Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann

Hatte der ungarische, 1958 verstorbene Autor János Székely noch vor, sein Manuskript zu überarbeiten, es zu straffen? Wir werden es nie erfahren, denn es wurde schätzungsweise erst 70 Jahre nach seiner Erstehung wieder entdeckt (und allein die ‚Irrungen und Wirrungen‘ dieses Werks wären einen Roman wert). Von Ulrich Blumenbach aus dem Englischen übersetzt, werden wir in das Jahr 1944 in das fiktive ungarische Dorf Kákásd katapultiert.
Hauptdarsteller sind Garas (Bauer reiferen Alters) + die ‚Zigeuner‘ Marci (Balogh VI, der Primás) und Julka (einfache 20-jährige Wander-‚Zigeunerin‘), die sich beim Bomben-Beschuss ihres Transports in die Gaskammern und ihrer anschließenden gelungenen Flucht kennengelernt hatten und denen Garas Unterschlupf gewährt.
Aber der Autor beschreibt auch die Nebendarsteller sehr ausführlich, wie z.B. die jüdischen Familien Rosenbergs oder Sterns, den Grafen Tamás Boncza mit seinen Verwaltungs-Mitarbeitern auf dem Schloss, den braven Papa Kántor und seine kranke Frau Sari und natürlich den stellvertretenden Minister und bösartigen Massenmörder Vitez Lóránt Barankay mit seine ‚lockeren‘ Frau Nusi.
Es geht um die Entscheidung, ob die Ernte bestreikt werden soll oder nicht und wir blicken auch auf die Jahre 1514 und 1848 mit ihren damaligen Helden zurück. Welche Rolle spielte der legendäre Dani Kurucz und lebt er überhaupt noch?
Ich kann dieses Buch ruhigen Gewissens allen Geschichtsinteressierten empfehlen, weiterhin allen Lesenden, die ausführliche Beschreibungen, auch die von Überlegungen, Debatten oder inneren Zwiegesprächen, mögen (und auch die nötige Zeit dafür haben) und ………. die nicht sexualfeindlich eingestellt sind! (Diesbezüglich wird die Toleranz in den Kapiteln 9 – 12, die besonders vom - neudeutsch ‚womanizer‘ - Marci und seinen Eroberungen und deren Befindlichkeiten handeln, besonders gefordert. Zur Erklärung: für Marci sind nämlich Frauen, was für einen Säufer Schnaps ist.)
Nachdem diese ganzen Voraussetzungen auf mich zutreffen, ich auch großes Vergnügen an wunderschönen Sätzen und Erzählkunst habe, begeisterte mich diese mäandernde Lektüre und ich vergebe deshalb gerne 5 Sterne!
3,5 / Überbordendes Gesellschaftspanorama eines ungarischen Dorfes zum Ende des 2. Weltkriegs – Unterdrückung der Bauern, Deportationen
Es ist sicher wichtig, über die Entdeckung des Buchmanuskripts Bescheid zu wissen. Es wurde durch Zufall nach dem Tode Székelys entdeckt und jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt. Meine Vermutung – die aber nicht stimmen muss: der Autor hat mit Absicht nicht veröffentlicht, weil er vielleicht noch Änderungen, vor allem Kürzungen vornehmen wollte. Und das hätte dem Roman gut getan.
Mir war es irgendwann zu viel an Themen und Ereignissen, was mir den Lesegenuss geschmälert hat. Für mich fehlt der durchgehende rote Faden und mir waren die Kontraste zu stark: mal langweilig ausufernde Gespräche über Gesellschaft und Politik, mal übertrieben viele, sich wiederholende Sexszenen oder die Schilderung der wahnsinnigen Vorstellungen und Gedanken zweier Personen.
Und doch vergebe ich 4 Sterne? Ja, auch wenn es mir persönlich zu viel war, muss ich doch anerkennen, dass der Autor Janós Székely großes erzählerisches Talent hat, dass er mitreißend zu schreiben vermag, dass er die Personen zutreffend charakterisiert, so dass ich einige kleine Szenen sehr mochte.
Wir befinden uns in Ungarn gegen Ende des Zweiten Weltkrieges unter der Besetzung durch die Nazis. Es gibt leider auch einheimische Kollaborateure, die sich die Vernichtung von Juden und 'Zigeunern' – wie sie damals genannt wurden und wie sie Székely im Buch nennt – zu eigen machen. Unsere Geschichte spielt in einem kleinen armen Dorf, dessen Bauern seit Hunderten von Jahren vom Grafen im Schloss ausgebeutet werden und sich überlegen, ob sie aufbegehren sollen.
Das alles wird in geradezu überbordender Fülle geschildert: die gesellschaftlichen Zuständen der damaligen Zeit, die Juden- und 'Zigeuner'-Verfolgung der Nazis, die Diskriminierung durch die einheimische Bevölkerung und leider auch untereinander. Selbst bei den 'Zigeunern' schauen die privilegierten Musiker auf die Wanderzigeuner herab und die Menschen im Dorf erst recht.
'Für die Deutschen ist ein Zigeuner auch nicht besser als ein Jude.' (16)
'Adliger oder Bauer – was macht das schon? Der Zigeuner ist für beide kein Mensch.' (21)
Vieles passiert, vieles wird zu ausführlich geschildert, manches lapidar nur in einem Satz erwähnt. Hätte der Autor selber über sein Manuskript bestimmen können, hätte er vielleicht das Ende eindeutiger gestaltet.
Wer Freude an opulenten Darstellungen hat, dem könnte das Buch gut gefallen. Allerdings sollte man sich für die über 600 Seiten einiges an Zeit nehmen.
Eine nicht enden wollende Geschichte des Oben und Unten
Janos Szekelys Roman „Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“ ist ein Roman mit einer besonderen Veröffentlichungsgeschichte. Es ist ein Roman, der im Original nicht existiert bzw. nicht aufzufinden ist. Nach Jahrzehnten des Verschwunden Seins, tauchte auf dem Dachboden einer Enkelin ein englisches Manuskript von etwas auf, das wohl auf ein ungarisches Original des Großvaters zurückzuführen ist. Doch dieses Original konnte auch nach intensiver Suche nicht gefunden werden. Was also machen mit diesem Manuskript – in der Vergessenheit belassen, oder es – trotz fehlender Basis - in das Licht der Öffentlichkeit holen? Diese Frage stellte sich dem Diogenes-Verlag, der die Rechte am Werk Szekelys hält und der die Frage letztlich mit der Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung der vermutlichen englischen Übersetzung eindeutig beantwortet hat.
Der Roman führt uns in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts in die ungarische Provinz, die von deutschen Truppen besetzt ist und in der das deutsche Terrorregime gegen verschiedene gesellschaftliche Gruppen – insbesondere Juden und Zigeuner – seine blutigen Spuren hinterlässt. Hier richtet Szekely den Blick auf zwei „Zigeuner“, die sich deutlich voneinander unterscheiden, die aber doch als Paar zusammenkommen und versuchen, in diesen grausamen Zeiten irgendwo unterzukommen und zu überleben. Es handelt sich um die „Wanderzigeunerin“ Julka, die wohl der unterst möglichen Gesellschaftsschicht angehört und auf keinerlei Unterstützung anderer Menschen hoffen darf, und um einen stärker etablierten „Zigeuner“ Marci, der durch seine Musik einen eingeschränkten Zugang zu mehr Freiheit und Beziehungen zu anderen Menschen der Gesellschaft hat. Doch beide landen irgendwann in einem Todestransport der Nazis, die sie auf den Weg in ein Vernichtungslager schicken. Mit viel Glück und Zufall können sie entkommen und verstecken sich fortan in dem kleinen Dorf Káskásd, wo sie dem weiteren Verlauf der Geschichte weitestgehend hilflos ausgesetzt sind. Denn – ob unter deutscher Besatzung oder nicht – das ewige Oben und Unten spült sie immer wieder in die Gossen der Geschichte und Gesellschaft. Der Samen des Widerstandes gegen die ungerechte, benachteiligte Lebensweise der unteren Gesellschaftsschichten war immer da, ist immer da und wird vermutlich immer da sein, hat aber seit – so das Buch mit seinem Titel und verschiedenen Ausführungen im Text – 700 Jahren nicht zu einem Erfolg d.h. zu einer Veränderung führen können. Wer oben ist, bleibt oben. Wer unten ist, bleibt unten! In dem Buch wird diese fatalistische Sichtweise aus vielerlei Perspektiven beleuchtet, ausgeführt und untermauert. Dabei stellten sich mir als Leser immer wieder zwei Fragen:
- Was war vor 700 Jahren, was diese Konstellation gestartet hat?
- Was steht am Ende des Buches? Wird es enden? Wird die Nacht vorbei sein?
Die Frage 1 beantwortet das Buch leider nicht. Die Frage 2 habe ich so gelesen, dass es auch nach 700 Jahren nicht endet, sondern weitergehen wird.
Das Buch hat mich aus zwei Gründen begeistern können:
- Das Eintauchen in die Welt der „Zigeuner“ ist literarisch bisher in dieser Tiefe und Breite bisher wenig oder gar nicht anzutreffen.
- Die Erzählweise Szekelys lässt den Leser tief eintauchen in die ungarische Provinz in dieser unseligen Zeit.
Das Buch hat mich zum Ende hin aber leider auch etwas gelangweilt, denn Wiederholungen von Themen und Szenen führen zu Längen, die dem Buch nicht gut tun. Vielleicht ist das Folge der besonderen Geschichte des Buches. Vielleicht ist dies eine Version, die Szekely so noch nicht veröffentlichen wollte, die noch einmal überarbeitet (und dabei gekürzt) werden sollte. Hätte der Diogenes Verlag deshalb auf die Veröffentlichung verzichten sollen? Ich meine nein! Er hat gut und richtig entschieden, denn auch mit diesen Abstrichen und Zweifeln bleibt es ein lesenswerter Roman, der eine bislang schwach bearbeitete menschliche und geografische Region ins Blickfeld nimmt. Ich vergebe 4 Sterne.
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