Rezension (3/5*) zu Ich und Jimmy von Clarice Lispector

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ich und Jimmy von Clarice Lispector
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Fantastisch-realistisch und verwirrend

In dem Erzählband „Ich und Jimmy" hat sich der Manesse Verlag das Werk der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector (*1920 in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik; † 1977 in Brasilien) vorgenommen. Anhand von 30 Stories, die Teil des Gesamtwerkes von Lispector sind, macht sich der Leser ein Bild von der Persönlichkeit einer eigenwilligen Schriftstellerin, die von Manesse als Kult-Autorin bezeichnet wird. Schriftstellerischen Einheitsbrei konnte man Lispector ganz sicher nicht vorwerfen. Dafür sind ihre Stories zu unterschiedlich. Sie erzählt Geschichten von „Armut, Krankheit, Verlust und Tod“*, von „Reichtum, Glück, Verliebtsein, Liebe und Sex“*. Gegensätze treffen aufeinander: „Frauen treffen Männer, Alte treffen Junge, Arme treffen Reich“* etc. etc. etc. (*aus dem Nachwort von Teresa Präauer)
Doch eines haben diese Geschichten gemeinsam: die Verwirrung, die sie in mir, der Leserin, auslösen; einer Verwirrung, häufig gepaart mit Unverständnis.

Dabei war ich stets bemüht, unvoreingenommen an Lispectors Kurzprosa heranzugehen, was mir zugegebenermaßen mit jeder weiteren Geschichte, die ich nicht verstand, schwerer gefallen ist. Hoffnungsschimmer gab es bei den Erzählungen, die handlungsorientiert waren, also Geschichten nahe an der Realität und bei denen ein roter Handlungsfaden zu erkennen war. Diese Geschichten waren leider in der Minderzahl. Einen großen Anteil an diesem Erzählband haben hingegen kafkaeske Geschichten, die wenig mit der Realität zu tun haben – Teresa Präauer verwendet in ihrem Nachwort den Begriff „fantastisch-realistisch“. Hier werden Interpretationsfähigkeiten eingefordert, mit denen ich nicht dienen kann. Dafür fehlt mir der literaturwissenschaftliche Hintergrund.

Clarice Lispector galt als Feministin. Demzufolge stehen Frauen im Zentrum ihrer Geschichten, Frauen in unterschiedlichen Altersklassen vom Kind bis zur betagten Seniorin. Die Autorin prangert mit ihren Geschichten das Rollenverständnis ihrer Zeit an. (Soviel habe ich zumindest verstanden.) Zum Teil sind ihre Geschichten sehr persönlich, weil Lispector darin ihre eigenen Lebenserfahrungen verarbeitet, genauso wie man vielen
Geschichten Lispectors Depressionserkrankung anmerkt.

Tatsächlich festigte sich bei mir mit jeder gelesenen Seite dieses Buches der Eindruck, dass es mit dieser Sammlung an Erzählungen nicht um die Geschichten an sich geht, sondern um die Person Clarice Lispector. Damit will ich ausdrücken, dass ich zwar selten bis gar nicht den tieferen Sinn einer Erzählung verstanden habe, doch dass sich nach und nach vor meinen Augen das Bild einer sehr eigenwilligen Autorin entwickelte, die in Brasilien gefeiert wurde. Gemessen an den Schwierigkeiten, die ich mit ihren Geschichten hatte, hat sie ihre Berühmtheit daher meines Erachtens nicht ihrer schriftstellerischen Brillanz zu verdanken, sondern eher dem Mythos um ihre Persönlichkeit, den man aus ihren Geschichten herausliest und der durch weitere Faktoren begünstigt wird, bspw. ihrem ungewöhnlichen und klangvollen Name.
Anhand der Geschichten, die ich gelesen habe, dichte ich ihr folgende Eigenschaften an: exzentrisch, depressiv, verschlossen, manchmal arrogant, sensibel, emanzipiert, divenhaft, geheimnisvoll. Ich kann nicht anders, aber ich muss bei Clarice Lispector immer an die Gruppe der schreibenden Existentialisten denken, wobei deren Philosophie nur wenig mit Lispector zu tun hat (soweit ich ihre Geschichten verstehe). Ich sehe also Leute wie Camus, Sartre und Simone de Beauvoir vor mir - alle schwarz gekleidet, mit einem düsteren Blick auf das Leben und mittendrin Clarice Lispector. Wenn nicht nur ich dieses Bild der Autorin vor Augen habe, wundert mich nicht, dass die Literaturwelt ihre Geschichten in den Himmel hebt. Manesse hat daher nicht die Geschichten verlegt, sondern das Gesamtpaket „Clarice Lispector und ihr Mythos“. Und das ist dem Verlag gut gelungen, unterstützt durch die wunderschöne Gestaltung des Buches sowie einem handlichen Buchformat, das man einfach lieben muss.
Und sind wir mal ehrlich: viele Klassiker "leben" von dem Mythos ihrer Autoren. Ein Roman (nach heutigen Maßstäben) erhält durch das Prädikat "Klassiker" bereits Vorschusslorbeeren, noch bevor man ihn gelesen hat und egal, wie gut oder schlecht er nach modernen Maßstäben ist.
Sind die Geschichten von Clarice Lispector jetzt schlecht? Spontan waren viele schlecht, weil ich sie einfach nicht verstanden habe bzw. mit manchem kafkaesken Moment nichts anfangen konnte. Hätte ich während der Lektüre Interpretationshilfen zur Hand gehabt oder Erläuterungen zu den einzelnen Geschichten, hätte ich mir vermutlich ein qualifizierteres Urteil bilden können. Dennoch gab es Geschichten, die ich gern und mit Interesse gelesen habe. Dies waren durch die Bank weg jene Stories, welche einen nachvollziehbaren Handlungsfaden hatten und nah an der Realität waren.
Unterm Strich wird mir Clarice Lispector als Erzählerin schräger und kafkaesker Geschichten in Erinnerung bleiben, wohingegen ihre Geschichten bei mir schnell in Vergessenheit geraten werden. Eine interessante Leseerfahrung!

© Renie


von: Stefanie vor Schulte
von: János Székely
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