Diese Fremdheit in mir

Leseglück

Aktives Mitglied
7. Juni 2017
543
1.272
44
67
So ich habe den Roman gerade zu Ende gelesen.

Ich finde das Buch insgesamt sehr gelungen! Wie schon von euch geschrieben ist der Roman sehr vielschichtig. Ich habe das Gefühl, dass mir ein Bild von Istanbul gezeigt wurde, von dessen viel zu rascher Expansion, von seinen unterschiedlichsten Bewohnern von der seiner Balance zwischen Moderne und osmanischer Tradition.

Der nostalgische, introvertierte Mevlut eignet sich wunderbar als Stadtchronist. Er streift für uns unermüdlich durch Istanbul, besucht alle möglichen Menschen und versucht der Stadt zuzuhören. Seine "verdrehte" Liebesgeschichte finde ich hat was besonderes und hält die ganzen Episoden irgendwie zusammen.

Die Wehmut von Mevlut über das Verschwinden des alten Istanbul kann ich einerseits verstehen, andererseits war früher sicher auch nicht alles so idyllisch wie man denken könnte - im Gegenteil.
In Teil IV ist schön dargestellt, dass er als Straßenverkäufer nicht mehr zeitgemäß ist: verzweifelt sucht er geeignete Verkaufsstellen, die Hunde knurren ihn an, er kann mit dem Wagen nicht durch Unterführungen, schließlich beschlagnahmt die Polizei sein Verkaufswägelchen. Das wiederum wird von der Familie betrauert. Nicht nur die Geldquelle auch ein Stück Identität ist dadurch verloren.

Es gibt immer wieder philosophische Überlegungen von Mevlut z.B. über die Absicht des Herzens und die Absicht der Zunge...usw. Darüber habe ich (noch) nicht so nachgedacht...hat euch das angesprochen?

Gestern habe ich auf you tube mal diese Boza- Rufe angehört, aufgenommen von Istanbul touristen. Klingt schon beeindruckend, diese Rufe in der Nacht, auf einsamen Straßen. Die Rufe gehören sicher bei vielen Istanbulern zu Kindheits- und Jugenderinnerungen...ich könnte mir vorstellen, dass ein Boza Verkäufer nostalgische Gefühle bei den Leuten auslöst - wie Mevlut ja manchmal denkt.

Übrigend muss dieses Boza, ein dickflüssiges, krümeliges gelbes Getränk für unsere Gaumen furchtbar schmecken,halb vergoren und sauer - also nur was für Insider!
 

Helmut Pöll

Moderator
Teammitglied
9. Dezember 2013
6.575
11.113
49
München
Der nostalgische, introvertierte Mevlut eignet sich wunderbar als Stadtchronist. Er streift für uns unermüdlich durch Istanbul, besucht alle möglichen Menschen und versucht der Stadt zuzuhören. Seine "verdrehte" Liebesgeschichte finde ich hat was besonderes und hält die ganzen Episoden irgendwie zusammen.
Da stimme ich Dir zu, @Leseglück . Diese "verdrehte" Liebesgeschichte ist letztlich aber ein Glück für ihn. Ich habe vorhin gerade die Stelle gelesen, wo er sagt, dass er mit Samiya nicht glücklich geworden wäre.

Vielleicht ist das auch zu weit hergeholt, aber manchmal musste ich auch an Sten Nadonys Entdeckung der Langsamkeit denken. Dessen Held nimmt die Dinge auch hin und antwortet mit seinem eigenen Tempo darauf.
 

Leseglück

Aktives Mitglied
7. Juni 2017
543
1.272
44
67
Vielleicht ist das auch zu weit hergeholt, aber manchmal musste ich auch an Sten Nadonys Entdeckung der Langsamkeit denken. Dessen Held nimmt die Dinge auch hin und antwortet mit seinem eigenen Tempo darauf.

Ich habe :"Die Entdeckung der Langsamkeit" nicht gelesen, aber von den entsprechenden Buchbeschreibungen her, scheint es tatsächlich Ähnlichkeiten zwischen den beiden Helden zu geben.

Ganz am Ende des Romans gibt es noch mal eine neue Perspektive auf die "verdrehte" Liebesgeschichte...finde ich interessant.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.196
49
Ganz am Ende des Romans gibt es noch mal eine neue Perspektive auf die "verdrehte" Liebesgeschichte...finde ich interessant.
War es nicht so, das Mevlut am Ende erkennt, dass er seine Frau viel mehr geliebt hat als er dachte, und sie auch besser zu ihm gepasst hatte aus seiner Sicht.
Tragisch jedoch, dass er da bereits Witwer war und es ihr nicht mehr sagen konnte...

Ich fand dieses Ende toll. Ist es nicht so, dass viele Menschen immer dem hinterher hechten, was sie gerade nicht haben. Wenn sie das Ersehnte dann doch erreichen, stellt sich das Lebensglück jedoch immer noch nicht ein und es gibt ein neues Objekt der Begierde....

Da hat dieses Buch doch eine schöne Moral am Schluss...
Ich habe übrigens jede Seite genossen. Längen hatte ich für mich keine festgestellt.
 
  • Like
Reaktionen: Leseglück

Leseglück

Aktives Mitglied
7. Juni 2017
543
1.272
44
67
Zu den Liebesbriefen an die falsche Braut gibt es noch eine neue Perspektive am Ende und zwar
die schöne jüngere Schwester hatte Mevlut schon man gesehen in ihrem Dorf bevor er die Briefe geschrieben hat. Er hat ihr jedoch nicht gefallen, so dass sie ihn nicht genommen hätte, selbst wenn die Briefe ihren Namen gehabt hätten

Letztendlich hätte Süleyman im Sinne von Mevlet nichts besseres tun können, als die Namen zu vertauschen!Wobei natürlich das Entscheidende ist, dass Mevlut erkennt, dass er seine erste Frau wirklich geliebt hat.
Es ist wie du schreibst @Literaturhexle eine schöne Moral. Ein ersehntes Ziel würde einen vielleicht gar nicht glücklich machen, wenn man es erreichten würde.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
49
62
Essen
So, ich bin durch mit dem Buch und freue mich, es gelesen zu haben. Und zwar nicht nur, weil ich mich jetzt wesentlich besser vorbereitet fühle für die Lesung mit Pamuk, die ich im Oktober besuchen werde, sondern auch, weil mir das Buch wirklich gut gefallen hat. Allerdings bleibe ich dabei: mit einigen Längen und schwächeren Teilen in der Mitte. Mich hat an dem Buch und der Thematik sehr viel mehr die "Person" Istanbul interessiert als die Personen rund um die Familien Aktas/Karatas. Und diese "Person" wurde herausragend beschrieben in den Teilen I bis III, trat dann zugunsten eher privater Schwerpunkte in den Teilen IV und V etwas in den Hintergrund, und tauchte dann in den kürzeren Schlussteilen VI und VII zum Glück vermehrt doch wieder auf. In den Mittelteilen hat mir die mich faszinierende Vielstimmigkeit des Schreibstils gefehlt. Es geht auch in diesen Teilen u.a. um die sich weiter verändernden Wohnverhältnisse samt Umfeld der Familienmitglieder in dem explodierenden Stadtkosmos von Istanbul. Aber es tauchen plötzlich nicht mehr die direkten "Zu-Wort-Meldungen" Außenstehender auf. Zum Beispiel die des großen und erfolgreichen Bauunternehmers Vunat (richtiger Name?), oder anderer von den gesellschaftlichen Veränderungen im Großraum Istanbul Getriebener. Die Geschichte konzentriert sich verstärkt auf die Großfamilie Aktas/Karatas, die einfach von der Frage: Wer ist denn nun die richtige Frau für Mevlut? nicht lassen kann, auch nach Jahrzehnten nicht, in denen Mevlut glücklich mit Rayiha lebt. Dieser (für mich) Schein-Konflikt hat für mich nicht den Roman getragen und überdeckte zu sehr die Informationen darüber: Wie geht es weiter mit Istanbul bzw. den ganzen verschiedenen Wohneinheiten / Vierteln, die diesen Großstadtmoloch bilden.
Mit dieser kleinen Kritik und dem Bedauern, dass es für mich nicht so interessant weiterging wie am Anfang gedacht und erhofft, ziehe ich das Fazit:

Ein toller Roman über eine expandierende Großstadt und die Zuzugsgesellschaft aus dörflichen Strukturen. Wenn ich das nächste Mal in der Türkei und insbesondere in Istanbul sein werde (im Augenblick nicht so einfach leider) werden mir viele Bilder, Namen, Örtlichkeiten und Sitten aus dem Buch durch den Kopf schießen. Das ist es, was ich für mich von einem guten Buch erwarte (Reisen im Kopf, nenne ich das) Danke und Respekt für einen großen Schriftsteller.
Anjuta
 

Helmut Pöll

Moderator
Teammitglied
9. Dezember 2013
6.575
11.113
49
München
Ein toller Roman über eine expandierende Großstadt und die Zuzugsgesellschaft aus dörflichen Strukturen. Wenn ich das nächste Mal in der Türkei und insbesondere in Istanbul sein werde (im Augenblick nicht so einfach leider) werden mir viele Bilder, Namen, Örtlichkeiten und Sitten aus dem Buch durch den Kopf schießen
Dem kann ich nur zustimmen, @Anjuta .

Mir sind nochmal die Hunde aufgefallen. Sind sie nicht auch nochmal Thema im Gespräch mit dem spirituellen Meister? Sie scheinen so eine Art Wächter der Wahrheit zu sein, indem sie spüren, wenn jemand unehrliche Absichten hat. @Renie
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
49
62
Essen
So, ich bin durch mit dem Buch und bin sehr froh, es gelesen zu haben, nicht nur als gute Vorbereitung auf meine Lesung mit Pamuk im Oktober, sondern auch weil mir das Buch gut gefallen hat.
Allerdings bleibe ich bei der Einschränkung: In den Mittelteilen IV und V verliert der Roman für mich seine große Stärke, nämlich die Vielstimmigkeit und den Blick in die Vielfalt der expandierenden Stadt Istanbul. Er konzentriert sich viel stärker auf die privaten Probleme und Konflikte der Familie Aktas/Karatas und die immer wieder neu aufgewärmte Frage, wer denn nun die richtige Frau für Mevlut ist. Da lebt er schon viele intensive Jahre glücklich mit Rayiha zusammen, was die Frage, wer in der Vergangenheit in seinen Briefen eigentlich gemeint gewesen war, für mich wirklich obsolet macht. Ich vermisste in diesem Teil das direkte Zu-Wort-Kommen all der vielfältigen Akteure in diesem spannenden Stadtkosmos. wir hören/lesen immer wieder von dem erfolgreichen Bauunternehmer Vunat (?), aber was hat er selber zu sagen? In Teil I-III hätten wir das von ihm selber gehört, jetzt bleibt er eine Figur im Hintergrund. Schade!
Zum Glück findet der Roman in den kürzeren Schlusskapiteln VI und VII dann aber wieder zu seinen Stärken zurück und rückt die "Person" Istanbul wieder mehr in den Mittelpunkt.

Mein Fazit insgesamt: ein sehr lesenswertes Buch, an das ich bei nächsten Reisen in die Türkei (derzeit etwas schwierig leider) oft denken werde und mir Bilder, Figuren, Situationen, Sitten etc. durch den Kopf gehen werden. Und genau das erwarte ich von einem guten Buch (Reisen im Kopf).
Ein toller Schriftsteller, den ich da demnächst in echt werde sehen und hören können. Jetzt werde ich mal die Chats über die anderen Pamuk Bücher lesen und bin gespannt auf weiteres Interessantes und Anregendes.
Anjuta
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Leseglück

Aktives Mitglied
7. Juni 2017
543
1.272
44
67
Mir sind nochmal die Hunde aufgefallen. Sind sie nicht auch nochmal Thema im Gespräch mit dem spirituellen Meister? Sie scheinen so eine Art Wächter der Wahrheit zu sein, indem sie spüren, wenn jemand unehrliche Absichten hat. @Renie

Ja, genau: Die Hunde sind Wächter, das ist genau das richtige Stichwort meiner Meinung nach. Der spirituelle Meister sagt sinngemäß, dass Hunde genau spüren wenn einer nicht zu den Istanbulern gehört bzw. wessen Absichten nicht gut sind.
Mit dem e-reader konnte ich feststellen, dass der Begriff "Hunde" über 100 mal im Roman auftaucht...ganz sicher nicht unbeabsichtigt vom Autor!
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Helmut Pöll

Moderator
Teammitglied
9. Dezember 2013
6.575
11.113
49
München
Ich bin jetzt fast durch mit "Diese Fremdheit in mir". Längen hin oder her, was für mich bleibt ist ein beeindruckendes Buch, an das ich mich immer gerne erinnern werde. Orhan Pamuk hat nicht nur die Geschichte Istanbuls und damit der Türkei im Lauf der letzten Jahrzehnte erzählt, sondern auch die Geschichte eines ganzen Lebens. Und es ist die Erzählung eines ganz einfachen Lebens, das im Grunde alle entscheidenden Fragen eines Daseins widerspiegelt.