ausgelesen, wir sind nur noch nicht dazu gekommen, eine Rezension zu schreiben.

    Mit Anne habe ich aber schon telefoniert. Es hat uns beiden gut gefallen und wir haben uns auch über die Rezensionen ausgetauscht, wer was über das Buch schreiben möchte. Anne schreibt auch etwas Biografisches von Astrid Lindgren, über dies im Vorwort einiges zu entnehmen gibt.

    Ich dagegen habe die Absicht, viele Zitate herauszuschreiben. Was den Nationalsozialismus betrifft, wann der Zweite Weltkrieg etc. ausgebrochen ist, das weiß jeder und muss nicht nochmals hier erwähnt werden. Mir war die Betroffenheit von Astrid Lindgren ganz wichtig, wie sie diese in Sprache umgesetzt hat. Das hat mich so tief berührt, dass ich einfach gezwungen bin, meinen Fokus auf diese Zitate zu lenken.

    Wir werden, wenn wir beide unsere Rezensionen zu diesem Buch geschrieben haben, diese noch miteinander verlinken.

    Mit ihrem Tagebuch schreibt Astrid Lindgren so, wie ich sie liebe. Kritisch, politisch, differenziert, menschlich.

    Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind zudem mit vielen ausgeschnittenen Zeitungsartikeln versehen.

    Schweden verhielt sich im Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen europäischen Ländern neutral. Astrid Lindgren nagten Gewissensbisse, weil ihr Land an dem Krieg nicht beteiligt war.
    Ich habe mir allerdings als Leserin nicht die Frage gestellt, ob es feige war, dass Schweden an dem Krieg nicht beteiligt war. Nein, ich fand es gut, dass wenigstens ein paar Länder von dem Krieg und den Folgen verschont geblieben sind.

    Durch die Neutralität hatte Schweden jede Menge Ressourcen, und so konnte es vor allem dem kleinen Finnland und Norwegen mit materiellen Gütern unter die Arme greifen. Auch hat die schwedische Bevölkerung schwedische und norwegische Kriegskinder bei sich aufgenommen, und für sie gesorgt. Später, zum Ende des Krieges hin, überwindet Astrid Lindgren ihre Selbstzweifel, und sieht das Gute an der Neutralität:

    Zitat:
    "Denn Schweden wurde außerhalb des Krieges gebraucht. Wenn man zurückschaut, haben wir durchaus so einiges erreicht, natürlich nicht, weswegen wir gerade vor Stolz platzen könnten, aber worüber man sich doch freuen kann. Wir haben Finnland einmalige materielle Hilfe gegeben. Und Norwegen vielleicht in fast gleich großem Umfang. Wir haben - was soll ich sagen-100.000 norwegischen und dänischen Flüchtlingen, vielleicht ist die Zahl etwas zu hoch, ich weiß nicht, Asyl gewährt. Wir haben sie in speziellen Polizeilagern ausbilden lassen, was nichts Anderes war als eine regelrechte militärische Ausbildung. Zu guter Letzt haben wir erreicht, dass das schwedische Rote Kreuz sich der dänischen und norwegischen Internierten in Deutschland, Juden und anderer, annehmen und sie nach Schweden bringen konnte. Ich habe einige dieser Briefe von jungen Leuten gelesen, die sie nach ihrer Ankunft an ihre Angehörigen zu Hause in Norwegen und Dänemark geschrieben haben, es ist ein einziger Glücksjubel. (…) Einer muss ja neutral sein, sonst würde es doch keinen Frieden geben - aus Mangel an Friedensvermittlern." (442f)

    Deutschland hat Polen den Krieg erklärt. Polen ist nicht mehr das Land, das es einst mal war. Es wurden Sperrstunden eingeführt:

    Zitat:
    "Die Deutschen sprechen von ihrer >>harten, aber gerechten Behandlung<< der Polen - und die kann man sich ja vorstellen. Was für ein Hass wird entstehen! Die Welt wird am Ende so voller Hass sein, dass sie allesamt daran ersticken." (47)

    Auch wenn Schweden nicht am Krieg beteiligt war, war die schwedische Bevölkerung dennoch von Angst erfüllt. Auch die Kinder stellten Fragen, ob der Krieg bis nach Schweden dringen würde. Ich selbst versuchte mir diese Angst vorzustellen …
    Astrid Lindgren wunderte sich. Die Welt sei zwar kriegserfahren, lerne aber nicht aus ihren Fehlern:

    Zitat:
    "An der Ostfront stehen sich die größten Massen der Weltgeschichte gegenüber. Es ist gruselig, überhaupt daran zu denken. (…) Ich habe hier in Furusund einiges über Geschichte gelesen, und das ist eigentlich eine unheimlich beklemmende Lektüre-Krieg und Krieg und wieder Krieg und das ständige Leiden der Menschheit. Niemals lernt sie etwas daraus, sie begießt die Erde noch immer weiter mit Blut, Schweiß und Tränen." (117)

    In Schweden hoffte man im ersten Kriegsjahr auf ein baldiges Ende des Krieges. Niemand rechnete damit, dass er sechs Jahre anhalten würde. Der Alltag der Schweden ging weiter, aber der Krieg, der außerhalb von ihnen weltweit tobte, prägte trotzdem den Alltag der Schweden. Das Leben aber musste weitergehen, und es ging weiter. Lars, Lindgrens Sohn, stand 1942 kurz vor seiner Konfirmation. Schweden feiert Christi Himmelfahrt. In Gedanken an ihren Sohn schreibt die verzweifelte Lindgren:

    Zitat:
    "Übermorgen an Christi Himmelfahrt werden Lars und Göran konfirmiert. Kann, kann, kann denn dieser Krieg nicht bald ein Ende haben? Was für eine Zukunft erwarteten Jungen, die bald in die Welt hinaus wollen. Eine blutige, schreckliche, verwüstete, vergaste und in jeder Hinsicht elendige Welt zu erben, das ist hart." (182)

    Wieder ein Kriegsjahr vergangen, und an der Lage habe sich noch immer nichts verändert. Astrid Lindgren hofft ganz verzweifelt als stille Beobachterin weiterhin auf ein baldiges Ende. Sie beschäftigt sich mit französischer Kriegsliteratur, geschrieben von Jacques Agabits. Der Autor beschreibt die Situationen französischer Kriegsgefangener, die in einem deutschen Lazarett behandelt werden:

    Zitat:
    "Das ganze Buch ist voller Blut und Eiter, und ich bin so fed up, was Kriege betrifft, dass es keine Worte dafür gibt. Und wie mag es erst in den Ländern sein, wo sie all diese Schrecken täglich vor Augen haben." (241)

    Sie liest Remarque, Im Westen nichts Neues, und leidet mit ihm mit. Dabei denkt sie an Lars, an ihren Sohn, welches Glück sie hat, dass ihr Sohn nicht eingezogen wurde.

    Zitat:
    "Als ich es las, bin ich abends unter die Bettdecke gekrochen und habe vor Verzweiflung geweint (…) Und ich erinnere mich, dass ich dachte, wenn es noch einmal einen Krieg geben und Schweden daran teilnehmen würde, ich auf Knien zur Regierung rutschen und sie beschwören würde, die Hölle nicht losbrechen zu lassen. Lars würde ich selber erschießen, dachte ich, lieber das, als ihn in den Krieg ziehen zu lassen. Wie müssen sie leiden, die armen Mütter auf diesem wahnsinnigen Erdball. Als ich an die Besatzung der >>Ulven<< dachte und als ich Agapits Buch las, versuchte ich mir vorzustellen, Lars sei in dem gesunkenen U-Boot (…) Oder mit Fieber und Eiterwunden in einem Lazarett, und allein die Vorstellung reichte, um eine unerträgliche Seelenqual in mir hervorzurufen. Wie mag es erst für jene sein, für die es nicht nur eine Vorstellung, sondern grausame Wirklichkeit ist? Wie ist es möglich, dass die Menschheit solche Qualen durchleiden muss, und warum gibt es Krieg? Bedarf es wirklich nur weniger Menschen wie Hitler und Mussolini, um eine ganze Welt in Untergang und Chaos zu stürzen? Möge, möge, möge es jetzt bald ein Ende haben, jedenfalls mit dem Blutvergießen;"

    Astrid Lindgren leidet enorm unter diesen Kriegsqualen, obwohl sie ihnen nicht ausgesetzt ist. Tagtäglich setzt sie sich mit dem Krieg auseinander. Liest viel, hört Nachrichten, und verfolgt die Reden verschiedener Politiker, soweit die Sender dies zulassen: der Krieg beeinflusst weiterhin den Alltag:

    Zitat:
    "Dann kommt ja noch all das andere Elend, das auf einen Krieg folgt. Großmutter ist in diesen Tagen so gesund und munter und optimistisch. Sie glaubt, dass wieder Fried´ und Freud´ herrscht, wenn der Krieg nur vorbei ist. Sie glaubt vermutlich, die Menschheit wird glücklich, sobald es nur wieder Kaffee gibt und die Rationierungen aufgehoben sind, hier wie im Ausland, aber die unaussprechlich entsetzlichen Wunden, die der Krieg geschlagen hat, werden nicht mit ein bisschen Kaffee geheilt. Der Frieden kann den Müttern nicht ihre Söhne zurückgeben, Kindern nicht ihre Eltern, den kleinen Hamburger und Warschauer Kindern nicht das Leben. Der Hass ist nicht zu Ende an jenem Tag, an dem der Frieden kommt, jene, deren Angehörige in deutschen Konzentrationslagern zu Tode gequält wurden, vergessen nichts, nur weil Frieden ist, und die Erinnerung an Tausende von verhungerten Kindern in Griechenland wohnt immer noch in den Herzen ihrer Mütter, falls die Mütter selbst überlebt haben. Alle Invaliden werden weiter herumhumpeln, auf einem Bein oder mit einem Arm, alle, die ihr Augenlicht verloren haben, sind noch genauso blind, und jene, deren Nervensystem durch die unmenschlichen Panzerschlachten zerstört wurde, werden auch nicht wieder gesund, nur weil Frieden ist. Trotzdem, trotzdem - möge bald Frieden werden, damit die Menschen allmählich wieder zur Vernunft kommen." (242)

    Das Ende des Krieges, wie soll man sich das Ende vorstellen? Oder der Frieden? Astrid Lindgren stellt sich viele Fragen und findet nicht so leicht eine Antwort.

    Zitat:
    "Und dennoch - wie soll der Frieden aussehen, was aus dem armen Finnland werden? Und wird der Bolschewismus mit allem, was er an Terror und Unterdrückung beinhaltet, freien Spielraum in Europa bekommen? Die, die ihr Leben bereits im Krieg verloren haben, sind womöglich die Glücklicheren." (243)

    Sie schreibt über eine Rede von Goebbels:

    Zitat:
    >>Wir glauben an den Sieg, weil wir den Führer haben! Wenn mir heute auf den Führer schauen, so sehen wir gerade in ihm die Garantie dieses kommenden Endsieges. Wir wissen ganz genau, dass die weltentscheidende Auseinandersetzung dieses Krieges zwischen dem nationalsozialistischen Reich und der bolschewistischen Sowjetunion fallen wird.(…) So wollen wir in dieser dramatischen Stunde unseres Gigantenkampfes gegen unsere alten Feinde nur die eine Bitte an den Allmächtigen richten: uns den Führer gesund und voll von Kraft und Entschlussdeutlichkeit zu erhalten! Wir wissen, dass wir dann alle Gefahren überwinden und am Ende Sieg und Frieden erringen werden. So rufe ich denn dem Führer im Namen des ganzen deutschen Volkes für den schwersten Kampf um unsere äußere Freiheit unsere alte Parole als Bestätigung unserer zu allem entschlossenen Bereitschaft zu: Führer, befiel, wir folgen!" (315)

    Mein Fazit zu dem Buch?

    Der Titel Die Menschheit hat den Verstand verloren hat es voll getroffen. Es kann niemals der gesunde Menschenverstand sein, der Kriege befürwortet ...
    Wenn ich die Politik heute mit der von damals vergleiche, dann bekomme ich schon ein wenig Gänsehaut, dass sich so eine Lage wiederholen könnte. Früher schrie die Mehrheit der Menschen, Deutschland müsse judenfrei werden, heute schreit sie, Deutschland müsse islamfrei werden. Viele haben gar nicht verstanden, dass es nicht der Islam ist, der die Probleme unter den Menschen verursacht, sondern die Fundamentalisten, die sogar ihre eigenen Landsleute in Lebensgefahr bringen, wenn sie nicht deren religiösen Ideologien befolgen. Ist der Mensch in Deutschland auch heute nicht in der Lage, zu differenzieren? Das hoffe ich nicht. Aber wenn ich nach Österreich schaue, und heute sogar nach Holland, in dem ein neuer Ministerpräsident gewählt wurde, dann haben sich die meisten NiederländerInnen doch gegen den Rechtspopulisten Geert Wilders und für den rechtsliberalen Mark Ruppe entschieden. Das macht mir Hoffnung. Auch in Österreich gewann 2016 völlig unerwartet Alexander Van der Bellen die Bundespräsidentenwahl ...

    Ich stellte mir wiederholt beim Lesen die Frage, welche Auswirkungen es in Deutschland und in Europa gehabt hätte, wenn Hitler als Sieger aus den Kriegen geschieden wäre? Ich werde niemals eine Antwort darauf finden, aber ich kann hoffen, dass es nie wieder einen Weltkrieg geben wird, und dass es in allen Ländern, in denen gerade Bürgerkriege herrschen, diese dort bald ihr Ende finden werden.

    Astrid Lindgren war zu dieser Zeit, als sie ihr Kriegstagebuch geschrieben hat, noch keine Schriftstellerin, wobei die Figur Pippi Langstrumpf durch die Tochter Karin in hohem Fieber schon geboren wurde. Dass Astrid Lindgren begabt ist zu schreiben, zeigt schon dieses Tagebuch, das neben ihrem Intellekt auch zusätzlich mit so viel Seele gefüllt ist.

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Geschichte eines Deutschen

Buchseite und Rezensionen zu 'Geschichte eines Deutschen' von Sebastian Haffner

Inhaltsangabe zu "Geschichte eines Deutschen"

Format:Broschiert
Seiten:304
EAN:9783570552131
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Im Palast von Knossos

Buchseite und Rezensionen zu 'Im Palast von Knossos' von Nikos Kazantzakis
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Im Palast von Knossos"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:448
EAN:9783990210185
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Rezensionen zu "Im Palast von Knossos"

  1. Im Palast von Knossos

    Nikos Kazantzakis
    Im Palast von Knossos
    Verlag der Griechenland Zeitung

    Autor: Nikos Kazantzakis (geb. 18.Februar 1883 in Heraklion/Kreta; gest. 26.Oktober 1957 in Freiburg/Breisgau) war ein griechischer Schriftsteller, Philosoph, Zeitungskorrespondent und Übersetzer. (Quelle: Bücher-Wiki)

    Die Prinzessin Ariadne sieht aus ihrem Fenster eine unbekannte Person im Palast. Diese wird daraufhin vom Hauptmann verfolgt, kann jedoch entkommen. Kurz darauf lässt Ariadne nach dem unbekannten suchen und ihn zu sich beordern. Als sie sich gegenüberstehen bestätigt sich Ariadnes Vermutung, dass es sich bei dem Unbekannten um Theseus handelt.

    Das Buch hat 90 Kapitel, deren Überschriften allein aus der Kapitelzahl bestehen. Ein neues Kapitel beginnt dabei immer direkt nach dem vorherigen, es wird also nicht immer eine neue Seite begonnen.
    Alle Charaktere, die einem im Buch erscheinen und uns die Story über begleiten werden gut in die Geschichte eingeführt und man erfährt auch einiges über ihre Biografie. Dies und die Tatsache, dass der Autor sehr detailreich und unverblümt das Leben der damaligen Zeit beschreibt, sorgen oftmals dafür, dass ich als Leser mitgelitten habe. Allein die Tatsache, dass die Gedanken der Charaktere nicht sonderlich vom Text abgehoben haben und sich genauso lesen wie wörtliche Rede, sind mir leicht negativ aufgefallen. Auch die 4 Zeichnungen, die der Leser im Buch vorfindet, sind mitten im Text platziert und stören leicht den Lesefluss. Die angesprochenen Zeichnungen verlaufen dabei stets über eine Doppelseite. Sie sind sehr detailreich gezeichnet und zeigen tolle Momentaufnahmen von damals. Von diesen Zeichnungen hätte ich gerne mehr gesehen.

    Cover: Das Cover ist fast ausschließlich in Rot gehalten, allein der Buchrücken ist Gelb. Auf der Vorderseite sehen wir im Hintergrund Zeichnungen, wie sie für die Zeit in der das Buch spielt, typisch waren. Mittig positioniert sehen wir außerdem ein Foto, welches die Überreste des Palastes zeigt. Damit nimmt es einen direkten Bezug zur Handlung auf. Der Titel steht in Weiß, genau unter diesem Foto.

    Fazit: Das Buch beschreibt den Mythos von Knossos und ist dabei wirklich gut zu lesen. Es handelt sich keinesfalls um einen trockenen Schmöker, sondern um ein wirklich gut geschriebenes Werk. Für all jene die sich für die Geschichte interessieren ist dieses Buch sicherlich ein Kauf wert, aber auch all jene, die mal etwas neues ausprobieren wollen, kommen hier sicherlich auf Ihre Kosten. Auch der Preis von 21,80 ist für dieses Buch völlig gerechtfertigt (Hardcover, Zeichnungen, ...).Von mir bekommt das Buch 5/5 Sterne.

    Klappentext: Aus der Sicht jugendlicher Helden beschreibt der weltberühmte griechische Schriftsteller Nikos Kazantzakis („Alexis Sorbas“) das Leben am Hofe des sagenhaften Königs Minos auf Kreta. Frisch und lebendig erzählt er von Ariadne und Phädra, von Theseus, Daidalos und Ikaros. Alle diese Gestalten der griechischen Mythologie werden bei ihm von Mythen zu Menschen. Ganz nebenbei arbeitet Kazantzakis das Alltagsleben plastisch heraus. Bei der Lektüre taucht man in eine 3500 Jahre alte Zivilisation ein, und diese geheimnisumwitterte Vergangenheit erscheint plötzlich wie zum Greifen nahe. Ein Werk, das an Aktualität niemals einbüßen wird. (Quelle: Verlag der Griechenland Zeitung)

    Autor: Nikos Kazantzakis
    Titel: Im Palast von Knossos
    Verlag: Verlag der Griechenland Zeitung
    Genre: Roman
    Seiten: 447
    Preis: 21,80
    ISBN: 978-3-99021-018-5

    http://wurm200.blogspot.de/

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Das britische Weihnachtsfest

Buchseite und Rezensionen zu 'Das britische Weihnachtsfest' von Sarah Sofia Granborg
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das britische Weihnachtsfest"

Das traditionelle britische Weihnachtsfest wird sowohl aus europäischer, als auch aus britischer Sicht geschildert.
Das Buch ist mit vielen Fotos sehr stimmungsvoll illustriert und enthält viele traditionelle Rezepte, die von Freunden und von Familienmitgliedern übernommen wurden. Darüber hinaus findet man die Texte der klassischen Weihnachtslieder, moderne und alte englischsprachige Gedichte und zwei Weihnachtsgeschichten (auf englisch und auf deutsch) in diesem umfassenden Hausbuch. Denn eins ist sicher – Weihnachten auf den britischen Inseln ist ganz anders als bei uns!

Format:Kindle Edition
Seiten:213
EAN:
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Rezensionen zu "Das britische Weihnachtsfest"

  1. 4
    09. Dez 2016 

    Very British

    Klappentext:
    Das traditionelle britische Weihnachtsfest wird sowohl aus europäischer, als auch aus britischer Sicht geschildert.
    Das Buch ist mit vielen Fotos sehr stimmungsvoll illustriert und enthält viele traditionelle Rezepte, die von Freunden und von Familienmitgliedern übernommen wurden. Darüber hinaus findet man die Texte der klassischen Weihnachtslieder, moderne und alte englischsprachige Gedichte und zwei Weihnachtsgeschichten (auf englisch und auf deutsch) in diesem umfassenden Hausbuch. Denn eins ist sicher – Weihnachten auf den britischen Inseln ist ganz anders als bei uns!

    Rezension:
    Die beiden Autorinnen stellen dem Leser die britische Weihnachtskultur in ihren unterschiedlichen Aspekten vor – mal ernsthaft und mal mit einem Augenzwinkern. Das reicht vom traditionellen Ablauf eines familiären Weihnachtsfestes über eine große Auswahl mehr oder weniger traditioneller Rezepte zur Weihnachtszeit bis hin zu Weihnachtsgedichten, -liedern und -geschichten. Auch wenn der Teil mit den Liedern und Gedichten nach meinem Geschmack etwas kürzer hätte ausfallen können, gewinnt man mit diesem eBüchlein doch einen Überblick über das britische Weihnachtsfest. Und vielleicht hat der ein oder andere ja auch Lust, die Rezepte mal auszuprobieren …

    Fazit:
    Wer sich für die britische Kultur interessiert, findet hier einen umfassenden Überblick über die dortigen Weihnachtsbräuche.

    Alle meine Rezensionen auch zentral im Eisenacher Rezi-Center: rezicenter.wordpress.com

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Höllensturz: Europa 1914 bis 1949

Buchseite und Rezensionen zu 'Höllensturz: Europa 1914 bis 1949' von Ian Kershaw
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Höllensturz: Europa 1914 bis 1949"

Europa am Abgrund


Das europäische zwanzigste Jahrhundert war geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Europa erlebte gewaltige Turbulenzen, die Hölle zweier Weltkriege in der ersten Jahrhunderthälfte und tiefgreifende Veränderungen.


Der britische Historiker Ian Kershaw erzählt in einem meisterhaften Panorama die Geschichte dieses Kontinents vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des beginnenden Kalten Kriegs Ende der vierziger Jahre, nachdem die europäische Zivilisation an den Rand der Selbstzerstörung gelangt war. Ethnische Auseinandersetzungen, aggressiver Nationalismus und Gebietsstreitigkeiten, Klassenkonflikte und die tiefe Krise des Kapitalismus waren die treibenden Kräfte, die Kershaw dabei besonders in den Blick nimmt. Neben den großen Entwicklungslinien in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft schildert er auch immer wieder Erlebnisse und Erfahrungen einzelner, die einen Eindruck geben vom Leben im Europa der ersten Jahrhunderthälfte.


Autor:
Format:Kindle Edition
Seiten:769
EAN:
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Rezensionen zu "Höllensturz: Europa 1914 bis 1949"

  1. Das beste Sachbuch dieser Richtung

    Klappentext
    Europa am Abgrund

    Das europäische zwanzigste Jahrhundert war geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Europa erlebte gewaltige Turbulenzen, die Hölle zweier Weltkriege in der ersten Jahrhunderthälfte und tiefgreifende Veränderungen.

    Der britische Historiker Ian Kershaw erzählt in einem meisterhaften Panorama die Geschichte dieses Kontinents vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des beginnenden Kalten Kriegs Ende der vierziger Jahre, nachdem die europäische Zivilisation an den Rand der Selbstzerstörung gelangt war. Ethnische Auseinandersetzungen, aggressiver Nationalismus und Gebietsstreitigkeiten, Klassenkonflikte und die tiefe Krise des Kapitalismus waren die treibenden Kräfte, die Kershaw dabei besonders in den Blick nimmt. Neben den großen Entwicklungslinien in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft schildert er auch immer wieder Erlebnisse und Erfahrungen einzelner, die einen Eindruck geben vom Leben im Europa der ersten Jahrhunderthälfte.

    Der Autor
    Ian Kershaw, geboren 1943, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Modern History an der University of Sheffield und zählt zu den bedeutendsten Historikern der Gegenwart. Seine große zweibändige Biographie Adolf Hitlers gilt als Meisterwerk der modernen Geschichtsschreibung.

    Meine Meinung

    Story
    Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Warum waren die Länder Europas so erpicht darauf in den Krieg zu ziehen. War das Attentat auf den österreichischen Thronfolger wirklich der Auslöser. Warum wurde Deutschland bestraft. Und was führte schließlich zum Zweiten Weltkrieg? Wie konnte die NSDAP an die Macht kommen? Und warum haben die anderen Länder nicht schon viel früher interveniert um den Krieg zu verhindern, wo schon bei Hitlers Machtübernahme die Zeichen auf Krieg standen? Der Renommierte englische Historiker, der schon mit seiner Hitler Biografie für Furore gesorgt hat, erklärt in diesem Werk die Ereignisse und gibt antworten auf diese und viele andere Fragen.

    Schreibstil
    Das Buch ist gut verständlich und man kommt trotz einiger Fremdwörter zu einem flüssigen Lesen. Kershaw hat das Buch chronologisch aufgebaut. Im Wechsel erklärt er die Situation in den einzelnen Ländern. Er schildert sehr aufschlussreich, wie die Menschen den Krieg erlebten und was er ihnen brachte, bez abverlangte.

    Ausstattung
    Das Buch enthält zwei Bildteile mit insgesamt 30 Abbildungen, dazu kommen mehrere politische Karten Europas zu den einzelnen Epochen. Ein über 30 Seiten langer Anhang mit ausgewählter Literatur, sowie ein Sach und Namensregister runden das 766 seitige Werk ab.

    Fazit

    Nehmen wir es vorweg, ich denke, dass Ian Kershaw wiedermal ein Buch geschrieben hat, das Maßstäbe setzten, könnte. Kershaw versteht es wie kein Zweiter die Ereignisse von 1914 bis 1949 dazustellen und dem Leser nahezubringen. Sehr ausgewogen erklärt er die jeweilige Situation in den Ländern Europas. Das Werk ist ein Sachbuch, bei dem es eine Freude ist, es zu lesen, ja Ian Kershaw versteht es sogar, eine gewisse Spannung reinzubringen. Im Gegensatz zu nahezu allen anderen Büchern über den ersten oder Zweiten Weltkrieg hört sein Werk nicht mit der Kapitulation Deutschland auf, sondern geht noch weiter und er erklärt, wie es nach den jeweiligen Kriegen weiterging. Sehr anschaulich vermittelt er ein Bild der jeweiligen Klassen. Das Buch ist der erste Teil einer zweibändigen Reihe und man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Meine Empfehlung wäre: Das Buch als Schulbuch rauszubringen der interessierte Schüler weiß nach Lektüre des Werks, was man über die Geschichte Europas wissen sollte. Das beste Sachbuch, das ich je gelesen habe.
    Ich vergebe volle fünf von fünf Leseratten/Sternen und eine absolute Leseempfehlung.
    Autor: Ian Kershaw

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