4. Leseabschnitt: Kapitel 12 bis Ende (Seite 210 bis 288)

alasca

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13. Juni 2022
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Ich bin einigermaßen erschlagen vom letzten Teil des Buches.

Der Schock der Brüder über Roses Doppelleben geht tief. So tief, dass sie beschließen, ein Buch über sie zu schreiben. Was mich dabei sehr berührt hat, ist ihr Beschluss, Rose nichts nachzutragen; sie verzeihen ihr und bemühen sich durch ihr Schreiben um posthumes Verständnis. Einblick in ihr Innenleben erhalten sie dabei von Maria, der sie sich offensichtlich anvertraut hat. Wie schlimm für sie, dass sie für dieses für die Zeit sehr mutige Werk keine Anerkennung, nur Schmähungen ernten!

Inwieweit Sulzer nur die Gérminie Lacerteux nacherzählt (wie das von @Die Häsin vermutet wird) oder ob er selbst den Stoff kreativ gestaltet hat, kann ich leider nicht beurteilen. Wenn ich diese Informationen nicht hätte, würde ich sagen, dass das Innenleben von Rose gut nachempfunden wurde. An der Stelle muss mich nicht interessieren, woher die Brüder ihre Informationen hatten. So geht es in einem Roman, man hat die Knochen oder einen Teil davon und fabuliert das Fleisch hinzu; mich hat es überzeugt.

Der Prozess des Sterbens von Jules war für mich absolut herzzerreißend beschrieben. Dergleichen habe ich noch nie gelesen. Man hört so Sachen wie "Beethoven ist ertaubt", "Nietzsche verfiel dem Wahnsinn" - das alles sind nur Beschönigungen für ein fortgeschrittenes Syphilisleiden, für einen grauenhaften, frühen Tod. Das war mir vor "Doppelleben" gar nicht klar. Entsetzlich ist das.

Entsetzlich auch die gesellschaftliche Kluft, die die Menschen so unglaublich limitiert hat. Aus unserer heutigen Sicht ist das kaum nachvollziehbar, wir denken alle in Mustern von "warum konnte sie nicht" und "er hätte doch". Ich finde, der Roman macht klar, dass das eben nicht ging. Sie konnte nicht und er hat nicht.

Eine unfassbar traurige Geschichte.
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Den letzten Abschnitt habe ich mit angehaltenem Atem geslesen. Ganz große Erzählkunst, wie Sulzer den langsamen Verfall und das Sterben von Jules beschreibt. Aber auch das Empfinden Edmonds ist unheimlich berührend.
Ich muss das Gelesene erstmal setzen lassen, um mehr darüber zu schreiben.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich bin eben fertig geworden und muss schleunigst nachtragen, dass meine kritischen Gedanken zum dritten LA gegenstandslos geworden sind. Wie die Brüder von Roses "Doppelleben" erfahren, ihr Erschrecken, ihre Nachdenklichkeit und die schlussendliche Entscheidung, ihr Leben und ihren Betrug zu schildern, dass erzählt Sulzer mit großartiger Einfühlsamkeit und innerer Logik.

Auch Jules' Verlöschen und Edmonds Trauer, der ungeheure Druck, der entsteht, wenn man den Sterbeprozess eines geliebten Menschen über so lange Zeit verfolgen muss, das Schwanken zwischen Wut, Angst und Zweifeln bis hin zu Tötungsplänen - da ist keine Nuance ausgelassen und kein Ton falsch gesetzt. Chapeau! Ich zieh den Zylinder.
 

RuLeka

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dass meine kritischen Gedanken zum dritten LA gegenstandslos geworden sind. Wie die Brüder von Roses "Doppelleben" erfahren, ihr Erschrecken, ihre Nachdenklichkeit und die schlussendliche Entscheidung, ihr Leben und ihren Betrug zu schildern, dass erzählt Sulzer mit großartiger Einfühlsamkeit und innerer Logik.
Das ist mir sehr wichtig, dass Du das so siehst. Ich fand den letzten LA auch so großartig und hoffte, dass sich Deine Kenntnisse von dem Roman der Goncourts nicht negativ auf das Buch von Sulzer auswirken.
Auch wie das langsame Sterben von Jules beschrieben wird, ist so stark. Absolut glaubwürdig, sehr berührend, ohne jegliche Rührseligkeit, das ist große Kunst.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Ich bin eben fertig geworden und muss schleunigst nachtragen, dass meine kritischen Gedanken zum dritten LA gegenstandslos geworden sind. Wie die Brüder von Roses "Doppelleben" erfahren, ihr Erschrecken, ihre Nachdenklichkeit und die schlussendliche Entscheidung, ihr Leben und ihren Betrug zu schildern, dass erzählt Sulzer mit großartiger Einfühlsamkeit und innerer Logik.

Auch Jules' Verlöschen und Edmonds Trauer, der ungeheure Druck, der entsteht, wenn man den Sterbeprozess eines geliebten Menschen über so lange Zeit verfolgen muss, das Schwanken zwischen Wut, Angst und Zweifeln bis hin zu Tötungsplänen - da ist keine Nuance ausgelassen und kein Ton falsch gesetzt. Chapeau! Ich zieh den Zylinder.
Ah, Langohr, ich bin erleichtert. Wir schwingen mal wieder gleich. Ich weiß das im Moment besonders zu schätzen;-)
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Mir ist das Dahinsiechen von Jules schon ein wenig laang vorgekommen. So ein klitzekleines bisschen hat es mich gelangweilt. Trotzdem großartige Szenen, die Szene mit der Pistole. Es ist furchtbar, derartige Krankheiten mitzuerleben. Hier endlich einmal kneift Edmond nicht, er beteiligt sich an der Krankenpflege und bleibt bis zum elenden Schluss.
Die elende Lücke. Deren Darstellung hat mich wiederum gefesselt.
Aber Edmond mag ich trotzdem nicht. Er ist im Grund kaltschnäuzig. Und Stand und Klasse hin und Stand und Klasse her, Franz von Assisi z.B. war doch ebenfalls aus reichem Haus, er konnte und er wollte etwas gegen das Elend tun! Andere mit ihm.
Die Szene mit dem Huhn macht das deutlich, letztlich geht es Edmond nur um einen, um Edmond. Und Jules war nicht anders gestrickt.
In dem ganzen Roman gibts nur Leute, die ich nicht leiden kann; abgesehen von dem Hund, der Rose nicht vergessen hat und ihre Hand anstupst, als sie ihrem Liebhaber mal wieder auflauert.
Wo mich die Brüder überzeugt haben, das ist, als sie die Schulden von Rose bezahlt haben.
Für ihre Zeit waren sie "gute Menschen", sie haben nie absichtlich was Böses getan; aber Gleichgültigkeit ist eben auch keine besonders rühmenswerte Charaktereigenschaft.

Dass Sulzer sich an (s)einer Vorlage bedient, finde ich nicht schlimm, diesen uralten Roman, wer kennt den schon - ausser der Häsin, die alles kennt.
Wiederum gefällt es mir, wie Sulzer die politische Lage miteinbezieht.
Ausnahmsweise einmal mochte ich die Danksagung.
 

Lesehorizont

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So, ich bin auch durch und war emotional sehr berührt, insbesondere von der Darstellung der Sterbeszene und Edmonts Gefühle dabei. Alles sehr eindrücklich und sprachlich brilliant verpackt.
Bei der Szene mit der Pistole stockte mir der Atem. Aber Edmont wollte es Jules wohl erleichtern. Wenn ich das richtig mitbekommen habe, hätte er sich danach selbst gerichtet.
Ja, es ist wohl hart am Sterbebett zu sitzen und hilflos den Verfall beobachten zu müssen. Ich habe das persönlich noch nie erlebt, aber man kann ja erahnen, wie Edmont sich fühlen muss.
Wie es zum Roman der Brüder kam, wissen wir nun auch. Gut gefallen hat mir, wie großherzig die Brüder Rose vergeben, obwohl sie allen Grund hätten, ihr zu grämen.
 

Wandablue

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Aber Edmont wollte es Jules wohl erleichtern. Wenn ich das richtig mitbekommen habe, hätte er sich danach selbst gerichtet.
Nein, sich wollte er es erleichtern. Dafür war er sogar bereit, zu sterben. Hätte er Jules was angetan, wäre ihm auch nichts anderes übriggeblieben, denn er war zu träge, um zu fliehen. Er wäre verhaftet und hingerichtet worden.
Dass er Jules Leiden lindern wollte, hm, ja, war ein Teil seiner Motivation, aber nicht die entscheidende.
 

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29. März 2022
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Wieso? Ja, sie hat geklaut. Aber sie hat ihnen auch gedient, ganz egal, wie es ihr gegangen ist. Rose hat sie zudem nie mit ihren persönlichen Belangen "belästigt". Ich sehe keinen großartigen Grund zum Verzeihen.
Das bezog sich insbesondere auf die Entwendung des Geldes. Da könnten sie schon ätherlich sein, aber es hat wohl nicht so geschmerzt. Ansonsten sehe ich das grundsätzlich ähnlich wie Du. Zumal Rose ja nicht wissen konnte, dass sie möglicherweise bei den Brüdern auf Verständnis gestoßen wäre.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
- ausser der Häsin, die alles kennt.
Ganz bestimmt nicht.
Zum Beispiel kenne ich sonst kein einziges Buch von Sulzer. :apenosee

Ich kenne mich in der franz. Literatur der Zeit ein wenig aus, in der Gegenwart dagegen umso weniger.

Für ihre Zeit waren sie "gute Menschen", sie haben nie absichtlich was Böses getan; aber Gleichgültigkeit ist eben auch keine besonders rühmenswerte Charaktereigenschaft.


Ich habe vorhin das Nachwort zu meiner Germinie-Ausgabe noch einmal überflogen, es stammt von Victor Klemperer. Darin zitiert er Emile Zolas "Verteidigung" des Germinie-Romans. Zola schreibt, dass es nun mal auf der einen Seite eine Bürgerklasse, auf der anderen Seite eine Arbeiterklasse gäbe, und "unserer heutigen heuchlerischen Zeit entspreche es, dass man nur die obere Schicht schildern dürfe, die andere aber nicht; denn sonst kämen gewisse Wahrheiten an den Tag, die dem Schlaf und der Verdauung unzuträglich seien." Die schamlose Ausnutzung gerade des Hauspersonals durch ihre Arbeitgeber hat Zola mehrfach thematisiert, wie da die Dienstmädchen bis zwei Uhr früh Gäste bedienen und vier Stunden später schon wieder Feuer im Herd gemacht haben sollen, und anderes mehr - noch weit Unappetitlicheres. Dafür gab es Verrisse und Häme ohne Ende, ganz ähnlich wie bei den jungen Impressionisten, die zu dieser Zeit auch mit ersten Werken hervortraten.

Vielleicht haben die Brüder Goncourt durch das Erlebnis mit ihrem Dienstmädchen vom Schicksal den A...tritt bekommen, den sie brauchten, um dieses Buch zu schreiben.
Allerdings ist es dann noch mal ein Unterschied, zu wissen, dass etwas falsch läuft, und im eigenen Leben die Konsequenzen zu ziehen. Ob sich die Goncourts nach diesem Erlebnis intensiver mit den Arbeitsbedingungen ihrer Dienstleute beschäftigt haben? Ich sehe dafür eigentlich keinen Hinweis. Und in gewisser Weise zeugt es ja auch wieder von Standesdünkel, das "Triebleben" eines Dienstmädchens zu beschreiben, als ob die Herrschaft sich grundsätzlich besser im Griff hätte.
 

alasca

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Und in gewisser Weise zeugt es ja auch wieder von Standesdünkel, das "Triebleben" eines Dienstmädchens zu beschreiben, als ob die Herrschaft sich grundsätzlich besser im Griff hätte.
In welcher Weise? Sie konnten schwerlich über Roses geistige Interessen schreiben. Glaubst du, es gab welche?
 
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alasca

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Wieso? Ja, sie hat geklaut. Aber sie hat ihnen auch gedient, ganz egal, wie es ihr gegangen ist. Rose hat sie zudem nie mit ihren persönlichen Belangen "belästigt". Ich sehe keinen großartigen Grund zum Verzeihen.
Sie waren extrem schockiert, dass sie ihre wahre Natur vor ihnen verborgen hat. Es hat sie zum Zweifeln an sich selbst gebracht.

Gleichgültigkeit zeigt sich eben NICHT darin, einen Roman über die Person zu schreiben, die einem gleichgültig ist. Schon gar nicht, wenn das Thema so gar nicht comme il faut ist.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
In welcher Weise? Sie konnten schwerlich über Roses geistige Interessen schreiben. Glaubst du, es gab welche?
Es ist eine typische Vorstellung der damaligen naturalistischen Literatur, dass Intellektuelle ihre Triebe quasi sublimieren und in fruchtbare Bahnen lenken können, während weniger vergeistigte Personen kein solches Ventil finden und deshalb wie rollige Katzen die nächtlichen Straßen durchwandern. Ob Rose geistige Interessen hatte, ist nicht der Punkt, um den es mir ging, sondern: ob eine Person, die geistige Interessen hat, eine Person des Bürgertums, sich so verhalten hätte.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Es ist eine typische Vorstellung der damaligen naturalistischen Literatur, dass Intellektuelle ihre Triebe quasi sublimieren und in fruchtbare Bahnen lenken können, während weniger vergeistigte Personen kein solches Ventil finden und deshalb wie rollige Katzen die nächtlichen Straßen durchwandern. Ob Rose geistige Interessen hatte, ist nicht der Punkt, um den es mir ging, sondern: ob eine Person, die geistige Interessen hat, eine Person des Bürgertums, sich so verhalten hätte.
Du meinst, sie dachten, ein Intellektueller würde sich so nicht verhalten? Hierauf finde ich bei Sulzer keinen Hinweis. Wie es in "Germinie" ist, weiß ich natürlich nicht. Mir kommt das ein wenig spekulativ vor.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Franz von Assisi z.B. war doch ebenfalls aus reichem Haus, er konnte und er wollte etwas gegen das Elend tun! Andere mit ihm.
Wer ist schon ein Heiliger?
Nein, sich wollte er es erleichtern
Beiden. Dem liebsten Menschen beim Sterben zuzusehen und dabei nicht zu leiden und sich nicht zu wünschen, es wäre für beide vorbei, wäre übermenschlich oder unmenschlich.
Sie waren extrem schockiert, dass sie ihre wahre Natur vor ihnen verborgen hat. Es hat sie zum Zweifeln an sich selbst gebracht
Das hat ihnen tatsächlich schwer zu schaffen gemacht. Sie, die mit ihren Tagebüchern die menschliche Natur als Objekt ihres Schreibens ausgemacht hatten, waren so leicht zu täuschen gewesen. Die Tatsache, dass Rose ein Doppelleben führen konnte, ohne dass sie was bemerkten, schuf mehr als Zweifel an ihrer Beibachtungsgabe.
 

Wandablue

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Sie waren extrem schockiert, dass sie ihre wahre Natur vor ihnen verborgen hat. Es hat sie zum Zweifeln an sich selbst gebracht.

Gleichgültigkeit zeigt sich eben NICHT darin, einen Roman über die Person zu schreiben, die einem gleichgültig ist. Schon gar nicht, wenn das Thema so gar nicht comme il faut ist.
Hm, wie du schon sagst: sie mussten unbedingt diesen Roman schreiben, um zu zeigen, dass sie die menschliche Natur eben doch kennen, sozusagen um sich zu rehabilitieren. Sie haben diesen Roman sich selber geschuldet. Aber - klar, sie waren ja keine Lumpen und haben damit auch etwas gewagt, wahrscheinlich wussten sie das. Allein die Szene, als sie Mathilde daraus vorlasen ... da hätte ich dabei sein mögen.