3. Leseabschnitt: Seite 100 bis 148

Literaturhexle

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3. Leseabschnitt: Seite 100 bis 148

Letzter Halbsatz: "..., der einzige, der nicht mit Papieren vollgeräumt war."
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Na, jetzt lichten sich allmählich doch die Fragezeichen und die Puzzlesteinchen fügen sich zusammen. Sehr bewegend geschildert ist der ganze Handlungsstrang um die sterbende Mutter. Sehr geschickt springt der Autor von einem Thema zum anderen. Meistens fühlt sich das für mich recht organisch an, nur manchmal setzt er einen schmerzenden Cliffhanger.

Mit gefallen auch seine Wortschöpfungen. Ich habe mir leider nicht alle markiert, aber ich denke, ihr wisst, was ich meine. "Erinnerungsgefängnis" ist so ein Wort. Da muss man gar nicht mehr viel zu sagen, das hat die Freundin wunderbar auf den Punkt gebracht. Auch so ein Wort ist "der Herumreiser", wie gesagt, es gibt einige.

Die Mutter hatte auch Schwierigkeiten mit dem Ankommen, durch den Tod hat sie sich dem entzogen. Nun muss Karsten allein ankommen. Der Vater spielt nach wie vor keine wesentliche Rolle, außer, dass er arbeiten geht. Wir erfahren, dass er schon einmal Flüchtling aus Lothringen war. Die vielen Todesfälle: Das muss doch auch wieder so ein Traum von unserem Erzähler sein? So viele Leute aus einem Ort werden doch nicht umgebracht? Ist das seine Phantasie, erklärt mit dem Satz: "Ich ging wie ein Messer durch die Stadt." 134

Über die Schule erfahren wir nur Boshaftigkeiten, die Lehrer müssen ja ganz schlimm sein. Aber Achtung: Schülerperspektive;)
Zur Beerdigung kommen sie alle. Heuchler, die sie sind. Karsten fühlt sich erneut von Burki beobachtet. Ein paar Monate später im November geschieht das mit der Geige, was nie angezeigt wird (wegen der Fotos evtl.).
Nun das Wiedersehen in Italien. Burki erfährt den Namen über das Notizbuch. Hier haben wir einen Cliffhanger:
Ich erkannte ihn erst, als er über mir stand und mit einem Stein ausholte. 138

Er zitiert seine verheiratete Geliebte nach Italien. Dann wird sie eifersüchtig. Er will ihr nichts vom heiligen Ort erzählen und fingiert ein Stelldichein mit Mariam, auf die sie (zuvor grundlos) eifersüchtig war. Versteht ihr das? Ich hatte gedacht, er würde etwas für die Frau empfinden. Warum ist diese Episode wichtig? Mariam ist jetzt auch weg, obwohl er ihr angeboten hatte, sie ein Stück weiter in den Norden mitzunehmen. Ihr Schicksal wird so ganz nebenbei erzählt, auch sie ist ein Flüchtling.

Den linksradikalen Freund auf Sardinien kann ich noch nicht zuordnen. Haben wir über ihn schon was gehört? Nun ist er tot und Karsten sucht seine Spuren. Komisch, komisch...
 

RuLeka

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Die vielen Todesfälle: Das muss doch auch wieder so ein Traum von unserem Erzähler sein? So viele Leute aus einem Ort werden doch nicht umgebracht? Ist das seine Phantasie, erklärt mit dem Satz: "Ich ging wie ein Messer durch die Stadt." 134
Diese Szene hat mich auch stark irritiert. Wunschdenken? Gewaltphantasien, um sich an all denen, die wortführend sind im Ort, zu rächen?
Die Mutter hatte auch Schwierigkeiten mit dem Ankommen, durch den Tod hat sie sich dem entzogen.
Was war das für eine Krankheit? Juckreiz, gelb gefärbte Haut, Blutlache…
Dass man sich nach einem Jahr noch nicht angekommen fühlt, ist vorstellbar. Aber äußert sich das in so einer Krankheit?
Manche Fragen, die ich mir stelle, resultieren daraus, dass der Erzähler diese Geschehnisse als Kind erlebt und deshalb keine weiteren Erklärungen abgeben kann.
Versteht ihr das? Ich hatte gedacht, er würde etwas für die Frau empfinden. Warum ist diese Episode wichtig?
Der Erzähler ist einer, dem seine Einsamkeit wichtiger ist als jede Bindung. Statt der Geliebten zu sagen, er möchte in Ruhe irgendwo draußen sitzen, lässt er sie im Glauben, er betrüge sie. Nur um mit Niemanden etwas zu teilen.
Ein sonderbarer Mensch. Seine Einsamkeit als Kind rührte zu einem gewissen Grad auch daher, dass er niemanden an sich heranließ
Auch in seiner früheren Heimat scheint er keine richtigen Freunde gehabt zu haben. Im Traum lässt er die Kinder von dort im Wald verbrennen. Einzig die behinderte Christine ( Downsyndrom?) lässt er überleben. Sein Fahrrad gönnt er ihr aber auch nicht.
Über die Schule erfahren wir nur Boshaftigkeiten, die Lehrer müssen ja ganz schlimm sein
Solche Erlebnisse kennen die meisten, die in jenen Jahren Schüler waren.
Zur Beerdigung kommen sie alle. Heuchler, die sie sind.
Sind sie das ? Oder sieht nur der Erzähler das so? In kleinen Orten sind bis vor wenigen Jahren alle bei beinahe jeder Beerdigung mitgegangen. Manche bleiben Außenseiter, weil sie das so wollen.

Die Sprache ist großartig und Atmosphäre schaffen, das kann Gert Loschütz. Aber mit dem Protagonisten kann ich wenig anfangen. Der bleibt mir sehr fremd. Einer, der nur beobachtet und sich ansonsten absondert.
Seine Liebesbeziehungen - sehr sonderbar.
Eher schafft er Bindungen zu Männern: Götz, der linke Aktivist
 

Christian1977

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Die vielen Todesfälle: Das muss doch auch wieder so ein Traum von unserem Erzähler sein? So viele Leute aus einem Ort werden doch nicht umgebracht?
Das kommt mir auch ausgedacht vor. Ich dachte allerdings nicht an einen Traum, sondern an gewisse Mordfantasien Karstens.
Versteht ihr das? Ich hatte gedacht, er würde etwas für die Frau empfinden. Warum ist diese Episode wichtig?
In meinen Augen ist das wieder die Sehnsucht nach Plothow, die einfach alles andere überlagert. Alles an diesem Ort erinnert ihn an den Kanal in Plothow. Er möchte und kann diese Erinnerung nicht mit der verheirateten Frau teilen.
Den linksradikalen Freund auf Sardinien kann ich noch nicht zuordnen. Haben wir über ihn schon was gehört?
Nein, er ist neu und wird wohl im letzten Abschnitt eine größere Rolle spielen.
 
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Christian1977

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Die Mord- bzw. Todesfälle in Wildenburg haben mich irritiert. Wie oben geschildert vermute ich Tötungsfantasien beim Jungen Karsten, die aus ihm dann in diesem Fall aber einen unzuverlässigen Erzähler machen würden. Kann man dann noch alles andere für bare Münze nehmen?

Das langsame Dahinsiechen der Mutter habe ich als sehr traurig empfunden. Insbesondere die Stelle mit der Berührung der Mauer als Abschied vom Zuhause (nicht der Heimat), die dann auch für Karsten eine zusätzliche Bedeutung erhält.

Die Szene rund um Burckhardt und den Geigenkasten habe ich wunderbar erzählt und wie aus einem Film Noir wahrgenommen. Diese November-Stimmung, die trüben Lichter, die Dunkelheit, schwarz-weiße "Schmuddelbildchen" - für mich ein toller Moment.

Unausgegoren bleibt bei Karsten die Beziehung zu Frauen. Sowohl zu Vera, mit der er ja nicht mehr zusammen zu sein scheint (?), dann die Verheiratete und Mariam, zu der er sich wohl zugehörig fühlt, weil auch sie ihre Heimat verloren hat. Über allem schwebt einfach diese Entwurzelung der Kindheit...
 
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Christian1977

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Und wenn einer so was nicht mit der Frau, die er liebt, teilen kann, dann pfeif ich auf den Mann und dessen Liebe.
Ich weiß gar nicht, ob er sie wirklich liebt, oder ob das nicht nur eine Begegnung ist, mit der er seine Einsamkeit verringern möchte. Was er dann aber doch nicht kann wegen der Plothow-Erinnerung.
An Gelbsucht habe ich zuerst auch gedacht, aber weshalb das Blut.
Und bekommt man das von Heimweh?
Ich glaube, von Heimweh kann man so gut wie alles bekommen. Sprich, die Psyche kann den Körper krank machen. Das mit den Blutungen kann wohl ein Symptom sein:
"was zu Blutungen in der Speiseröhre und gelegentlich auch im Magen führen kann" heißt es auf der verlinkten Seite. Aber das ist nur eine Vermutung.
 

RuLeka

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kingofmusic

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Die Szene rund um Burckhardt und den Geigenkasten habe ich wunderbar erzählt und wie aus einem Film Noir wahrgenommen. Diese November-Stimmung, die trüben Lichter, die Dunkelheit, schwarz-weiße "Schmuddelbildchen" - für mich ein toller Moment.
Was ich an der Szene nicht verstanden habe: stammen die Fotos von Burckhardt? Hab ich da was überlesen? Ansonsten gebe ich dir vollkommen Recht: das war eine beeindruckend morbid-dunkle Szene.
 

RuLeka

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Was ich an der Szene nicht verstanden habe: stammen die Fotos von Burckhardt? Hab ich da was überlesen? Ansonsten gebe ich dir vollkommen Recht: das war eine beeindruckend morbid-dunkle Szene.
Ich glaube nicht. Karsten hat sie in der Telefonzelle gefunden und da sie bei B. auf Interesse gestoßen sind (klar, ein junger Kerl und zu diesen Zeiten ohne Internet kam man nicht so leicht an Photos von nackten Frauen heran), hat er den Mund gehalten.
 

kingofmusic

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Der Erzähler ist einer, dem seine Einsamkeit wichtiger ist als jede Bindung. Statt der Geliebten zu sagen, er möchte in Ruhe irgendwo draußen sitzen, lässt er sie im Glauben, er betrüge sie. Nur um mit Niemanden etwas zu teilen.
Das wird aber (finde ich) sehr schlüssig hier erklärt:
Ich konnte sie weder dahin mitnehmen noch ihr davon erzählen, weil ich fürchtete, das Wunder des Aufgehobenseins, das ich dort empfand, würde im gleichen Augenblick zerstört. (S. 125)
 

kingofmusic

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Ich glaube nicht. Karsten hat sie in der Telefonzelle gefunden und da sie bei B. auf Interesse gestoßen sind (klar, ein junger Kerl und zu diesen Zeiten ohne Internet kam man nicht so leicht an Photos von nackten Frauen heran), hat er den Mund gehalten.
Aber das "Interesse" wäre dann ja kein Grund gewesen, den Geigenkasten zu demolieren ha ha ha.
 

RuLeka

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Aber das "Interesse" wäre dann ja kein Grund gewesen, den Geigenkasten zu demolieren ha ha ha.
Das natürlich nicht. Das Interesse erklärt nur, warum B. niemandem erzählt, wer die Geige zerschlagen hat.
Karsten zerschlägt die Geige, weil er sich schon lange von B. mies behandelt fühlt.
 

kingofmusic

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Das langsame Dahinsiechen der Mutter habe ich als sehr traurig empfunden. Insbesondere die Stelle mit der Berührung der Mauer als Abschied vom Zuhause (nicht der Heimat), die dann auch für Karsten eine zusätzliche Bedeutung erhält.
Das wird auch recht deutlich, als der Erzähler sagt, dass seine Mutter immer einen Funken Triumph im Blick gehabt hätte, wenn er sich im Krankenhaus von ihr verabschiedet hat
im Innersten, dachte ich, wenn ich ihren Blick sah, triumphierte sie auch, wenn sie sich im Bett aufrichtete und mir nachsah, sie triumphierte, weil ich in die Stadt hinein mußte, während sie einen Weg gefunden hatte, sich ihr zu entziehen. (S. 113)
Wieviel Bitterkeit steckt in so einem Satz? *Gänsehaut*
 

Barbara62

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Na, jetzt lichten sich allmählich doch die Fragezeichen und die Puzzlesteinchen fügen sich zusammen.
Ja und nein. Einerseits erfährt man Details zu Sätzen, die man vorher nicht verstehen konnte, andererseits werden neue "Baustellen" eröffnet: die Morde, eine Frau, die in ein Zimmer bei ihm einzog, warum Vera es nicht lange am Urlaubsort ausgehalten hat... Inzwischen weiß ich, dass die Frage jeweils im nächsten Abschnitt geklärt werden und ich bin zuversichtlich, dass das so bleibt.

Was war das für eine Krankheit? Juckreiz, gelb gefärbte Haut, Blutlache…
Ich tippe auf einen inoperablen Bauchspeicheldrüsentumor, der den Gallengang verstopft, daher die Gelbfärbung. Oder ein Gallengangkarzinom. Beides leider damals wie heute in der Regel tödlich.

An Gelbsucht habe ich zuerst auch gedacht, aber weshalb das Blut.
Und bekommt man das von Heimweh?
Wenn ich mit meiner Diagnose richtig liege, hat sie das sicher schon mitgebracht, das wächst nicht zwischen Mai und Herbst.

Was ich an der Szene nicht verstanden habe: stammen die Fotos von Burckhardt? Hab ich da was überlesen? Ansonsten gebe ich dir vollkommen Recht: das war eine beeindruckend morbid-dunkle Szene.
Er vermutet es, denn Burckhardt hat das Geigenattentat nie verraten, wohl aus Angst, dass er sonst wegen der Bilder auffliegt. So habe ich es verstanden.
 

Barbara62

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Ich lese das Buch von Abschnitt lieber, weil ich inzwischen das Prinzip verstanden habe. Alles wird irgendwann erklärt, man muss nur Geduld haben. Es gefällt mir, dass die Abschnitte länger werden und mehr am Stück erzählt wird. Und ein bisschen bin ich stolz, dass ich das Buch schaffe. Ich hatte am Anfang tatsächlich kurz Angst, daran zu scheitern.

Diese Szene hat mich auch stark irritiert. Wunschdenken? Gewaltphantasien, um sich an all denen, die wortführend sind im Ort, zu rächen?
Die Erklärung gefällt mir. Es würde sich einreihen in den Wunschtraum vom Brand Plothows oder den Sprung aus dem Zugfenster.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Aber mit dem Protagonisten kann ich wenig anfangen. Der bleibt mir sehr fremd. Einer, der nur beobachtet und sich ansonsten absondert.
Seine Liebesbeziehungen - sehr sonderbar.
Eher schafft er Bindungen zu Männern: Götz, der linke Aktivist
Das geht mir ebenso. Ich bewundere die Sprache und die erzählerische Dichte, die der Autor schafft, trotzdem lese ich distanziert, weil mir dieser Protagonist fremd ist. Die Figur selbst authentisch, aber sein Festhalten an der alten Heimat und nicht ankommen zu wollen in der neuen Stadt befremdet mich.
Stimmungsbilder kann Loschütz
Stimmt, aber mich kann er nicht in seine Geschichte hineinziehen, ich bleibe distanziert, was in Ordnung ist.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Alles wird irgendwann erklärt, man muss nur Geduld haben. Es gefällt mir, dass die Abschnitte länger werden und mehr am Stück erzählt wird.
Das empfinde ich auch als sehr wohltuend. Ich habe tatsächlich die ersten Seiten Wiedergenesung und jetzt versteht man sie viel besser. Wie Indianer Spirale kommt alles wieder und wir erfahren immer mehr Einzelheiten, die die Vergangenheiten entschlüsseln. Fixpunkt bleibt die verlorene Heimat.