Dass Walter bei einigen Frauen solch einen Stein im Brett hat, ist jedenfalls für mich kaum vorstellbar: Hanne, Lydia...
Er sah früher wohl ziemlich gut aus und das ist wohl auch jetzt noch der Fall, wie Lydia auch direkt sagte.
Nur blieb Herr Schmidt mir irgendwie fremd und auch nicht sonderlich sympathisch
Ich denke, das ist auch die Absicht der Autorin gewesen. Sie will die Seiten eines Menschen zeigen, an den wir aufgrund seiner unsympathischen Art ansonsten keinen Gedanken verschwenden würden. Und nun lesen wir ein ganzes Buch über ihn
Barbara blieb dagegen für mich überraschenderweise recht blass,
Nun ja, Herr Schmidt ist die Hauptfigur des Buches, auch wenn er nicht im Titel steht.
So abrupt wie die Geschichte anfängt hört sie auch auf.
So abrupt finde ich das gar nicht. Barbara wird definitiv sterben (und wenn Herr Schmidt es noch so sehr verdrängt) und mit dem Abholen seines versteckten Sohnes wird Herr Schmidt ein sehr sehr unrühmliches Kapitel seines Lebens zu einem halbwegs versöhnlichen Ende bringen.
Ich sehe in den Andeutungen, dass sich Walter da nicht ganz anständig verhalten und eine Situation zumindest "ausgenutzt" hat
Hmm, glaubst Du ehrlich sie wollte nicht und er hat sie überredet/gezwungen? Die Beiden waren jung, er sah gut aus - da haben wohl Beide nicht viel über Verhütung nachgedacht, die zum damaligen Zeitpunkt wohl mehr darin bestand, sich körperlich überhaupt nicht zu nähern.
Ebenso ambivalent ist Walters Verhalten dem Penner gegenüber.
Erwarte nicht zu viel von ihm. Immerhin hat er ihn auch bemerkt, nicht nur den Hund
In seinem Alter eine 180°-Wendung - das braucht ziemlich sicher mehr Zeit als ein halbes oder ganzes Jahr. Von 'Perfektion' ist er noch weit entfernt, aber ich finde, seine Fortschritte sind sehr bemerkenswert.
Er wehrt sich gegen (auch ärztliche) Hilfe, will möglichst viel alleine schaffen - als Buße?
Glaube ich nicht. Er gehört zu einer Generation, die nicht um Hilfe bitten will (und es vielleicht auch nicht kann). Hilfe zu brauchen bedeutet Schwäche zu zeigen und das ist etwas, das Herrn Schmidt völlig fern liegt, wie ich ihn einschätze. Das zeigt auch seine Reaktion, wenn ihm Mitgefühl gezeigt wird: Ablehnung und Unverständnis. Er versteht nicht, warum, denn er erledigt doch nur die Aufgaben, die er zu tun hat. Und er will es nicht, weil er kein armer Mensch ist, der so etwas braucht.
Ist Walter als Figur stimmig angelegt?
Finde ich schon. Er ist offensichtlich einer der Russlanddeutschen, die es in Russland alles andere als leicht hatten. Aber lies mal selbst:
Unmittelbar nach dem deutschen Angriff am 22. Juni 1941 begann die Zwangsumsiedlung fast aller in der Sowjetunion lebenden Deutschen. Sie wurden entsprechend dem Erlass des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 innerhalb weniger Wochen aus den europäischen Teilen der Sowjetunion nach Osten – vorwiegend Sibirien, Kasachstan und an den Ural deportiert. Die Sowjetunion wollte mit der Umsiedlung eine weitreichende Kollaboration der Russlanddeutschen mit Nazi-Deutschland verhindern.
Bis Weihnachten 1941 registrierten die sowjetischen Sicherheitsapparate 894.600 deportierte Deutsche, bis Juni 1942 1.209.430. Damit wurden gemessen an den Zahlen der Volkszählung von 1939 etwa 82 Prozent der deutschstämmigen Sowjetbürger deportiert. Familien wurden auseinandergerissen, die Menschen wurden mit Viehwaggons transportiert und irgendwo in den Steppen Kasachstans „abgekippt“, wo sie sich Erdhütten gruben und mit Entsetzen dem bevorstehenden Winter entgegensahen. Wieder andere wurden Kolchosen zugewiesen und mussten dort nach Überlebensmöglichkeiten suchen, die man den „Faschisten“ eigentlich gar nicht zubilligte. Gleichzeitig wurden ihre staatsbürgerlichen Rechte aberkannt und ihr Eigentum bis auf ein geringes Handgepäck eingezogen. Die meisten von ihnen waren im Alter zwischen 14 und 60 Jahren und mussten in Arbeitslagern unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Mehrere Hunderttausend – die nicht ermittelte Zahl schwankt um 700.000 – starben in dieser Zeit vor allem an schlechten Arbeits-, Lebens- oder medizinischen Bedingungen.
Die Deutschen wurden der Sonderverwaltung (Kommandantur) unterstellt und praktisch zu rechtlosen Arbeitssklaven gemacht, die dann im Herbst 1941 zusammen mit deutschen Kriegsgefangenen, darunter auch Zivilisten, in die sogenannte Trudarmee (von труд ‚Arbeit‘) interniert wurden. Unter militärischer Willkür mussten sogar Jugendliche bei unzureichender Ernährung und bei extremer Kälte körperliche Schwerstarbeit verrichten. Ein Großteil der Russlanddeutschen hat die vielfachen staatlichen Eingriffe in das vormals eigenständige dörfliche Leben nicht überlebt. Vor allem der Stalinismus zerstörte sowohl Menschenleben als auch die Dörfer und damit die eigenständige Kultur der Deutschen in Russland. Die Kinder der Russlanddeutschen hatten – wenn überhaupt – nur Zugang zu russischsprachigem Unterricht. Deutsch öffentlich zu sprechen blieb noch lange gefährlich und verstärkte die Gefahr, als angeblicher „Faschist“ angefeindet zu werden. Am 26. November 1948 verkündete der Oberste Sowjet, dass die Verbannung „auf ewig“ gelten solle. In Sibirien und Kasachstan wurden die Russlanddeutschen weitgehend von den anderen Sowjetbürgern getrennt in Sondersiedlungen angesiedelt. Diese unterstanden regelmäßig einer sog. Kommandantur mit strengen Meldepflichten, Ausgangsbeschränkungen und Diskriminierungen. Es herrschten lange Zeit lagerähnliche Zustände. Ein Erlass, die Kommandanturen aufzuheben, wurde am 13. September 1955 gefasst und ab Januar 1956 umgesetzt. (Wikipedia)
Ich glaube, all das was er dort erlebt hat, hat er tief in sich vergraben und darüber seinen Panzer angelegt. Er wollte nie mehr der Schwache sein, über den Andere bestimmen durften und ein behinderter Sohn hätte ihn zumindest wieder ansatzweise in eine solche Situation gebracht, wie er vielleicht dachte. Ich will sein Verhalten um alles in der Welt nicht gutheißen, aber ich kann es nachvollziehen und kann ihn deshalb nicht verurteilen, da ich nicht weiß, was er in seiner Kindheit durchmachen musste. Wer weiß, was aus mir geworden wäre ...
Auch die "Berühmheit" auf Medlinskis FB-Seite scheint mir überzogen zu sein,
Du bist einfach zu wenig im Internet
Da braucht es nicht viel um einen solchen Status zu erlangen. Und wenn es eine gute besuchte und viel vernetzte Webseite ist, bist Du schnell mal ein Star. Aber auch genauso schnell wieder vergessen
Dieses Ende kam wirklich überraschend, aber letztlich ist es eine überzeugende Erklärung für die Distanz zwischen Barbara und Herrn Schmidt. Dass sie ihm an ihrem Lebensende noch verzeihen kann, zeigt von ihrer Großmut und dass sie weiß, dass er kein schlechter Mensch ist, aber einfach nicht aus seiner Haut konnte. Auch Herrn Schmidts Verdrängungskünste sind nun nachvollziehbarer: Wer seinen behinderten Sohn so aus seinem Leben verdrängt, als hätte er nie existiert, hat das Verdrängen wirklich perfektioniert. Aber um welchen Preis?
Ein wirklich bemerkenswertes Ende, das immerhin ein bisschen Hoffnung verspricht. Und vielleicht auch ein bisschen Glück für Barbara, auch wenn sie es wahrscheinlich nicht mehr lange genießen können wird.