Rezension (3/5*) zu Ich und Jimmy von Clarice Lispector

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ich und Jimmy von Clarice Lispector
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Eine literarische Welt mit Höhen und Tiefen

Der Manesse Verlag hat sich mit seinem Motto „Mehr Klassikerinnen“ dazu verpflichtet, insbesondere das Werk weiblicher Autorinnen hervorzuheben und wiederzuentdecken. Der vorliegende handliche Band mit eindrucksvollem Cover und gebunden in Fadenheftung macht wahrlich Lust, auf Entdeckungstour zu gehen, zumal ich erst kürzlich mit „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf (ebenfalls in dieser wunderschönen Manesse Reihe erschienen) einen Volltreffer gelandet habe. Zudem gilt Woolf als Vorbild für Lispectors Schreiben.
Clarice Lispector (1920 – 1977) wuchs als jüdisch-ukrainische Migrantin in Brasilien in Armut auf. Sie war begabt und studierte Jura in einer Zeit, in der dies nur den wenigsten Frauen möglich war. Mit der Heirat eines angesehenen katholischen Diplomaten gelang ihr der gesellschaftliche Aufstieg. „Schon zu Lebzeiten war sie eine Legende, berühmt, bewundert, kapriziös, depressiv und den meisten Menschen unverständlich“, sagte Katharina Döbler über Lispector(Quelle: Wikipedia). Diese Aussage trifft meiner Meinung nach auch in weiten Teilen auf diesen Erzählband mit 30 nach ihrer Entstehungszeit geordneten Erzählungen zu.

Meistens stehen Frauenfiguren im Mittelpunkt. Dabei werden fast alle Altersstufen abgebildet. Es geht um fest gefahrene Rollenbilder. Die Ehe ist die logische Konsequenz für eine junge Frau, in der sie sich den Wünschen ihres Gemahls anpassen muss. Auch im Beruf und in der patriarchischen Gesellschaft sind Frauen meist die Passiven und Duldenden. In dieser Situation lernen wir die Figuren kennen, die intensiv mit ihrem Innenleben, ihren persönlichen Befindlichkeiten, beschäftigt sind. Äußere Handlung ist untergeordnet. Die wenigsten Frauenfiguren wirken glücklich oder zufrieden. Sie sinnieren über unerfüllte Hoffnungen, ihre Ehe, Beziehungen, Angst vor dem Alter, nachlassende Attraktivität, über Liebe, Lebenssinn, Frau- und Fremdsein bis hin zu Flucht- und Suizidgedanken. Keine Frau wirkt mit dem selbst eingeschlagenen Weg zufrieden. Insofern drehen sich die Gedanken oft im Kreis, wirken repetitiv oder redundant. Einfachen Sachverhalten (man denke an den Rosenstrauß) wird eine Bedeutungsschwere zugemessen, zu der ich schwer Zugang finden konnte. Es gibt gewiss viel Raum für Interpretation in diesen Texten, der sich aber leider nicht jedem Leser erschließt. Auch das Ende der Erzählungen bleibt gern mehrdeutig und fordert die Leserschaft heraus. Nicht umsonst bezeichnet man Clarice Lispector auch als den „Kafka Brasiliens“ – ein Attribut, dem ich mich anschließen würde.

Die meisten Erzählungen sind in der gutbürgerlichen brasilianischen Mittelschicht angesiedelt. Ich hörte hier und da Sozialkritik heraus, wenn Arm und Reich aufeinander treffen. Lispector kann das Innenleben ihrer Figuren sehr bildlich und ausführlich beschreiben. Sie arbeitet mit zahlreichen Motiven, auch biblische Anlehnungen zu Glaube und Heiligenverehrung tauchen wiederholt auf. Sexualität in verschiedenen Facetten wird ebenfalls thematisiert. Die diesbezüglichen Fantasien der Autorin kann man mit Sicherheit als fortschrittlich und ihrer Zeit voraus bezeichnen. Manches wirkt hier allerdings wenig zusammenhängend und beinahe surreal (der magische Realismus hat seine Heimat in Brasilien). Wunsch oder Wirklichkeit waren für mich nicht immer klar trennbar. Lispector vertritt sehr moderne, feministische Ansichten.

Stilistisch ist Clarice Lispector vielseitig aufgestellt. Wenn auch die meisten Erzählungen eine eher melancholische, depressive Stimmung ausstrahlen, kann die Autorin durchaus auch andere, fein ziselierte bis humorige Töne anschlagen. Besonders gut haben mir die Geschichten gefallen, in denen konkrete Szenen aus dem Familien- und Alltagsleben geschildert werden. Die Erzählungen haben die anspruchsvollen Shortstories der englischsprachigen Welt als Äquivalent. Sie sind bewusst unbequem, kompliziert und fordern zum Nachdenken heraus.

Zweifellos haben Lispectors Texte literarische Qualitäten. Nur leider habe ich persönlich nicht jeden verstehen können. Zu abstrus und verworren stellen sich insbesondere die Gedankengänge vieler Protagonistinnen dar. Meine anfängliche Begeisterung ebbte recht schnell ab. Vielleicht empfinden das Menschen völlig anders, die aus psychologischer Sicht besseren Zugang zu Leid, Unglück und Depression haben. Vielleicht benötigt man auch eine literaturwissenschaftliche Ausbildung zum besseren Verständnis des hier Geschriebenen. Teresa Präauer, die das Nachwort formulierte, kommt auf alle Fälle zu einer völlig anderen Bewertung als ich. Insofern gilt: Selber lesen macht klug!

Für mich war es leider ein überwiegend zäher Ausflug in eine mir fremde literarische Welt. Insofern nur eine eingeschränkte Lese-Empfehlung von mir.

von: Mellem, Daniel
von: Christian Bommarius
von: Clarice Lispector