Wovon wir leben: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Wovon wir leben: Roman' von Birgit Birnbacher
4.65
4.7 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Wovon wir leben: Roman"

Ein literarischer Roman über die brennenden Themen der Gegenwart: Das neue Buch der Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher Birgit Birnbacher, der Meisterin der „unpathetischen Empathie“ (Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau), gelingt es, die Frage, wie und wovon wir leben wollen, in einer packenden und poetischen Sprache zu stellen. Ein einziger Fehler katapultiert Julia aus ihrem Job als Krankenschwester zurück in ihr altes Leben im Dorf. Dort scheint alles noch schlimmer: Die Fabrik, in der das halbe Dorf gearbeitet hat, existiert nicht mehr. Der Vater ist in einem bedenklichen Zustand, die Mutter hat ihn und den kranken Bruder nach Jahren des Aufopferns zurückgelassen und einen Neuanfang gewagt. Als Julia Oskar kennenlernt, der sich im Dorf von einem Herzinfarkt erholt, ist sie zunächst neidisch. Oskar hat eine Art Grundeinkommen für ein Jahr gewonnen und schmiedet Pläne. Doch was darf sich Julia für ihre Zukunft denken?

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
EAN:9783552073357

Rezensionen zu "Wovon wir leben: Roman"

  1. Immer mehr aus als ein

    Wenn es eins ist was Julia in letzter Zeit gelernt hat, dann ist es DAS… Atmen. Immer mehr aus- als einatmen! Julia, vor kurzem noch Krankenschwester, ist das passiert wovon vermutlich jeder, der im medizinischen Bereich tätig ist hofft, dass es ihm nie passieren wird. Julia verabreicht in einer Stresssituation einer Patientin die falsche Medikation. Als diese daraufhin einen allergischen Schock erleidet, gerät Julia selbst in Not. Es gelingt ihr gerade noch für die Patientin Hilfe zu organisieren, bevor ihre eigene Lunge kollabiert.
    Ab diesem Zeitpunkt ist die Krankenschwester vom Dienst freigestellt, das Atmen fällt ihr schwer und auch die Dienstwohnung ist sie los. So kehrt Julia zurück in den Haushalt ihrer Eltern. Nur um festzustellen, dass ihr Vater immer noch so ist wie früher-nämlich schwierig und ihre Mutter das Haus verlassen hat. Alles scheint im Umbruch und Julia muss für sich einen neuen Platz im Leben finden.

    Birgit Birnbacher schreibt treffend, sicher, auf den Punkt und schonungslos mit einer Prise Sarkasmus.
    Birnbachers Heldin steht vermeintlich „Mitten“ im Leben und geht ganz in ihrer Arbeit auf. Bis zu dem Vorfall, der Julia wieder auf „Anfang“ zurück katapultiert. Sie sucht Zuflucht bei ihren Eltern um sich dort wieder etwas erholen zu können. Schnell merkt sie allerdings, dass dort niemand ist, der sich um sie kümmern kann bzw. will. Denn das Leben ihrer Eltern ist, seit ihrem Auszug, weitergegangen. Ihre Mutter hat den Schritt hinaus aus einer, möglicherweise belastenden, Partnerschaft hinein in etwas Neues gewagt. Ihr Vater ist dadurch gezwungen seine bequemen Wege zu verlassen und mehr Eigeninitiative an den Tag zu legen. Doch der Leser wird sehen wie viel ihm seine Mitmenschen davon zumuten werden.
    Spannend ist zu beobachten, wie sich Frau Birnbachers Charaktere im Laufe der Geschichte entwickeln und auf Grund der Geschehnisse verändern. Die Figuren schlagen sich herum mit Zukunftsängsten, der Überlegung was wirklich zählt im Leben und ob man seine Ziele wirklich hinten anzustellen muss um der Verantwortung gegenüber seiner Familie nachkommen zu können.
    Und obwohl dies alles Themen sind, die es in sich haben, bleibt der Schreibstil der Autorin locker und flüssig, so dass man gar nicht merkt wie man durch das Buch „fliegt.“

    Fazit: Eine schnörkellose Geschichte, deren treffende Formulierungen selbst nach der Geschichte noch nachwirken.

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  1. In der Lebensmitte fast zurück auf Null

    Julia stammt aus Innergebirg, einem kleinen Ort mit sehr dörflichen Strukturen in Österreich. Nun hat sie viele Jahre in der Stadt als Krankenschwester gearbeitet und das urbane Umfeld sehr genossen. Ein beruflicher Fehler wirft sie zurück, sie muss ihre Arbeitsstelle aufgeben und das Zimmer im Schwesternheim räumen. Die drastische Veränderung schlägt ihr auf die Gesundheit, sie bekommt im wahrsten Sinn des Wortes keine Luft mehr. In diesem Zustand sucht Julia im Elternhaus Zuflucht. Dort muss sie feststellen, dass ihr Vater neuerdings alleine lebt, weil die Mutter „das Vatergefängnis“ in Richtung Süden verlassen hat, um noch einmal neu zu beginnen. Auch für Julia ist das Zusammensein mit ihrem Vater eine Herausforderung, gegenseitiges Schweigen gehört zum Tagesablauf. Man redet nicht und schon gar nicht über Gefühle.

    Das Dorf wirkt trist und nahezu unverändert. Das ländliche Arbeiter-Milieu wird hervorragend gespiegelt. Die letzte Arbeit gebende Fabrik hat ihre Tore geschlossen. Viele Junge sind in die Stadt gezogen, die Älteren sind noch da, treffen sich täglich im Wirtshaus zum Trinken oder zum Spielen. Mit den Augen der Ich-Erzählerin lernen wir den Ort und seine überwiegend männlichen Bewohner kennen, erfahren auch Vieles aus Julias eigenem Leben, über die Schwierigkeiten und Schicksalsschläge ihrer Familie, die zur Schweigsamkeit beigetragen haben: „Schweigen war einfach Stille, und Stille war die Abwesenheit von Lärm. Verhandelt wurde nur noch das Offensichtliche.“ (S. 46)

    Julia muss sich neu orientieren, ihre Gedanken, Wünsche und Ziele sortieren. Ihre Möglichkeiten scheinen als Frau Ende Dreißig nicht allzu vielfältig zu sein. Doch begegnen Julia Menschen, die sie inspirieren und vorwärts bringen, sie an ihre Talente und Jugendträume erinnern. Allen voran ist das ihre alte Schulfreundin Bea. Auch der Städter Oskar, der ein bedingungsloses Jahreseinkommen gewonnen hat und gleichfalls auf der Suche nach einem Neuanfang ist, befruchtet ihre Überlegungen über die Zukunft. Zwischen ihm und Julia entwickelt sich eine zaghafte Freundschaft zwischen Liebe und dem Drang nach Unabhängigkeit.

    „Wovon wir leben“ ist ein ruhiges, getragenes Buch. Birgit Birnbacher hat einen ganz eigenen Ton. Sie erzählt langsam, distanziert, aber sehr atmosphärisch mit viel Poesie, so dass Bilder im Kopf entstehen, über die man nachdenken muss. Die enge, dörfliche Szenerie wird ungemein realistisch beschrieben. Die dort lebenden Charaktere wirken überwiegend kauzig und wunderlich, der ein oder andere auch etwas überzeichnet. Ich bin der Handlung sehr gern gefolgt, auch wenn eigentlich nichts Spektakuläres passiert. Wie nebenbei lässt die Autorin zeitgemäße feministische Themen einfließen, während Julia mit ihrer zugewiesenen Rolle hadert. Sie ist dabei eine äußerst feinsinnige Beobachterin. Die Innensichten der Erzählerin über ihr Leben, ihre Herkunft, ihr persönliches Scheitern werden sehr glaubwürdig ohne jede Pathetik transportiert. Julias Überlegungen sind messerscharf, sie analysiert ihre Situation gründlich und hat auch einen klaren Blick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer Umgebung.

    Der Roman wird von einer latenten Melancholie durchzogen und hält zahlreiche kluge Sätze und Dialoge bereit, die den Leser immer wieder innehalten lassen. Zum Ende hin hätte ich mir etwas mehr Entwicklung gewünscht. Da blieben für mich offene Fragen sowie eine leise Enttäuschung, die ich nicht recht begründen kann. Dennoch möchte ich den Roman allen Lesern empfehlen, die sich gerne mit psychologisch dicht gewebten gesellschaftlichen Familien- und Frauenthemen beschäftigen. Ich werde definitiv neugierig auf weitere Romane der Autorin bleiben. Ihr Sound hat mir schon in „Ich an meiner Seite“ sehr gut gefallen und ist einfach einzigartig.

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  1. Nein, keine österreichische Landidylle!

    ‚Pessimismus trifft auf positive Lebenseinstellung‘ empfand ich bei dieser beeindruckenden Lektüre! Die Ich-Erzählerin Julia Noch will in ihrem Heimatort im Innergebirge nach Verlust ihrer Arbeit durch einen Fehler in ihrem Elternhaus unterkriechen und auch ihren Gesundheitszustand ‚knapp am Sauerstoff vorbei‘ verbessern.

    Doch es ist nichts mehr, wie es war – auch bei ihren Eltern - und ihr fällt ein, wie ‚froh sie einmal gewesen war, so vieles vergessen zu haben, was ihr jetzt wieder einfällt. (Und diese Liste fand ich erschütternd, aber sehr authentisch!)

    Sehr beeindruckend und bezeichnend beschreibt die Autorin Julias Gedanken zu der Vorstellung ihres Vaters bei der Familiengründung: „Er macht eine Skizze, einen Grundriss vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“

    Und dann als Kontrast eine positive Lebenseinstellung: Oskar Marin, ‚der Städter‘, den Julia durch Zufall kennenlernt, strahlt die konträre Sicht auf das Leben aus: wohl durch einen ‚Luxusinfarkt‘ auf Reha, genießt er ‚ein Jahr aus Glück‘, das er gewonnen hatte und alles, was er auch anlangt, gelingt ihm. (Bei ihm musste ich sofort an meinen Wahlspruch von Erich Fromm denken: ‚Glück ist kein Geschenk der Götter, sondern die Frucht innerer Einstellung‘.)

    Ob es die Bedeutung der Arbeit und die jeweils persönliche Einstellung dazu, das Zusammenleben der Geschlechter und der Dorfgemeinschaft, die Erwartungen an Pflicht und Verantwortung oder die mangelnde Kommunikation ist - der Roman besticht durch seine Vielschichtigkeit, kurzen Kapiteln und sehr klarer und knapper Sprache!

    Mit meiner Begeisterung kann ich nur 5 Sterne und eine Empfehlung geben, sich dieses Meisterwerk nicht entgehen zu lassen!

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  1. Wovon leben wir?

    Es wird nicht viel geredet in dem Dorf im Innergebirg, wo der Hausberg mit seinen langen Schatten vor der Sonne steht. Getratscht wird, doch das, was in der Tiefe der Seele vor sich geht, erzählt man sich oft selbst nicht, Arbeit bestimmt das Leben.
    Julia ist aus der Stadt zurückgekehrt in ihr Heimatdorf, die zwei schrecklichen Wörter arbeitslos und lungenkrank zieht sie hinter sich her. Sie will sich von ihrer Mutter trösten und pflegen lassen, doch die ist weg, hat den Vater sitzenlassen in dem trostlosen Dorf, wo es nicht einmal mehr eine Bäckerei gibt. Der Vater ist auch arbeitslos, die Fabriken haben zugemacht, für die Männer ist das Rauchen und Saufen im Wirtshaus geblieben.
    Es herrscht ein rauer Ton, "es fehlt ihnen der Segen der Arbeit, der Dank der Ablenkung, damit es um nichts sonst gehen muss."
    Da die Mutter nicht mehr da ist, soll Julia in Anspruch genommen werden.
    "Wenn eine Frau ausfällt, muss die andere herhalten. So geht das Rezept zur alten und ewigen Suppe."
    Der Vater und der Freund, beide haben Erwartungen an Julia, sie soll mit ihnen zum Wir werden, wo sie doch gerade erst auf dem Weg war ihr Ich zu finden. "Sie hat ein anderes spezifisches Gewicht."
    Sie gerät in das Dilemma Pflicht und Verantwortung zu übernehmen, oder ihren eigenen Weg zu gehen, eine der schwersten Entscheidungen, vor die das Leben einen stellen kann.
    Was ist das Richtige, oder darf man auch mal was Falsches tun?

    In diesem Buch ist nicht die Rede von Feinsinn oder Schöngeist, es geht um das alltägliche harte Leben, das einem zugeteilt wird. Man hat keinen Einfluss darauf, in welches Elternhaus man hineingeboren wurde, man muss mit Krankheit und Schicksaschlägen zurechtkommen. Als Leser ist man froh, wenn man dort nicht leben muss, dass es einen selbst nicht getroffen hat.
    Die Autorin hat mit ihren klugen Sätzen, ihren erfahrenen Beobachtungen, wie mit Hammerschlägen den Nagel auf den Kopf getroffen.
    Die nüchterne Sprache in lapidarer Poesie trifft genau das Thema und die Umwelt des Buches.
    Man sollte nicht den Hinweis der Autorin übersehen, in dem sie auf die Quelle ihrer Inspiration zu diesem Werk aufmerksam macht. Es sind wissenschaftliche Arbeiten der Sozialpsychologin Marie Jahoda über die arbeitende Klasse aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts.

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  1. 5
    24. Feb 2023 

    Immer mehr geben als nehmen

    In Birgit Birnbachers neustem Roman geht es nicht nur darum wie wir leben, sondern eben vor allem wovon wir leben. Wir leben nicht nur von der Erwerbsarbeit, sondern müssen auch mit einer erzwungenen Arbeitslosigkeit leben. Und - besonders Frauen – müssen auch noch zusätzlich mit der ihnen auferlegten Care-Arbeit leben. Welche Auswirkungen das auf die eigene Gesundheit, den Lebensentwurf und letztlich das eigene Ich haben kann, damit beschäftigt sich Birnbacher verdichtet auf nur knapp 190 Buchseiten.

    Julia ist Mitte Dreißig und war bis vor kurzem noch Krankenschwester auf der Inneren Station eines Kreiskrankenhauses in Österreich. Nach einem fatalen Fehler kann sie nicht mehr atmen, im übertragenen wie auch wörtlichen Sinne. Sie wird arbeitsunfähig und steht zu Beginn des Romans vor ihrer Entlassung. Da sie in einer Betriebswohnung lebt, zieht sie kurzerhand zurück in ihren Heimatort zu den Eltern. Nur erwarten sie dort neben der Nachricht, dass die Mutter gar nicht mehr zuhause lebe, noch weitere Neuigkeiten und Neulinge. Die nahegelegene Schokoladenfabrik hat geschlossen und nun ist der halbe Ort arbeitslos, hinzu gesellt sich der Städter Oskar, der kürzlich einen kleinen Herzinfarkt erlitt, einen sogenannten „Luxusinfarkt“, aber Glück im Unglück hatte und ein einjähriges Grundeinkommen gewonnen hat. So treffen nun diese verschiedenen Welten aufeinander und es entsteht des Bild einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit definiert, in dieser Arbeit die sogenannte Care-Arbeit aber gar nicht mitgedacht wird. Julia muss einen Weg und ihren Weg finden, sich neu zu definieren, und trifft dabei auf diverse Widerstände in der Gemeinschaft aber auch in sich selbst.

    Durch ihre nüchterne, mitunter lakonische Sprache erschafft Birnbacher in ihrem Roman das realitätsnahe Bild einer Dorfgemeinschaft mit den ganz individuellen Nöten der dort lebenden Menschen. Während sie ganz präzise Beschreibungen findet, schwingen in den meist einfach anmutenden Sätzen, tiefgründige Erkenntnisse mit. Gleich auf der ersten Seite lese von wir von der Ich-Erzählerin, dass sie aufgrund ihrer schweren asthmatischen Erkrankung, durch welche sie „nur knapp am Sauerstoff vorbei“ geschrammt ist (soll heißen, der Sauerstoffflasche zur Erleichterung der Atmung), die „vollständige Atmung“ hat erlernen müssen: Immer mehr aus als ein. Ziemlich einfach zu merken: immer mehr geben als nehmen.“ Dieses „immer mehr geben als nehmen“ scheint die Überschrift über dem Leben so vieler Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein und auch dem von Julia und ihrer Mutter. Zu ihrem Vater und seiner Rolle in der Familie macht sie sich folgende Gedanken (S. 151):

    „Wie hat er sich das eigentlich vorgestellt, damals bei der Familiengründung? Er macht eine Skizze, einen Grundriss vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“

    Julia hadert aber auch mit ihrer Rolle und versucht einen eigenen Weg zu finden. Der gesamte Roman ist überzeugend, was mich aber schlussendlich vollends für diese unglaublich realitätsnahe Zeichnung der Gefüge innerhalb der Familie, ja innerhalb der Gesellschaft, eingenommen hat, ist das Ende des Romans. Weder ein Happy noch ein Sad Ending ist es geworden. Nein, ein allzu realistisches Ende hat Birgit Birnbacher ihrem Roman gegeben. Nach dem Zuklappen der Buchdeckel ist man ob der präsentierten Wahrheiten, die man doch eigentlich schon zur Genüge kennt, sprachlos. Hier handelt es sich beileibe nicht um einen happy-go-lucky-Aussteigerroman, aber auch nicht um ein belehrendes Buch, sondern ein nüchternes Abbild der Realität inklusive der Innenansicht einer ganz normalen Frau, die ihr Schicksal nicht hinnehmen kann und will, und gleichzeitig mit sich und den Umständen zu kämpfen hat. Das ist grandios gemacht und damit eins meiner diesjährigen Highlights. Klare Leseempfehlung!

    5/5 Sterne

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  1. 5
    19. Feb 2023 

    Knackig komplex

    Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Birnbachers schmaler Roman erweckt diese Bibel- und Binsenweisheit zu neuem Leben.

    Julia, Ende 30, hat aufgrund eines Fehlers ihren Job als Krankenschwester verloren, damit auch ihre Dienstwohnung, und sieht sich gezwungen, zurück auf´s Land zu ziehen. Sie hofft, unter der Fürsorge vor allem der Mutter wieder neue Kraft für einen Neuanfang schöpfen zu können. Daraus wird nichts: Die Mutter ist endlich aus ihrer unglücklichen Ehe geflüchtet und bewirtet nun Pensionsgäste auf Sizilien. Der Vater erwartet von Julia, dass sie die Versorgerrolle der Mutter nahtlos übernimmt. Julia ist emotional am Limit. Die Begegnung mit einem Kurgast mit dem schönen und unwahrscheinlichen Namen Oskar Marin, der ein Jahr lang eine Art bedingungsloses Einkommen gewonnen hat, führt zu zusätzlichen emotionalen Verwicklungen – zunächst einmal zu Neid.

    Der Roman hat mich sowohl sprachlich als auch inhaltlich fasziniert. Birnbachers dichte Sprache benötigt unter 200 Seiten, um sich mit einer Reihe existenzieller Fragen rund um die Bedeutung von Arbeit, Pflicht und Individualität mit großer Tiefe auseinander zu setzen. Ihr Personal beleuchtet dabei verschiedene Aspekte, ohne jemals schablonenhaft rüberzukommen. Im Gegenteil sind Birnbacher ihre Figuren bis in die letzte Nebenfigur unglaublich dreidimensional gelungen. Nicht zuletzt die zur Verzweiflung aller Anwohner ständig klagende Ziege Elise, die keine Ruhe gibt, bis die Ursache ihres Leidens erkannt ist.

    Nicht nur Julia ist arbeitslos – das halbe Dorf ist es, seit „die Fabrik“ zugemacht hat. Von Alkoholismus bis Eskapismus reichen die Bewältigungsstrategien. Arbeit ist das halbe Leben – hat man plötzlich das ganze zur Verfügung, schiebt so mancher Panik. Wieder andere fühlen sich befreit, wie Oskar, obwohl er eine Zwangspause aufgrund eines Herzinfarkts macht. Julia fühlt sich in ihren Entscheidungen durch vielfache Bande ausgebremst – durch den alternden Vater, den geistig behinderten Bruder, der in einer Einrichtung untergebracht ist – vor allem aber durch ihre eigenen Prinzipien. Oskar überlegt, im Dorf zu bleiben, Julia hat Fluchtreflexe. Birnbachers Ideenträger beleuchten unterschiedlichste Wahrnehmungen.

    Was ist Arbeit? Was bedeutet sie? Muss Arbeit Spaß machen? Einen Sinn haben? Kann sie auch sinnstiftend sein, wenn sie keinen Spaß macht? Wo hört die Pflicht auf und wo beginnt das Recht auf persönliches Glück? Muss jede/r „einen Beitrag leisten“? Kann ein Mensch, der Freunde und Familie hat, frei sein? An welchem Punkt mutiert Individualität zu Egoismus? Kann etwas eine Antwort für den einen Menschen und eine Frage für den Anderen sein?

    Julia muss sich entscheiden, wie sie den Rest ihres Lebens angehen will. Wir erleben aus ihrer Perspektive, wie sie sich durch dieses Labyrinth von Fragen kämpft, während alle um sie herum ihr Möglichstes tun, um ihre Entscheidung in ihrem eigenen Interesse zu beeinflussen. Das liest sich spannend bis zum nicht ganz offenen Ende. Und auch die knappe, dennoch oft lyrische Sprache von Birnbacher war mir ein Genuss.

    Empfehlung!

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