4. Leseabschnitt: Kapitel 20 bis 25 (Seite 182 bis Ende)

Christian1977

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8. Oktober 2021
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So, die Erzählung hat im vorangegangenen Abschnitt also doch nicht wirklich gelogen. Tatsächlich bleibt der Roman bei seinem Tonfall, seinem Duktus, und auf der Handlungsebene bleiben größere Überraschungen aus. Ich hatte immer noch geglaubt, vielleicht auch ein bisschen gehofft, dass es doch noch weitere Erklärungen geben wird zu diesem letztlich unfassbaren Fall. Bis auf wenige Ausnahmen haben wir nichts mehr von den Figuren außerhalb ihres Lebens in der Gruppe erfahren. Was war es, das Elisabeth so stark beeinträchtigt, gar traumatisiert hat? Wie konnte sich Melodie zu dieser manipulativen Frau entwickeln? Wir wissen es nicht, können es nur vermuten.

Bei der Erzählung des Entsafters hätte ich das Buch schreiend wegwerfen können. Nicht weil ich davon genervt war, sondern weil diese Manipulationen Melodies so unfassbar sind. Aber auch unfassbar leicht zu entlarven. Und dennoch sind die beiden anderen so eingeschränkt, so psychotisch, dass es zwar von Petrus Widerworte gibt, aber er letztlich nicht den finalen und befreienden Schritt geht, sich von Melodie ein für allemal zu trennen.

Das letzte Kapitel hatte dann etwas von einem Thriller. Ich habe mit Muriel gehofft und gebangt, dass Melodie nicht aufwacht. Das hat Gerda Blees sehr spannend umgesetzt. Das offene Finale habe ich als konsequent und ehrlich empfunden. Wir wissen letztlich nicht, was passieren wird, ob Muriel sich noch einmal trauen wird wegen der fehlenden Schlüssel. Doch letztlich scheint es nicht zentral zu sein. Wichtiger ist, dass wir sie im Licht betrachten. Wichtiger ist folglich, dass man Menschen sieht, die aus irgendwelchen Gründen durch das Netz der Gesellschaft zu rutschen drohen oder bereits gefallen sind. Nicht wichtig ist es, für jedes Fehlverhalten eine Erklärung zu erhalten. Das ist letztlich das, was ich aus diesem Roman mitnehme. Neben diesem unvergesslichen Erzählton selbstverständlich.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Ach ich nutze jetzt gleich mal @Christian1977 s Kommentar zur Antwort auf diesen Leseabschnitt, weil er sowieso schon so gut wie alles (immer Christian, WIE IMMER!) vorweggenommen hat, was ich schreiben wollte. ;)
Ich hatte immer noch geglaubt, vielleicht auch ein bisschen gehofft, dass es doch noch weitere Erklärungen geben wird zu diesem letztlich unfassbaren Fall. Bis auf wenige Ausnahmen haben wir nichts mehr von den Figuren außerhalb ihres Lebens in der Gruppe erfahren.
Ja, obwohl wir vorgewarnt wurden, müssen wir uns mit diesen Brotkrumen, die uns vor die Füße geworfen wurden (leider nicht in den Mund) zufrieden geben. Und trotzdem ist es genauso richtig und stimmig und toll konzipiert.
sondern weil diese Manipulationen Melodies so unfassbar sind. Aber auch unfassbar leicht zu entlarven. Und dennoch sind die beiden anderen so eingeschränkt, so psychotisch
I hear you! Aber kleine Korrektur: Tatsächlich nicht psychotisch, sondern vulnerabel, instabil und leider auch schlicht unterernährt und damit zu umfassenderen und erkenntnisreicheren Kognitionen fähig. Leider.
Das letzte Kapitel hatte dann etwas von einem Thriller.
Auch war jede einzelne Beschreibung der Wohnungsumgebung in dem Moment richtig und wichtig aber auch quälend. So gern hätte ich bei diesem Buch mir ein befreiendes Happy End gewünscht, finde es aber gleichzeitig vollkommen sinnvoll hier ein offenes Ende stehen zu lassen. Aber mein kleines hungriges Ich wollte so gern wenigstens eine sich abgrenzende, selbstständige Person sehen.
Und auch schon beim "Kugelschreiber" habe ich Muriel so die Daumen gedrückt. Unter meinem Daumen wäre in dem Moment ein Kugelschreiber kaputtgegangen, hätte ich einen in Händen gehalten.
Wichtiger ist, dass wir sie im Licht betrachten. Wichtiger ist folglich, dass man Menschen sieht, die aus irgendwelchen Gründen durch das Netz der Gesellschaft zu rutschen drohen oder bereits gefallen sind.
Besser kann man es kaum ausdrücken. Ich möchte nur noch gedanklich ergänzen: Und diese Menschen zumindest ansprechen, nachfragen, nicht wie z.B. "die Nachbarn" oder "die von Hellings" wegsehen. Licht ins Dunkle bringen!
 

wal.li

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1. Mai 2014
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So, die Erzählung hat im vorangegangenen Abschnitt also doch nicht wirklich gelogen. Tatsächlich bleibt der Roman bei seinem Tonfall, seinem Duktus, und auf der Handlungsebene bleiben größere Überraschungen aus.
Ja, das ist wohl so. Ich muss gestehen, da hatte ich auf etwas anderes gehofft. Wenigstens, dass es Muriel schafft zu gehen. Aber vielleicht ist es auch schwer sich zu lösen, wenn man wieder in der Situation von vorher ist. Vielleicht hätten sie zu unterschiedlichen Zeiten entlassen werden sollen.
 
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wal.li

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1. Mai 2014
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schlicht unterernährt
Ich habe mich gefragt, erstmal wie man dazu kommen kann, dem Essen entsagen zu wollen. Vielleicht bin ich zu bodenständig, das erschließt sich mir nicht. Tatsächlich denke ich aber auch, dass wenn man nicht genug Nahrung, Flüssigkeit, Nährstoffe bekommt, man auch nicht mehr richtig denken kann und körperlich schwach wird man sicherlich auch.
 

Literaturhexle

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In diesem Abschnitt wird auf das Innenleben, die Zerrissenheit und die Sehnsüchte von Petrus und Muriel eingegangen, die in der Zelle beide für sich Zweifel an der Wohngemeinschaft mit Melodie entdeckt haben. Das wurde ja auch Zeit! Man kann doch nicht einfach vergessen, dass da ein Mensch gestorben ist.

Melodies Gefasel kann einem auf den Zeiger gehen. Ich wette, sie isst ebenso wie der ominöse Maruko heimlich. Ihr merkt man die Schwäche längst nicht so an wie den beiden anderen. Sie cheatet aus meiner Sicht! Brutal, wie sie der hungrigen Muriel das Essen ausredet- nicht mal ein bisschen Gemüsesaft darf sie zu sich nehmen. Auch das Versperren der Tür ist für mich ein klares Indiz, dass das Gefasel vom freien Willen eine Farce ist. Melodie manipuliert und dominiert die anderen. Sie sorgt dafür, dass ihre Regeln eingehalten werden und niemand abhauen kann. Ich habe insbesondere mit Muriel mitgelitten. Sie hat offenbar eine Familie, die sie wieder aufnehmen würde.

Das offene Ende ist stimmig und glaubwürdig. Man hätte sie auch auseinander gehen lassen können - aber auch dann weiß man nicht, was kommt, ob sie wieder Fuß fassen kann, anfangen wieder normal zu leben und zu essen. Alle Mitglieder von Klang und Liebe müssten in Therapie, so labil und haltlos sie sind.
 

Literaturhexle

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Nicht weil ich davon genervt war, sondern weil diese Manipulationen Melodies so unfassbar sind. Aber auch unfassbar leicht zu entlarven
Genau so ging es mir auch. Ihre Manipulation ist so offensichtlich dreist und die anderen haben dem keine Kraft mehr entgegenzusetzen. So wird sie auch ihre Schwester dirigiert haben. Unglaublich!
Wichtiger ist, dass wir sie im Licht betrachten. Wichtiger ist folglich, dass man Menschen sieht, die aus irgendwelchen Gründen durch das Netz der Gesellschaft zu rutschen drohen oder bereits gefallen sind.
Sehr schönes Fazit!!!
habe echt überlegt, ob Melodie die Tür absichtlich verschlossen hat.
Ich bin davon überzeugt. Melodie kennt ihre Pappenheimer und weiß, dass sie die jetzt erst einmal wieder "auf Kurs" bringen muss. In Folge legt sie Hindernisse in den Weg. Ich möchte wetten, dass der Schlüssel auch nicht dort hängt, wo er hingehört... Aber das erfahren wir leider nicht mehr;)
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich habe echt überlegt, ob Melodie die Tür absichtlich verschlossen hat.
Das stand für mich ehrlich gesagt gar nicht zur Debatte, weil ich es nicht für ungewöhnlich hielt. Wir schließen nachts auch ab, lassen den Schlüssel aber stecken. Komisch ist nur, dass er im Wohnzimmer liegt, aber selbst das weiß Muriel ja.
 

Literaturhexle

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Das stand für mich ehrlich gesagt gar nicht zur Debatte, weil ich es nicht für ungewöhnlich hielt.
Aber ein Windspiel in der Tür? Das immer hübsch klingelt, wenn jemand gehen (oder kommen) will? Das kenne ich von kleinen Geschäften, aber nicht von privaten Haushalten...
Dieser Melodie traue ich alles zu, sie ist berechnend und könnte auch nicht alleine leben. Sie braucht Leute, die sie dominieren kann und die an ihr hoch schauen:rolleyes:.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Der letzte Abschnitt ist geprägt von der Spannung, ob einer der Bewohner es schafft, aus dieser Sackgasse umzukehren, auszubrechen.
Muriels Briefe, Petrus Widerstand, selbst Melodies Dissonanzen lassen hoffen und doch bleibt letztendlich alles beim Alten. Die Bewohner kehren in ihr Haus zurück, Muriel wagt noch einen Ausbruch.... aber auch der wird mittendrin einfach so stehengelassen. So fühle ich mich, stehengelassen.
Was passiert denn jetzt? Was ist mit der Beerdigung? Wird sich nochmal irgendjemand einmischen? Kann Lies ihrer Tochter helfen?
Ich habe nichts gegen offene Enden, aber diese hier finde ich dann doch sehr unbefriedigend. Aber es war ja angekündigt. Die Autorin hat sich mit anderen Sachen beschäftigt.
Ich werde das Gefühl nicht los, hier eine halbfertige Sache bekommen zu haben.
 
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ulrikerabe

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14. August 2017
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Wichtiger ist, dass wir sie im Licht betrachten. Wichtiger ist folglich, dass man Menschen sieht, die aus irgendwelchen Gründen durch das Netz der Gesellschaft zu rutschen drohen oder bereits gefallen sind.
besser kann man es nicht zusammen fassen
Das offene Ende ist stimmig und glaubwürdig. Man hätte sie auch auseinander gehen lassen können - aber auch dann weiß man nicht, was kommt, ob sie wieder Fuß fassen kann, anfangen wieder normal zu leben und zu essen. Alle Mitglieder von Klang und Liebe müssten in Therapie, so labil und haltlos sie sind.
Ich kann in diesem Fall mit dem offenen Ende gut umgehen. "Wir" (!) sehnen uns eventuell nach Erklärungen, Lösungen, Happy Ends. Das will uns die Autorin nicht liefern. Das Leben liefert uns das auch nicht immer.
Tatsächlich nicht psychotisch, sondern vulnerabel, instabil und leider auch schlicht unterernährt und damit zu umfassenderen und erkenntnisreicheren Kognitionen fähig. Leider.
danke ♥

Wobei ich Melodie nicht wirklich als labil einstufen kann. Dazu ist sie mir zu manipulativ. Sie gewinnt ihre Energie aus der Abhängigkeit der anderen zu ihr. Erst wenn diese sie verlassen (können) wird sie einbrechen.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Aber ein Windspiel in der Tür? Das immer hübsch klingelt, wenn jemand gehen (oder kommen) will? Das kenne ich von kleinen Geschäften, aber nicht von privaten Haushalten...

Aber das mit dem Windspiel kam doch von Muriel. Oder habe ich das falsch gelesen? Es spielt Melodie natürlich in die Karten. Ich würde auch wetten, dass sie nicht nur wegen Einbrechern abschließt. Aber zumindest das Windspiel ist nicht auf ihren Mist gewachsen.
 
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milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Die letzten Kapitel finde ich sehr stimmig. Die berechtigten Zweifel, die bei Petrus und Muriel aufkommen, aber von Melodies manipulativem Gefasel beschwichtigt werden. Und die Perspektivlosigkeit von Petrus, der eben keine richtige Alternative sieht, weil er sonst keinen Halt findet. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass Hunger und Nährstoffmangel sehr lähmend sind, was das Nachdenken angeht. Ich hatte kurz Angst, dass auch Muriel körperlich nicht mehr kann. Ihr wäre zu wünschen, dass die Flucht gelingt.

Wie ich erwartet hatte, bleiben mehrere Fragen offen. Wirklich unbefriedigend finde ich das allerdings nicht. Es gibt viele Interpretationsansätze. Und letztlich ist es als Außenstehende/r immer schwierig, alles nachzuvollziehen.

Etwas ärgerlich ist bloß, dass Melodie mit der fahrlässigen Tötung durchkommen wird, aus Mangel an Beweisen. Die Justiz ist da wohl machtlos. Auch das war absehbar, ist aber nur schwer zu ertragen.

Ansonsten muss ich sagen, dass ich es nicht so empfinde, dass wir zu wenig über die Hintergründe der vier Protagonisten erfahren. Gerade Melodies und Elisabeths Vergangenheit wird immer wieder thematisiert. Obwohl wir keine Details verraten bekommen, hat sich bei mir schon eine Vorstellung davon entwickelt, wie das Ganze gekommen ist. Nur bei Muriel bleibt die Vergangenheit etwas nebulös, finde ich. Ich denke, das ist aber auch nicht entscheidend. Es ging der Autorin wohl eher darum, ein Phänomen zu beschreiben.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ja. Ich weiß aber nicht mehr, wer seinen finalen Platz bestimmt hat. Melodie traue ich da durchaus Berechnung zu.
Ich schaue aber nicht mehr nach, die Karawane ist weitergezogen;)

Muriel hat es „eigenhändig aufgehängt“, heißt es im Text. Jetzt können wir noch darüber grübeln, ob es Melodie so verfügt hat. Das ist müßig. Aber der eigentliche Vorschlag stammt von Muriel. ;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Obwohl wir keine Details verraten bekommen, hat sich bei mir schon eine Vorstellung davon entwickelt, wie das Ganze gekommen ist
Ja, das ging mir ähnlich. Richtig begeistert hat mich der originelle, perspektivische Erzählstil. Aber an der Story als solcher hatte ich gleichfalls nichts auszusetzen. Manches liegt eben nicht auf dem goldenen Tablett. Da sind wir als Leser gefordert, uns die Leerstellen zu füllen. Für mich war's rund.