Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann

Buchseite und Rezensionen zu 'Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann' von János Székely
3.9
3.9 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann"

Während im Sommer 1944 deutsche Soldaten ungarische Dörfer plündern, stellen sich die Bauern in Kákásd immer noch dieselbe Frage wie vor 700 Jahren: Wie sollen sie leben von dem Lohn, den sie vom Grafen erhalten? Ein Streik könnte alles ändern. Doch in einer Zeit, in der ein Menschenleben billig und Weizen teuer ist, stehen die Chancen auf Erfolg schlecht. Ein junges Liebespaar auf der Flucht und ein Bauer bringen jedoch etwas ins Rollen, und das Leben im Dorf gerät aus den Fugen. Dieser Roman eines der größten ungarischen Romanciers war jahrzehntelang verschollen und erscheint hier zum allerersten Mal.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:608
Verlag: Diogenes
EAN:9783257072365

Rezensionen zu "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann"

  1. Im Schatten des großen Erfolgromans

    Im Jahr 2007 wurde ich durch das Literarische Quartett, damals noch mit Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, auf den Roman "Verlockung" von János Székely aufmerksam. Ich las den über 800seitigen Wälzer innerhalb kürzester Zeit und war von der geschilderten Armut derart ergriffen, dass ich die Lektüre nicht durch Essen zu unterbrechen wagte. Das Buch hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Wie immer in einem solchen Fall, war die Erwartungshaltung entsprechend hoch, als ich erfuhr, dass 16 Jahre später endlich ein neuer opulenter Roman des Autoren erscheinen würde: "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann".

    Thematisch versetzt uns der Roman in das Jahr 1944 zur Zeit, als der zweite Weltkrieg sich dem Ende nahte. Man spürt die bedrohliche Stimmung, die von den Deutschen ausgeht. Nicht nur Antisemititsmus ist allenorts spürbar, weniger bekannt: auch die Sinti und Roma wurden verfolgt und waren insbesondere zu Ende des 2. Weltkrieges zahlreich Opfer der deutschen Vernichtungsmaschinerie. Die junge Julka hat bereits ihre Eltern verloren. Gemeinsam mit Marci konnte sie einem Todeskonvoi entfliehen. Marci hatte lange Zeit gedacht, als Musiker sei er "sicher"- Das Schicksal fühert Marci und Julka zusammen; sie werden ein Paar. Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt: So suchen sie einen sicheren Unterschlupf, werden aber ausgerechnet auch von ebenfalls verfolgten Juden zurückgewiesen. Julka findet schließlich Unterschlupf beim Bauern Garas und bezahlt quasi mit ihrem Körper. Sie bringt auch Marci heimlich dort unter. Es beginnt eine Dreiecksbeziehung, die einen sehr breiten Raum einnimmt im Roman.

    Währenddessen lesen wir über die Unterdrückung und Ausbeutung der Bauern, die in absoluter Armut leben. Sie proben den Aufstand, wollen mehr und gerechteren Lohn. Sie ermutigen sich gegenseitig, in dem sie die Geschichte des Dani Kuruc verbreiten, der einst den Mut hatte, Adligen die Stirn zu bieten. Das wollen sie nun auch und den Grafen und die von ihm zu verantwortenden Ungerechtigkeiten "bezwingen". All dies wird sehr eindrücklich geschildert. Székely kann schreiben und erzeugt eindrucksvolle Bilder.

    Székely schildert die Wirklichkeit in allen Facetten, beschönigt nichts. Gerade der letzte Abschnitt hat mich sehr gepackt, wo das zentrale Motiv des Romans meines Erachtens sehr gut heraus gearbeitet wird. Dennoch muss ich sagen: Der Roman hat Längen. Gelangweilt habe ich mich zwar zu keinem Zeitpunkt, Manches hätte aber durchaus gekürzt werden können, insbesondere ausufernde und ständig wiederkehrende Sexszenen. Székely hat die Veröffentlichung des Romans nicht mehr erlebt. Vielleicht hat er das Manuskript bewusst zurück gehalten? Wir werden es nie erfahren. Nichtsdestotrotz betrachte ich die Veröffentlichung des Romans als Gewinn. Ich habe wieder sehr viel über die ungarischen Verhältnisse und die Geschichte Ungarns gelernt und bin dem Geschehen gerne gefolgt. Nicht ganz so erschütternd wie "Verlockung", dennoch für mich aber ein sehr interessanter Roman, der Székelys schriftstellerisches Können erneut unter Beweis stellt.

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  1. Ambivalentes Lesevergnügen

    János Székely schreibt in seinem mehr als 70 Jahre verschollenen Roman „Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“ über die Ausbeutung und Unterdrückung der einfachen Landbevölkerung durch Adelige, aber auch durch die deutsche Besatzungsmacht. Sein Blick richtet sich dabei auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen bzw. Einzelpersonen eines fiktiven, ungarischen Dorfes im Sommer 1944. Er schreibt über faschistische Pfeilkreuzler, marodierende Wehrmachtsoldaten, allgegenwärtigen Hunger, die Unzufriedenheit der Bauern und zeigt die Auswirkungen von alltäglichem Antisemitismus und Antiziganismus. Die noch nicht 20-jährige Julka, die vermutlich zur Gruppe der Lowara gehört, hat ihre Familie verloren. Auf einem Todesmarsch ins Konzentrationslager trifft sie auf den ebenfalls gefangen genommenen Geiger-Prímás Marci, der lange Zeit dachte, seine Stellung als Musiker in einem Bordell, das von zahlreichen Besatzern gut besucht wird, würde ihn vor einer Deportation schützen. Julka und Marci gelingt die Flucht. Sie werden ein Paar und finden Unterschlupf auf einem etwas abseits gelegenen Hof bei dem verwitweten Bauern Garas, dem Julka zunächst ihren Körper und ihre Wahrsagekunst zum Tausch gegen eine geschützte Bleibe anbietet. Marci stellt sie als ihren Bruder vor. Schon bald entwickelt sich eine tiefere Zuneigung und Liebesbeziehung zwischen Julka und Garas, aber auch Marci bleibt Julkas Liebhaber.

    Ein Erntestreik der Bauern liegt in der Luft. Sie wollen den Grafen zwingen, mehr als den üblichen Hungerlohn zu zahlen. Die Bauern führen hitzige Debatten über dieses Thema, besteht doch die Angst, der Graf würde sich ein solches Verhalten nicht gefallen lassen, ein Exempel statuieren und das gesamte Dorf dem Erdboden gleichmachen. Immer wieder erzählt man sich die Heldengeschichten eines Dani Kuruc, der den Adeligen einst die Stirn bot. Diese Figur geistert regelrecht durch die Geschichte und immer wieder behauptet jemand, kürzlich Dani Kuruc gesehen oder sogar mit ihm gesprochen zu haben.

    Ich mag Székelys Art des ausschweifenden, bildhaften, warmherzigen Erzählens, die trotz der Fülle des Personals niemals unübersichtlich wird und einen beim Lesen sofort in eine andere Zeit und Umgebung katapultiert. Der Autor zeigt dabei eine große Empathie für die einfachen Leute und Personen am Rande der Gesellschaft.

    „Verlockung“ und „Der arme Swoboda“ habe ich einst mit Begeisterung gelesen.

    Bei „Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“ war ich mir zunächst sicher, erneut einen herausragenden Roman vor mir zu haben, der mit großer Erzählfreude in längst vergangene Zeiten eintauchen lässt.

    Leider verliert sich Székely plötzlich über viele Seiten in endlosen Beschreibungen von Sexszenen und stellt die dramatischen Befindlichkeiten des sexsüchtigen Frauenhelden Marci, seine Verstrickungen mit Julka und anderen Frauen in den Mittelpunkt seines Interesses. Dadurch geht die für Székely so typische vielseitige Erzählweise verloren. Über mehrere hundert Seiten langweilte mich der Roman, bevor er im letzten Drittel wieder fast zu seiner anfänglichen Stärke zurückfand.

    Ob Székely den Roman zu seinen Lebzeiten genauso veröffentlicht hätte, können wir wohl nie wissen. Verständlich, dass der Verlag das Manuskript, das übrigens nur in einer englischen Übersetzung vorliegt, nicht ohne Zustimmung des Autors ändern wollte. Kürzungen hätten dem Roman gut getan. Ulrich Blumenbach hat den mehr als 700 Seiten starken Roman ins Deutsche übersetzt.

    Sehr interessant sind die beiden Nachworte, die getrost vorab gelesen werden können. Informationen zum Autor und die Entdeckungsgeschichte des Manuskripts helfen, die Entstehungsgeschichte sowie die Umstände der Publikation zu verstehen. Hinweise zur Übersetzung bzw. Sprache sowie ein umfangreiches Personenverzeichnis runden diese Ausgabe ab.

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  1. Eine lange Nacht voller Politik und Sex

    János Székely zeigt in „Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“, dass er viel von Erzählkunst versteht. Von Beginn an war ich von der mäandernden Erzählweise des Romans gefesselt, davon wie die Geschichte von einer Figur zu anderen, von der Gegenwart des Romans in die Vergangenheit und wieder zurückgleitet. Dabei verliert der Text nie seinen roten Faden, nie ist man zwischen all den Figuren und Seitensträngen verloren, denn alles läuft auf die Nacht zu, die eben vor 700 Jahren begann. Diese Art des entspannten, üppigen und detaillierten Erzählens hat mir sehr gut gefallen, auch weil es dem Roman einen ganz altmodischen, leider heute nicht mehr oft anzutreffenden Ton verleiht. Der Aufbau und der Erzählfluss haben mich überzeugt, auch wenn der Roman mit zunehmendem Verlauf an Langatmigkeit und leider mitunter auch an Langeweile krankt, weil er sich passagenweise doch viel zu viel Zeit lässt und Bekanntes gern wiederholt. An diesen Stellen merkt man ganz deutlich, dass dem Manuskript eine Überarbeitung durch den Autor gutgetan hätte – ein Umstand, zu dem es wohl nicht kam, denn der Text ist ein erst kürzlich wiederaufgetauchtes Fundstück.

    Mehr als die Längen hat mich jedoch immer wieder die Figurenkonzeption und vor allem im letzten Drittel die Behandlung der Figuren durch den Erzähler gestört. So sind die Figuren mitunter recht eindimensional. Ein Beispiel hierfür mag der sexbesessene Marci sein, der sich ausgiebig mit seiner Freundin Julka erotischen Freuden widmet. Die gemeinsame Zeit der beiden wird ebenso ausufernd detailliert geschildert wie die sexuelle Vergangenheit und „Bildung“ der beiden. Sicherlich: Sex sells, aber in einem Roman dieser Güteklasse wäre etwas weniger „Fifty Shades“ schon angebracht gewesen. Hat man zu Beginn der Lektüre noch den Eindruck, dass die sexuellen Eskapaden etwas zur Figurenzeichnung beitragen, verkommen die Intermezzi bald doch zu ziemlichen Schaumomenten. Das hat Literatur nicht nötig, vor allem weil in diesem Fall dadurch eine starke Disbalance entsteht, denn die zahlreichen Seiten, die sich mit Sex beschäftigen, werden von langen Passagen abgelöst, in denen es sehr theoretisch um Politik und Ideologie geht. Eine bessere Kombination dieser beiden großen Themenkomplexe hätte den Roman sicherlich bereichert. Gerade in den politischen Teilen entsteht zudem der Eindruck, dass der Erzähler die Figuren nicht so recht ernst nimmt, sie mit leichter Überheblichkeit ironisch betrachtet. Es ist natürlich Geschmackssache, aber mir gefällt diese Haltung nur in den wenigsten Fällen.

    Ein großer Pluspunkt des Romans ist der Blick, den er dem Leser auf die ungarische Geschichte gewährt. Am Beispiel eines kleinen Dorfes wird hier das große Panorama der ungarischen Vergangenheit und seiner Klassen aufgemacht. Kulturell, politisch und geschichtlich ist der Roman in dieser Hinsicht sehr informativ und lehrreich, auch wenn die Fülle der Bezüge kaum dauerhaft abzuspeichern ist.

    „Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“ ist ein sehr gut konstruierter Roman mit einem anfangs unwiderstehlichen Erzählfluss, der aber leider immer wieder ins Stocken gerät. Leider versteht der Text es nicht, die Harmonie zwischen seinen beiden Hauptthemen zu halten. Für mich ist das Buch aufgrund der genannten Schwächen keine unbedingte Leseempfehlung, aufgrund der Länge und Detailliertheit aber vielleicht immerhin noch ein Geheimtipp für Leser, die sich für Ungarns Geschichte interessieren.

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  1. 4
    31. Mai 2023 

    Opulentes Gesellschaftspanorama

    Von Janos Szekely kannte ich bisher zwei Romane, mehr hatte er nicht veröffentlicht. Zum einen sein großartiges Werk „ Verlockung“ und die schmale Parabel „ Der arme Swoboda“ , das ich auch gerne gelesen habe. Und nun ist ein weiteres Buch von ihm erschienen „ Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“. Dass es dazu kommen konnte, ist einem Zufallsfund zu verdanken. Ein alter Freund der Familie fand im Jahr 2020 das siebenhundertseitige Manuskript auf dem Dachboden seines Hauses in Cape Cod, schickte dies zur einzigen Tochter des Autors in die Schweiz und die nahm Kontakt auf zum Diogenes Verlag.
    Die Entdeckung des Romans ist beinahe so aufregend wie das Leben von Janos Szekely. 1901 in Budapest geboren, floh er mit 18 Jahren vor dem Horthy- Regime nach Berlin. Dort und in Hollywood arbeitete er als Drehbuchautor, bis er 1935 nach Ungarn zurückkehrte. 1938 wanderte Szekely in die USA aus und wurde ein sehr erfolgreicher Drehbuchautor. In der McCarthy- Ära verließ er das Land wieder, lebte einige Jahre in Mexiko, bis er 1957 ein Angebot der DEFA annahm und nach Ostberlin zog. Dort starb er ein Jahr später, mit nur 57 Jahren.
    Nun aber zum vorliegenden Roman:
    Schauplatz des Geschehens ist das fiktive ungarische Dorf Kaskad im heißen Sommer 1944. Die deutsche Besatzung herrscht mit gnadenloser Härte, während die Rote Armee immer näher rückt,
    Hier treffen die drei Hauptfiguren des Romans aufeinander. Die beiden „ Zigeuner“ Julka und Marci und der Bauer Janos Garas. ( Im editorischen Nachwort wird erklärt, warum man sich für diesen heute nicht mehr gebräuchlichen Begriff entschieden hat.) Julka ist eine junge hübsche Frau, die sich ihren Lebensunterhalt mit Wahrsagen und sexuellen Gefälligkeiten verdient. Sie gehört zur Gruppe der sog. „ Wanderzigeuner“. Besser getroffen hat es Marci, der ein festes Einkommen als erster Geiger einer Musikkapelle hat. Doch das hilft ihm nicht, auch er soll, wie Julka, in ein Konzentrationslager deportiert werden. Bei ihrer Flucht aus dem Todeskonvoi lernen sie sich kennen und finden Unterschlupf auf dem abgelegenen Hof des älteren Kleinbauern Garas.
    Der hat gerade genug eigene Sorgen, denn die Bauern im Dorf wollen sich endlich auflehnen gegen die jahrhundertelange Ausbeutung durch den Grafen. Ihnen bleibt kaum genug zum Essen, der größte Anteil ihrer Ernte geht wie seit alters her an die Herrschaft im Schloss. Ein Streik soll dem ein Ende setzen.
    Rund um diese drei Figuren und den Konflikt der Bauern entwirft Szekely ein breites Panorama der ungarischen Provinz. Er lässt dazu eine Menge an Nebenfiguren auftreten ( sehr hilfreich ist das Personenverzeichnis hinten im Buch ), gibt jeder eine eigene Biographie und bildet so die verschiedensten Gesellschaftsschichten ab. Wir erfahren nicht nur vom Leben der Zigeuner und Bauern, sondern auch vom Schicksal der jüdischen Familien im Ort. Der Graf Tamas hat ebenso seine Auftritte wie Papa Kantor, der zwischen dem Grafen und dem Bauern vermitteln soll. Auch lässt Szekely den stellvertretenden Minister und Massenmörder Baranky und seine lasterhafte Frau Nusi zu Wort kommen.
    Dabei ist der Autor immer ganz nah an seinen Figuren, beschreibt sehr anschaulich ihre Lebensbedingungen, sowie ihre Gefühls- und Gedankenwelt.
    Das ist einerseits interessant und spannend und gibt einen tiefen Einblick in diese Zeit. Exkurse in die Historie vertiefen das Verständnis des Lesers.
    Doch das alles führt zu Längen, zu unnötigen Wiederholungen und Redundanzen. Hier hätte man unbedingt Streichungen vornehmen müssen, manches hätte überarbeitet gehört. Auch die detailliert beschriebene Sexbessenheit Marcis wäre verzichtbar gewesen.
    Dagegen habe ich die politischen und philosophischen Streitgespräche sehr gerne gelesen.
    Das Ende ist filmreif ( wie eigentlich der ganze Roman ). Szekely lässt alles auf die entscheidende Nacht hinauslaufen. Hier kreuzen sich schicksalhaft die Wege beinahe aller Beteiligten.
    Auch wenn der vorliegende Roman bei weitem nicht an „ Verlockung“ heranreicht, so beweist er doch Szekelys erzählerische Kraft.

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  1. „Die Moral ist in jedem Zeitalter das, ...

    ... was der herrschenden Klasse nutzt"

    Romane über Dachbodenfunde anlässlich der Auflösung elterlicher oder großelterlicher Häuser gehören nicht zu meinen bevorzugten Lektüren, allzu abgedroschen ist das Thema inzwischen. Ist die Entdeckung jedoch der Roman selbst, wie bei dem 70 Jahre lang verschollenen Manuskript "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann" des Ungarn János Székely (1901 – 1958), wird es richtig spannend. Er verließ sein Heimatland 1918 auf der Flucht vor dem Weißen Terror des Horthy-Regimes, arbeitete erfolgreich als Drehbuchautor in Berlin, emigrierte 1938 nach Hollywood, erhielt 1940 einen Oscar, veröffentlichte 1946 seinen bekanntesten Roman "Verlockung" und ging während der McCarthy-Ära wie viele Kunstschaffende ins mexikanische Exil. Dort entstand höchstwahrscheinlich das Manuskript, dessen englische Fassung der Übersetzer und Autor Tony Kahn 2020 auf seinem Dachboden in Truro, Cape Cod, fand und Székelys Tochter Katherine Frohriep übergab. Nun ist es erstmals im Diogenes Verlag auf Deutsch erschienen, mit reichem Anhang und als Übersetzung der englischen Übersetzung, denn das ungarische Original ist weiterhin verschollen.

    Götterdämmerung
    Der Romans spielt hauptsächlich in einer heißen Sommernacht 1944, als die Ungarn, je nach Gesinnung, die endgültige Niederlage der deutschen Wehrmacht herbeisehnten oder fürchteten. Ergänzend gibt es ausführliche Rückblenden und einen kurzen Epilog über das weitere Schicksal der wichtigsten Personen.

    Ein Bogen über sieben Jahrhunderte
    1944 geht es dem bäuerlichen Stand genauso schlecht wie seit 700 Jahren, die Herren wechselten, nicht jedoch die elenden Bedingungen. Im fiktiven Dorf Kákásd gewährt der wortkarge Bauer János Garas zwei Zigeunern – die editorische Notiz erklärt die ausnahmsweise Verwendung dieses Begriffs – Unterschlupf vor den Nazi-Schergen und ihren ungarischen Handlangern. Die aufgeweckte junge Wanderzigeunerin Julka, mangels Alternativen zum Wahrsagen und zur Prostitution verdammt, und der eitel-überhebliche Zigeuner-Primas Marci Balogh VI lernten sich bei der Flucht aus einem KZ-Deportationszug kennen. Sie stellen sich Garas als Geschwister vor, Julka lebt fortan bei ihm im Haus und bezahlt dafür mit ihrem Körper, Marci, rasend verliebt, findet sich im Stall wieder, bis Garas ihm eine Stelle als Geiger im Bordell vermittelt. Während sich im Dreiecksverhältnis unter Garas‘ Dach die Vorzeichen allmählich ändern, zittert die unter dem Schutz des dekadenten, nur noch als Verwalter im ehemals familieneigenen Schloss beschäftigten Grafen Tamás Boncza stehende jüdische Familie Stern/Rosenberg um ihr Leben, beginnt Marci eine gefährliche Affäre mit Nusi, der Frau des neuen Schloss-Pächters, dem Nazi-Massenmörder und Vize-Minister Lóránt Barankay und planen die Bauern, getrieben von jungen Kriegsrückkehrern, den ersten Streik seit 700 Jahren:

    "Man hatte ihnen befohlen, Menschen zu ermorden, die ihnen nichts getan hatten, sodass sich jetzt ihre Mordlust gegen die wandte, die ihnen jahrhundertelang nichts als Leid angetan hatten." (S. 276)

    Die Welt verstehen
    János Székelys "Verlockung" gehört für mich zu den ganz großen, unvergesslichen Romanen der Weltliteratur. "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann" reicht nicht ganz an dieses frühere Werk heran, fehlt ihm doch merklich ein Lektorat. Viel zu lang und quälend detailliert sind für mich die Kapitel über die Sexbesessenheit Marcis im ersten Teil und auch der interessante politische Diskurs in der zweiten Hälfte hätte von einer Straffung profitiert. Trotzdem ist auch dieser Roman unbedingt lesenswert. Er strahlt durch seine vielen Einzelschicksale und zeigt am Mikrokosmos eines Dorfes das Schicksal Europas:

    "[…] du kannst die Welt nicht verstehen, wenn du Kákásd nicht verstehst." (S. 438)

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  1. 4
    23. Mai 2023 

    Eine nicht enden wollende Geschichte des Oben und Unten

    Janos Szekelys Roman „Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“ ist ein Roman mit einer besonderen Veröffentlichungsgeschichte. Es ist ein Roman, der im Original nicht existiert bzw. nicht aufzufinden ist. Nach Jahrzehnten des Verschwunden Seins, tauchte auf dem Dachboden einer Enkelin ein englisches Manuskript von etwas auf, das wohl auf ein ungarisches Original des Großvaters zurückzuführen ist. Doch dieses Original konnte auch nach intensiver Suche nicht gefunden werden. Was also machen mit diesem Manuskript – in der Vergessenheit belassen, oder es – trotz fehlender Basis - in das Licht der Öffentlichkeit holen? Diese Frage stellte sich dem Diogenes-Verlag, der die Rechte am Werk Szekelys hält und der die Frage letztlich mit der Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung der vermutlichen englischen Übersetzung eindeutig beantwortet hat.
    Der Roman führt uns in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts in die ungarische Provinz, die von deutschen Truppen besetzt ist und in der das deutsche Terrorregime gegen verschiedene gesellschaftliche Gruppen – insbesondere Juden und Zigeuner – seine blutigen Spuren hinterlässt. Hier richtet Szekely den Blick auf zwei „Zigeuner“, die sich deutlich voneinander unterscheiden, die aber doch als Paar zusammenkommen und versuchen, in diesen grausamen Zeiten irgendwo unterzukommen und zu überleben. Es handelt sich um die „Wanderzigeunerin“ Julka, die wohl der unterst möglichen Gesellschaftsschicht angehört und auf keinerlei Unterstützung anderer Menschen hoffen darf, und um einen stärker etablierten „Zigeuner“ Marci, der durch seine Musik einen eingeschränkten Zugang zu mehr Freiheit und Beziehungen zu anderen Menschen der Gesellschaft hat. Doch beide landen irgendwann in einem Todestransport der Nazis, die sie auf den Weg in ein Vernichtungslager schicken. Mit viel Glück und Zufall können sie entkommen und verstecken sich fortan in dem kleinen Dorf Káskásd, wo sie dem weiteren Verlauf der Geschichte weitestgehend hilflos ausgesetzt sind. Denn – ob unter deutscher Besatzung oder nicht – das ewige Oben und Unten spült sie immer wieder in die Gossen der Geschichte und Gesellschaft. Der Samen des Widerstandes gegen die ungerechte, benachteiligte Lebensweise der unteren Gesellschaftsschichten war immer da, ist immer da und wird vermutlich immer da sein, hat aber seit – so das Buch mit seinem Titel und verschiedenen Ausführungen im Text – 700 Jahren nicht zu einem Erfolg d.h. zu einer Veränderung führen können. Wer oben ist, bleibt oben. Wer unten ist, bleibt unten! In dem Buch wird diese fatalistische Sichtweise aus vielerlei Perspektiven beleuchtet, ausgeführt und untermauert. Dabei stellten sich mir als Leser immer wieder zwei Fragen:
    - Was war vor 700 Jahren, was diese Konstellation gestartet hat?
    - Was steht am Ende des Buches? Wird es enden? Wird die Nacht vorbei sein?
    Die Frage 1 beantwortet das Buch leider nicht. Die Frage 2 habe ich so gelesen, dass es auch nach 700 Jahren nicht endet, sondern weitergehen wird.
    Das Buch hat mich aus zwei Gründen begeistern können:
    - Das Eintauchen in die Welt der „Zigeuner“ ist literarisch bisher in dieser Tiefe und Breite bisher wenig oder gar nicht anzutreffen.
    - Die Erzählweise Szekelys lässt den Leser tief eintauchen in die ungarische Provinz in dieser unseligen Zeit.
    Das Buch hat mich zum Ende hin aber leider auch etwas gelangweilt, denn Wiederholungen von Themen und Szenen führen zu Längen, die dem Buch nicht gut tun. Vielleicht ist das Folge der besonderen Geschichte des Buches. Vielleicht ist dies eine Version, die Szekely so noch nicht veröffentlichen wollte, die noch einmal überarbeitet (und dabei gekürzt) werden sollte. Hätte der Diogenes Verlag deshalb auf die Veröffentlichung verzichten sollen? Ich meine nein! Er hat gut und richtig entschieden, denn auch mit diesen Abstrichen und Zweifeln bleibt es ein lesenswerter Roman, der eine bislang schwach bearbeitete menschliche und geografische Region ins Blickfeld nimmt. Ich vergebe 4 Sterne.

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  1. Ernte-Streik: Ja oder Nein?

    Hatte der ungarische, 1958 verstorbene Autor János Székely noch vor, sein Manuskript zu überarbeiten, es zu straffen? Wir werden es nie erfahren, denn es wurde schätzungsweise erst 70 Jahre nach seiner Erstehung wieder entdeckt (und allein die ‚Irrungen und Wirrungen‘ dieses Werks wären einen Roman wert). Von Ulrich Blumenbach aus dem Englischen übersetzt, werden wir in das Jahr 1944 in das fiktive ungarische Dorf Kákásd katapultiert.

    Hauptdarsteller sind Garas (Bauer reiferen Alters) + die ‚Zigeuner‘ Marci (Balogh VI, der Primás) und Julka (einfache 20-jährige Wander-‚Zigeunerin‘), die sich beim Bomben-Beschuss ihres Transports in die Gaskammern und ihrer anschließenden gelungenen Flucht kennengelernt hatten und denen Garas Unterschlupf gewährt.

    Aber der Autor beschreibt auch die Nebendarsteller sehr ausführlich, wie z.B. die jüdischen Familien Rosenbergs oder Sterns, den Grafen Tamás Boncza mit seinen Verwaltungs-Mitarbeitern auf dem Schloss, den braven Papa Kántor und seine kranke Frau Sari und natürlich den stellvertretenden Minister und bösartigen Massenmörder Vitez Lóránt Barankay mit seine ‚lockeren‘ Frau Nusi.

    Es geht um die Entscheidung, ob die Ernte bestreikt werden soll oder nicht und wir blicken auch auf die Jahre 1514 und 1848 mit ihren damaligen Helden zurück. Welche Rolle spielte der legendäre Dani Kurucz und lebt er überhaupt noch?

    Ich kann dieses Buch ruhigen Gewissens allen Geschichtsinteressierten empfehlen, weiterhin allen Lesenden, die ausführliche Beschreibungen, auch die von Überlegungen, Debatten oder inneren Zwiegesprächen, mögen (und auch die nötige Zeit dafür haben) und ………. die nicht sexualfeindlich eingestellt sind! (Diesbezüglich wird die Toleranz in den Kapiteln 9 – 12, die besonders vom - neudeutsch ‚womanizer‘ - Marci und seinen Eroberungen und deren Befindlichkeiten handeln, besonders gefordert. Zur Erklärung: für Marci sind nämlich Frauen, was für einen Säufer Schnaps ist.)

    Nachdem diese ganzen Voraussetzungen auf mich zutreffen, ich auch großes Vergnügen an wunderschönen Sätzen und Erzählkunst habe, begeisterte mich diese mäandernde Lektüre und ich vergebe deshalb gerne 5 Sterne!

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  1. Zuviel an Themen und Ereignissen, aber brillant geschrieben

    3,5 / Überbordendes Gesellschaftspanorama eines ungarischen Dorfes zum Ende des 2. Weltkriegs – Unterdrückung der Bauern, Deportationen

    Es ist sicher wichtig, über die Entdeckung des Buchmanuskripts Bescheid zu wissen. Es wurde durch Zufall nach dem Tode Székelys entdeckt und jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt. Meine Vermutung – die aber nicht stimmen muss: der Autor hat mit Absicht nicht veröffentlicht, weil er vielleicht noch Änderungen, vor allem Kürzungen vornehmen wollte. Und das hätte dem Roman gut getan.

    Mir war es irgendwann zu viel an Themen und Ereignissen, was mir den Lesegenuss geschmälert hat. Für mich fehlt der durchgehende rote Faden und mir waren die Kontraste zu stark: mal langweilig ausufernde Gespräche über Gesellschaft und Politik, mal übertrieben viele, sich wiederholende Sexszenen oder die Schilderung der wahnsinnigen Vorstellungen und Gedanken zweier Personen.

    Und doch vergebe ich 4 Sterne? Ja, auch wenn es mir persönlich zu viel war, muss ich doch anerkennen, dass der Autor Janós Székely großes erzählerisches Talent hat, dass er mitreißend zu schreiben vermag, dass er die Personen zutreffend charakterisiert, so dass ich einige kleine Szenen sehr mochte.

    Wir befinden uns in Ungarn gegen Ende des Zweiten Weltkrieges unter der Besetzung durch die Nazis. Es gibt leider auch einheimische Kollaborateure, die sich die Vernichtung von Juden und 'Zigeunern' – wie sie damals genannt wurden und wie sie Székely im Buch nennt – zu eigen machen. Unsere Geschichte spielt in einem kleinen armen Dorf, dessen Bauern seit Hunderten von Jahren vom Grafen im Schloss ausgebeutet werden und sich überlegen, ob sie aufbegehren sollen.

    Das alles wird in geradezu überbordender Fülle geschildert: die gesellschaftlichen Zuständen der damaligen Zeit, die Juden- und 'Zigeuner'-Verfolgung der Nazis, die Diskriminierung durch die einheimische Bevölkerung und leider auch untereinander. Selbst bei den 'Zigeunern' schauen die privilegierten Musiker auf die Wanderzigeuner herab und die Menschen im Dorf erst recht.

    'Für die Deutschen ist ein Zigeuner auch nicht besser als ein Jude.' (16)
    'Adliger oder Bauer – was macht das schon? Der Zigeuner ist für beide kein Mensch.' (21)

    Vieles passiert, vieles wird zu ausführlich geschildert, manches lapidar nur in einem Satz erwähnt. Hätte der Autor selber über sein Manuskript bestimmen können, hätte er vielleicht das Ende eindeutiger gestaltet.

    Wer Freude an opulenten Darstellungen hat, dem könnte das Buch gut gefallen. Allerdings sollte man sich für die über 600 Seiten einiges an Zeit nehmen.

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