Diese Fremdheit in mir

Helmut Pöll

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Buchinformationen und Rezensionen zu Diese Fremdheit in mir: Roman von Orhan Pamuk
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Orhan Pamuk erzählt in „Diese Fremdheit in mir“ vom Leben des Straßenverkäufers Mevlut, als Istanbul sich in eine moderne Metropole verwandelt.

Mevlut hat durch ein Versehen (oder durch eine Intrige) die falsche Frau geheiratet. Er entführt die Angehimmelte bei Nacht aus ihrem Dorf, merkt aber erst bei Licht, dass er die Falsche an seiner Seite hat.

Allein dieser Beginn hat mich sprachlos gemacht. Gab es dann kein zurück mehr? Oder waren dann nach der Entführung die Weichen unwiderruflich gestellt? Archaische Traditionen treffen auf das Leben in einer Metropole im Umbruch. Spannend.
 

Anjuta

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Bevor ich mich so richtig in das Buch stürze, habe ich versucht ein bisschen was "darüber" zu lesen. Und richtig hilfreich fand ich das Interview mit Pamuk unter:
https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/orhan-pamuk-spricht-ueber-seinen-neuen-roman-details-machen-mich-gluecklich-ld.7604
Ein Ausschnitt daraus für die , die nicht alles lesen wollen:

"Ich plante das Buch als kleinen Roman über Strassenverkäufer. Mich interessiert dieser Lauf der Dinge – wie ihr Joghurt irgendwann nicht mehr gefragt war, als es Joghurt in Keramikgefässen, dann in Gläsern, schliesslich in Plasticbechern gab. Ich führte viele Interviews für das Buch, mit Kellnern, mit Pilaw- und Hühnchenverkäufern, Barbesitzern, Polizisten, und mit diesen Interviews wurde das Buch länger und länger. Ich erfuhr immer mehr Details über das Leben der anatolischen Dorfbewohner, die ab der Mitte der 1950er Jahre gekommen waren und ihre Häuser mit eigenen Händen erbaut hatten. Mevlut, der die Schule abbrach und mit seinem Vater nach Istanbul ging, weil es dort auf der Strasse so viel zu tun gab, ist in vieler Hinsicht ein typischer Junge. Diese ganzen Details machten mich glücklich – ich liess das Buch wachsen und wachsen."
Und jetzt nach ein paar Seiten Lektüre freue ich mich so richtig drauf und bin fasziniert von der Wortschöpfung in der NZZ für den Autor Pamuk: "ein Beobachtungsvirtuose" - was für ein aufs Lesen Lust machendes Wort!!!
Gruß Anjuta
 

Helmut Pöll

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Mevlut, der die Schule abbrach und mit seinem Vater nach Istanbul ging, weil es dort auf der Strasse so viel zu tun gab, ist in vieler Hinsicht ein typischer Junge. Diese ganzen Details machten mich glücklich – ich liess das Buch wachsen und wachsen."
Das merkt man auch, dass Orhan Pamuk viel recherchiert hat. das klingt alles sehr plausibel und authentisch. Mir fiel auch auf, dass Mevlut einerseits sanft, auf eine andere Art aber auch sehr schicksalsergeben ist. Er hat die falsche Frau geheiratet (oder wurde sie ihm trickreich untergejubelt?), bleibt aber trotzdem bei ihr und zeugt drei Kinder, ohne noch einen Gedanken an die andere zu verschwenden. Wie seht ihr das?
 
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Er hat die falsche Frau geheiratet (oder wurde sie ihm trickreich untergejubelt?), bleibt aber trotzdem bei ihr und zeugt drei Kinder, ohne noch einen Gedanken an die andere zu verschwenden. Wie seht ihr das?
Ich denke auf jeden Fall, dass ihm die andere Frau untergejubelt wurde. Er wurde reingelegt. Wie habe ich nicht genau verstanden. Wurde ihm auf der Hochzeit der falsche Name gesagt? War es Süleymann und warum?
Dass er sich nicht wert, kann meiner Meinung nach zwei Gründe haben. Entweder es soll der Charakter eines schicksalergebenen Mannes gezeigt werden oder aber Mevlut hatte in der damaligen Welt wirklich keine andere Wahl. Vielleicht hätte die falsche Braut ihre Ehre verloren und wäre nicht mehr "vermittelbar" gewesen wenn er sie zurück gebracht hätte?
Ich bin erst an der Stelle: Die Hügel am Ende der Stadt. Vielleicht klärt sich noch einiges auf...
 
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Wurde ihm auf der Hochzeit der falsche Name gesagt? War es Süleymann und warum?
Orhan Pamuk stellt doch vor eines der Kapitel diesen Satz
Es ziemt sich nicht, die jüngere Tochter zu verheiraten,
solange die ältere noch ledig ist...

Das bringt es wohl auf den Punkt. Der Familie blieben die vielen Briefe, die er geschickt hat, bestimmt nicht verborgen. Da haben sie eben die ältere Tochter entführen lassen wohl wissend, dass er nach der Entführung nicht mehr zurück kann. Dann muss auch das "Entführungsopfer" mit eingeweiht gewesen sein, @Leseglück
 

Helmut Pöll

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Mir gefällt die ungeschminkte Schilderung Istanbuls aus den 1960er und 1970er Jahren. Pamuk ist wirklich ein unglaublich guter Beobachter. Als Leser hat man manchmal das Gefühl man steht direkt dabei. Was ich ein wenig gruselig fand ist die Nummerierung der Schüler. Jeder Schüler hat eine Nummer, mit der er auch angeredet wird.
 
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Mir gefällt die ungeschminkte Schilderung Istanbuls aus den 1960er und 1970er Jahren. Pamuk ist wirklich ein unglaublich guter Beobachter. Als Leser hat man manchmal das Gefühl man steht direkt dabei.
Das geht mir genauso. Ich habe auch oft den Eindruck, dass gar nicht so sehr Mervut im Mittelpunkt steht, sondern dass Instanbul die Hauptprotagonistin ist.

Ich frage mich auch, was es mit den Hunden auf sich hat. Da muss doch irgendeine Symbolik dahinterstecken, die sich mir aber bis jetzt noch nicht offenbart hat.
 

Leseglück

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Orhan Pamuk stellt doch vor eines der Kapitel diesen Satz
Es ziemt sich nicht, die jüngere Tochter zu verheiraten,
solange die ältere noch ledig ist...
Ja, stimmt. Es ist im Sinne des Vaters dass zuerst die mittlere Tochter heiratet und danach erst die Jüngste. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass Süleyman an dem Komplott beteiligt war. Vielleicht ist das aber gar nicht so wichtig. Entscheidend ist die Ergebenheit mit der Mervut das alles hinnimmt.

Ja ich finde auch, dass es in dem Roman hauptsächlich um Istanbul geht so wie Du schreibst @Renie ist diese Stadt und ihre Geschichte glaub ich die Hauptprotagonistin. Leider war ich noch nie in Istanbul, schade und derzeit möchte man da ja nicht hinfliegen. Dafür habe ich heute einige Bilder im Internet von Istanbul angeschaut auch von den illegalen Stadtviertel, die in den 70er Jahren dort entstanden sind. Eine atemberaubend schnelle Entwicklung in den letzten Jahrzehnten!

Mir gefällt, dass immer wieder andere Personen zu Wort kommen, so entsteht ein noch breiteres Bild von Istanbul und seinen Bewohnern.

Frage an @Renie : welche Szenen mit den Hunden meinst du?
 

Renie

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Frage an @Renie : welche Szenen mit den Hunden meinst du?
Da gibt es mehrere. Anfangs gibt es den Hinweis über die Hunde aus Mevluts Heimatdorf, die genau wissen, wer zum Dorf gehört und wer nicht; später, beim Joghurtverkauf in Istanbul trifft Mevlut auf Straßenhunde, von denen er zunächst behauptet, dass ein Joghurtverkäufer nichts von ihnen zu befürchten hat. Und dann wird er doch von ihnen bedroht und er hat Angst.
Nicht zu vergessen: der Artikel in der parapsychologischen Zeitung, den er in der Schule liest und der ihn fesselt - Thema: Irgendetwas über Hunde, die sich in die Gedanken eines Menschen hineinversetzen können. Das sind mir zuviele Hunde. Das muss etwas bedeuten :rolleyes:
 

Leseglück

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7. Juni 2017
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Hmm...Du hast recht. Es lohnt sich darüber nachzudenken was die Hunde bedeuten @Renie Die Hunde in seinem Dorf kennen ihn als er noch dort gelebt hat, später, als er seine Braut entführt, bellen sie...er fühlt sich in Istanbul von den Hunden akzeptiert, dann an dem Tag als er auch von zwei Männern überfallen wird, wurde er zuvor auch von den Hunden angegriffen.

Ein Zeichen inwieweit er mit sich und der Umgebung in Einklang lebt vielleicht, die Hunde zeigen das irgendwie an, sie sind mit seinen Gedanken verbunden.

Ich bin erst bei :10. Wozu es führt wenn man an die Moscheemauer...
mal gespannt ob das Thema Hunde weiter auftaucht.
 
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Helmut Pöll

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Orhan Pamuk schildert die politischen Unruhen in den Vororten Istanbuls in den 1970er jahren zwischen Nationalisten und Kommunisten. Als die Streitigkeiten eskalieren kommt es sogar zu Schiessereien mit Toten. Die Gewalt eskaliert und schließlich kommt es auch zu einem massiven Polizei- und Militäreinsatz.

Beinahe hätte ich darüber gelesen, denn Pamuk schreibt mehr oder weniger in ein, zwei Nebensätzen, dass Menschen dort im Gefängnis gefoltert und verkrüppelt wurden oder umgekommen sind. Macht er das, weil das an den Menschen einfach vorbei ging und überhaupt nicht Thema in den Alltagsgesprächen war. Oder gehört es zu dieser sehr zurückhaltenden Art seines Schreibens, dass er auch solche krassen Missstände nur kurz andeutet. Ich könnte mir vorstellen, dass amerikanische Autoren über die Folter im Gefängnis ganze Kapitel geschrieben hätten. Oder wie seht ihr das?
 
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Ich denke Orhan Pamuk stellt die Stadt und die Geschichte aus der Sicht von Mevlut dar. Mevlut ist ein unpolitischer Mensch denke ich. Er ist auch weder auf der Seite der Kommunisten noch auf der der Nationalisten weil er Leute von beiden Gruppen kennt. Der Staat und die Politik ist für Mervut eher etwas von dem er sich fern hält. Terror und Staatswillkür gehören wohl schon so zum Alltag seit Jahrzehnten in dieser Stadt, dass so eine einzelne Unruhe nicht weiter auffällt - sarkastisch gesagt.
 
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Helmut Pöll

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Er ist auch weder auf der Seite der Kommunisten noch auf der der Nationalisten weil er Leute von beiden Gruppen kennt.
Denke ich auch. Aktionen wie das Plakatekleben sind eher der Langeweile geschuldet.
Terror und Staatswillkür gehören wohl schon so zum Alltag seit Jahrzehnten in dieser Stadt, dass so eine einzelne Unruhe nicht weiter auffällt - sarkastisch gesagt.
Das kann gut sein, @Leseglück
 

Anjuta

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Die Frage war gestellt und diskutiert worden: Warum ergibt sich Mevlut in das Schicksal, die falsche Braut bekommen zu haben?
Ehrlich gesagt, kann ich dazu bisher noch nichts sagen, denn nach Schilderung der Entführung richtet der Roman seinen Blick ja in die Vergangenheit hinein und berichtet erstmal von der Jugendzeit Mevluts. Wie sich die Brautleute annähern, zueinander verhalten und die Hochzeit zustandekommt, da bin ich im Buch noch gar nicht und werde deshalb später darüber nachdenken.

Bisher beindruckt mich wirklich, wie Pamuk es schafft, Istanbul und dessen Entwicklung wirklich nicht nur zum Thema im Roman zu machen, sondern irgendwie tatsächlich - wie es scheint - Istanbul zu Wort kommen zu lassen. So jedenfalls mein Eindruck. Die Vielstimmigkeit der Schilderung, die immer wieder von der neutralen Autorensicht auf handelnde Personen unterschiedlichster Rollen und Schicksale innerhalb der Geschichte wechselt, schafft es, dass sich der Leser tatsächlich irgendwie mittendrin fühlt. Finde ich. Selten so ein ausgefeiltes, stimmiges Autorenkonzept samt -umsetzung angetroffen. Ich bin begeistert! Und selbst der Autor stimmt als "Ich" in den Chor der Sprechenden/Berichtenden mit ein und wendet sich direkt an den Leser. Ungewöhnlich und spannend!!!
"Hätten meine Leser Mevlut persönlich kennengelernt, so wie ich, würden sie erstens den Frauen recht geben, die an seiner jugendlichen Anmut Gefallen fanden, und sie würden zweitens zugeben, dass meine Beschreibung keineswegs schöngefärbt ist."

Ich tauche wieder ein in die Geschichte Istanbuls. Tschüss
Anjuta
 

Helmut Pöll

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Ehrlich gesagt, kann ich dazu bisher noch nichts sagen, denn nach Schilderung der Entführung richtet der Roman seinen Blick ja in die Vergangenheit hinein und berichtet erstmal von der Jugendzeit Mevluts.
Bei mir sind das bislang auch nur Mutmaßungen, @Anjuta . Vielleicht ist es auch zu einfach aus unserer Sicht zu sagen: naja, war ein Versehen/eine Verwechslung, tut mir leid. Die familiären und gesellschaftlichen Zwänge sind vielleicht zu der Zeit so streng, dass er einfach nicht aus kann. Ich bin auch noch nicht so weit mit der Lektüre, aber es würde mich wundern, wenn Pamuk das nicht auflöst.
 

Literaturhexle

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aber es würde mich wundern, wenn Pamuk das nicht auflöst.
Da könnt ihr sicher sein! Pamuk wird es auflösen.
Aber darüber hinaus war eine Brautentführung eine verbotene Sache und brachte (paradoxerweise) auch die Braut in Misskredit- selbst wenn sie nichts davon wusste und Opfer war. Der Vater hätte das Recht, sie zu verstoßen und zu einem "gefallenen " Mädchen zu machen. Zumindest habe ich diese Kenntnis aus einem anderen Roman (lesen bildet!), dessen Name mir aber gerade nicht einfallen will:(
 
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Der Vater hätte das Recht, sie zu verstoßen und zu einem "gefallenen " Mädchen zu machen. Zumindest habe ich diese Kenntnis aus einem anderen Roman (lesen bildet!), dessen Name mir aber gerade nicht einfallen will:(

In diesem Fall ist der Vater wahrscheinlich froh, dass er seine Tochter unter der Haube hat. Der arme Mann ist ja sonst allein auf sich gestellt, bei den Bemühungen angemessene Männer für seine Töchter zu finden. Die Eine ist dank Mevlut schon mal versorgt. Eine Sorge weniger für den gebeutelten Vater.;)
 
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Helmut Pöll

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Eine Sorge weniger für den gebeutelten Vater.
So kann man es natürlich auch sehen, @Renie . Und wenn man sieht in welchen ärmlichen Verhältnissen sie aufwachsen, dann kann man das durchaus nachvollziehen. Ich gehe mal davon aus, dass der türkische Staat damals nicht besonders gut für unverheiratete Frauen gesorgt hat und eine richtige Berufsausbildung hatten die Mädchen wohl auch nicht. Insofern ging es mit der Verheiratung primär um das Versorgtsein, wenn der Vater mal nicht mehr ist.