1.Leseabschnitt: Teil EINS (Beginn bis Seite 68)

alasca

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13. Juni 2022
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Es geht eher schleppend los, der Staffelstab wird immer weiter gereicht, bis wir bei den handelnden Personen angekommen sind. Ich habe immer noch Probleme, die Personen ihrem Hintergrund zuzuordnen, das geschah so trocken und emotionslos, dass nichts hängen geblieben ist. Am Ende des LA hat sich allerdings das Drama voll entwickelt.

Die Kolonialmächte spielen eine große Rolle, ihre Willkür und Grausamkeit, aber auch das Gute, das sie im Land bewirken (Bildung, Medizin). Aber auch die Landesbürger übervorteilen sich gegenseitig nach Kräften. Solidarität gibt es nicht, oder nur selten. Die verschiedenen Ethnien (Afrikanische Stämme, Inder) scheinen das zu verhindern.

Erschütternd, wie viele Kinder offenbar wie ankerlose Boote durchs Land treiben und versuchen, zu überleben. Die bösartige Pflegefamilie von Afiya, krass. Ein Kind ausbeuten, aber sich für Wohltäter halten. Eine mentale Akrobatik, die man fast schon bewundern muss, sehr glaubwürdig dargestellt.

Die Entscheidung von Iliyas - ein Riesenfehler. Immerhin wird Afiya von Khalifa gerettet.

Sprachlich finde ich das Ganze eher unspektakulär.
 
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alasca

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13. Juni 2022
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Obwohl noch nie selbst etwas von ihr gelesen, sondern nur Besprechungen gesehen/gelesen, hatte ich den Eindruck gewonnen, dass bei der frisch gekürten Annie Ernaux genau beide Komponenten gekonnt zusammenfließen.
Das ist so. Und: Sie ist die Urheberin des autofiktionalen Erzählens. Alle anderen, Knausgard & Co., müssen sich vor ihr verneigen. Ernaux ist eine meiner ganz großen Literaturheldinnen!
 

alasca

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13. Juni 2022
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An Homers Ilias hatte ich auch kurz gedacht, aber das kam mir dann doch irgendwie weit hergeholt vor. Eine andere Erklärung habe ich aber nicht. :think
Das ist schon ganz plausibel. Zu der Zeit waren die klassischen Sagen des Altertums Stoff an jeder weiterführenden Schule und gehörten zur Allgemeinbildung.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Der Anfang war für mich etwas holprig. Das waren erstmal zu viel Informationen. Ich merke, dass ich mich nicht gut auskenne in der deutschen Kolonialgeschichte, außer über Deutsch- Südwestafrika. Das muss sich ändern.
Doch relativ bald war ich dann in der Geschichte.
Und mit Ilyas hat mich das Buch gepackt.
Was für Lebensläufe!
Während es Ilyas bei den Deutschen nicht mal so schlecht geht - wobei es natürlich erschreckend ist, wie er dabei seine eigene Kultur völlig verliert- so hat es seine Schwester viel schlimmer getroffen. Sie wird als Sklavin gehalten, muss allerlei Schikanen aushalten. Aber wie furchtbar ihr Leben ist, wird ihr erst bewusst, als sie eine Alternative erlebt. Umso schlimmer, dass sie ihr Bruder wieder zurückschickt.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Was ich interessant finde: Dass Ilyas aufgrund seiner positiven Erfahrung mit dem deutschen Kaffeeplantagenbesitzer (war er doch, oder?) auch generell gegenüber der deutschen Besatzungsmacht so positiv eingestellt ist, dass er sich sogar freiwillig für deren Krieg mit den Briten als Kanonenfutter meldet.
Das finde ich auch befremdlich. Aber anscheinend haben sich viele Afrikaner als Söldner für die Kolonialherren verdingt. Pervers! Afrikaner kämpfen auf Seiten der Kolonialmächte gegen ihr eigenes Volk. In einem Interview erklärt Gurnah das damit, dass es eine Identität als Afrikaner nicht gab. Die Identität bestand aus Stammeszugehörigkeit, aus sozialer oder ethnischer Zugehörigkeit. Zudem hatte man einen besseren Status, hatte Arbeit und ein Einkommen.
Ilyas hat die Deutschen nicht negativ erlebt. Ihm haben sie Chancen geboten.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Es scheint ihm nicht klar, was die Rückkehr zu Onkel und Tante für seine Schwester bedeutet
Dabei hat er doch gesehen, wie sie dort lebte. Es war ihm schon bewusst, dass sie wie eine Sklavin behandelt wurde. Wahrscheinlich hat er gedacht, wenn er für ihre Unterkunft bezahlt, dass es ihr dann besser geht.
baute Schulen, Krankenhäuser, die auch den ansässigen Menschen zugute kamen.
Das war nicht uneigennützig , aber das war vielleicht nicht so offensichtlich.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Ich empfinde diesen Roman und diese Geschichte bisher als absolute Wohltat (vielleicht auch, weil mich "Die leise Last der Dinge" etwas anstrengt).
Die Lebens- und Hintergrundgeschichten sind vielleicht etwas üppig und detailliert ausgebreitet, aber es wird schon seinen Sinn haben. Zu Beginn musste ich mich allerdings immer wieder konzentrieren, dass ich die Familienvorgeschichte von Khalifa auch behalte und nicht mit Ilyas verwechsle. ;) Erzähltempotechnisch finde ich es noch etwas beruhigt und ich hätte gern noch ein paar mehr Einblicke in die Figuren (besonders wie es auf einmal zu Ilyas Entscheidung kommt, sich der Schutztruppe anzuschließen. Die "Dankbarkeit" einem deutschen Farmer gegenüber und ein Streit mit seinen Bekannten erscheint mir als Motiv etwas zu einfach - zumal er eigentlich hätte wissen müssen, dass er seine Schwester einer Familie von Ungeheuern ausliefert). Aber das ist letztlich nur eine Kleinigkeit.

Im historischen Setting Ostafrikas habe ich mich sofort sehr gut zurecht gefunden - nicht zuletzt, weil ich vor einigen Monaten ja die äußerst umfangreiche Tania Blixen-Biografie von Tom Buk-Swienty gelesen habe und da erkennt man dann das eine oder andere wieder.

Sprachlich und stilistisch bin ich auch zufrieden, sehr zugänglich, sehr lesbar und tatsächlich fesselnd.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Es wird mir irgendwie alles zu stark auserzählt und erklärt. In bessere Worte kann ich mein erstes Gefühl hier gerade nicht kleiden.
Ich empfinde das in Bezug auf die detaillierten Background-Stories so - da erschließt sich mir die Relevanz noch nicht so.
Dass Ilyas aufgrund seiner positiven Erfahrung mit dem deutschen Kaffeeplantagenbesitzer (war er doch, oder?) auch generell gegenüber der deutschen Besatzungsmacht so positiv eingestellt ist, dass er sich sogar freiwillig für deren Krieg mit den Briten als Kanonenfutter meldet.
Ja, aber das ist tatsächlich mein Kritikpunkt...da finde ich die Erklärung zu mager.
Bei aller Dankbarkeit, die Ilyas gegenüber den Deutschen empfindet, ist es mir trotzdem ein Rätsel, warum er seine Schwester im Stich ließ und sich freiwillig für den Kriegsdienst meldete.
Ich könnte es mir tatsächlich nur auf Basis des Ansatzes der postkolonialen Konzepte von Assimilation/Mimesis erklären, mal sehen wie Ilyas sich im weiteren Verlauf des Romans noch entwickelt - vielleicht durchläuft er noch die weiteren Schritte und Phasen... ;) Ich wage mal zu behaupten, dass es in diese Richtung laufen könnte.
Ich habe erst das erste Kapitel gelesen und bin sehr angetan von Sprache und Stil. Die Erzählhaltung ist sachlich. Die Aufstände gegen die kolonialen Eroberer finden, bislang auch für die Protagonisten, nur im Hintergrund statt.
Ich auch - ich empfinde den historischen Kontext bisher auch nur als "Hintergrundrauschen", dass es aber unbedingt braucht, da nun, da Ilyas sich freiwillig meldet, sicherlich etwas davon näher an die Figuren heranrückt.
Gurnah zeichnet auch hier ein differenziertes Bild: es gibt die Unterschiede zwischen Stadt und Land, aber auch innerhalb dieser groben Kategorisierungen gibt es Unterschiede.
Und das setzt er sehr spannend um, all diese Gegensätze und verschiedenen Hintergründe und Hierarchien zwischen Religion (wie eben auch bei der von dir genannten, sehr gelungenen Gebetsszene) und Bevölkerungszugehörigkeit (damit meine ich nicht nur Shangaan, Inder, Deutsch, sondern auch wohlhabend und arm oder gelehrt und ungebildet).
 
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luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Dankbarkeit. Ist das nichts?
Ohne die Besatzer wäre er weiter ohne Bildung und in Armut verblieben. Er will etwas zurückgeben.
Das ist wohl so, aber ich hätte mir an der Stelle vielleicht eine stärkere "Würdigung" des Konflikts "Dankbarkeit vs. Verantwortung (gegenüber der Schwester)" gewünscht. Das war mir einfach ein bisschen dünn.
Er ist ja noch jung und ungestüm;)
Erst einmal das und dann könnte ich mir vorstellen, dass er eben eine recht "typische" Entwicklung - im Sinne postkolonialer Literatur - durchläuft. Im Augenblick erscheint es mir so, als ob er in seiner Hinwendung zu der deutschen Schutztruppe sich noch stärker zu assimilieren versucht - der Beginn in diese Richtung ist ja schon längst gemacht: er spricht die Sprache der Kolonisten, er schreibt die Sprache, er nutzt sie und sie hat bisher seine Karriere begründet, er arbeitet für Vertreter der Kolonialmacht. Auch in der Religion hat er sich schon an sie angenähert, wie man bei der Gebetsszene gesehen hat - seine Geburtsreligion ist ihm fremd, er weiß nicht wie er sich verhalten soll und spielt letztlich "Theater". Sicherlich verdankt er den Deutschen (oder dem deutschen Farmer) viel - unter anderem seine Bildung und seinen sozialen Aufstieg, aber in seinem Fall ist der Kolonialisierung offensichtlich auch recht "erfolgreich", denn seine ursprüngliche Identität wird schon durch Verhaltensmuster und Denkschemen der Kolonisten verdrängt bzw. ergänzt.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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denn seine ursprüngliche Identität wird schon durch Verhaltensmuster und Denkschemen der Kolonisten verdrängt bzw. ergänzt.
Das birgt einen lebenslangen Konflikt. Der eigenen Kultur, dem eigenen Volk entfremdet und nie gleichwertiges Mitglied der Kolonialgesellschaft.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Das war mir einfach ein bisschen dünn.
Es scheint ja auch bereits verfeindete Stämme und Stammesführer zu geben. Zumindest ist von verschiedenen Konflikten und Völkern die Rede. Vielleicht schließt er sich auch den Askari an, weil sie nicht nur von Deutschen geleitet werden, sondern auch gegen feindliche indigene Gruppen zu Felde ziehen?
Hier wäre es schön, wenn man ein Glossar zur Hand nehmen könnte, das objektiv ein wenig von diesen Zusammenhängen beleuchtet.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Der eigenen Kultur, dem eigenen Volk entfremdet und nie gleichwertiges Mitglied der Kolonialgesellschaft.
Dazu hatte ich ein (literarisch wenig ansprechendes aber inhaltlich) interessantes Buch um Angola und Portugal als Kolonialmacht gelesen. Unglaublich viele Angolaner fühlen sich als Portugiesen und wurden dort auch Anfang bis Mitte des 20.Jh. als Arbeiter gern gesehen, haben für Portugal gekämpft, aber im "Mutterland", wie sie es selbst gern bezeichnen, wurden und werden sie nie als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft gesehen. Das hat wohl viele Angolaner verstört als sie nach Portugal ausgewandert sind, weil es sich für sie eigentlich anfühlte, als würden sie endlich in ihr "Mutterland" zurückkehren.
Eine vollkommen verdrehte Welt, da doch Angola ihre Heimat ist, in der sie aufgewachsen sind.

Achso hier noch der o.g. Roman, falls es jemanden interssiert:


Welches Buch ich aber bedingungslos empfehlen kann, weil es den Blick auf verschiedenste afrikanische Länder, deren Kolonialgeschichte und den Verbleib der nach Europa gekommenen Menschen unglaublich gut darstellt und einen Überblick verschafft, den ich in dieser Form nirgends sonst gelesen habe:
Dafür hat der Autor auch den Leipziger Buchpreis erhalten! Zurecht!

Wenn ich es mir recht überlege, sind die Hintergrundinfos zum Thema "Mutterland" und Ankommen in Portugal wahrscheinlich doch eher aus "Afropäisch" gewesen und in "Schwerkraft der Tränen" wurde dies nur nebenbei erwähnt.
 
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milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ich muss zugeben, dass ich von dem Schreibstil Gurnahs etwas enttäuscht bin. Natürlich wirkt da der Nobelpreis mit rein. Ich habe immer die Vorstellung, dass jemand, der diesen Preis bekommen hat, auch einen besonderen Stil hat. Aber dieser erste Leseabschnitt erschien mir recht blutleer runtererzählt.

Mir geht es da leider ähnlich. Sprachlich ist der Roman für mich bisher eine Enttäuschung - zu nüchtern, zu wenig Atmosphäre, zu wenige Bilder. Vielleicht waren meine Erwartungen wegen des Nobelpreises zu hoch. Aber bislang ist der Stil für mich noch kein Grund für Begeisterungsstürme.

Erinnert mich ein bisschen an 1001 Nacht oder Rafik Schami - wobei mir letzterer inhaltlich viel süßlicher daherkam, in dem einen Buch, das ich von ihm las.

Auf den Vergleich wäre ich nicht gekommen. Ich finde, Schami schreibt sehr viel blumiger und wortreicher. Hier habe ich eher das Gefühl, ich lese eine Chronik oder einen Bericht.

Der Anfang war für mich etwas holprig. Das waren erstmal zu viel Informationen.

Ich musste, ehrlich gesagt, auch einige Passagen mehrfach lesen: die vielen Personen, die Lebensläufe, die schnelle Abfolge der Ereignisse. Für mich ist es kein Buch, das ich mal eben so durchfliegen kann. Es braucht schon viel Aufmerksamkeit. Und es fiel mir vor allem im ersten Kapitel schwer, Bilder vor dem geistigen Auge zu sehen. Später wurde es besser, aber so richtig habe ich noch nicht in die Geschichte gefunden.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Hier habe ich eher das Gefühl, ich lese eine Chronik oder einen Bericht.
Diese beiden Bezeichnungen finde ich gerade für den Anfang des Romans auch sehr passend. Danke für das Ausformulieren, manchmal kommt man ja selbst nicht darauf, wie man etwas benennen soll. ;)
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Als ich mit diesem Buch begonnen habe, war ich etwas verwundert über den Schreibstil. Ich kann allerdings nicht wirklich in Worte fassen warum. Ich kann aber Vermutungen äußern. Ich bin sicher mit einer gewissen Erwartungshaltung an dieses Buch herangetreten. Bei einem so ausgezeichneten und dadurch hervorgehobenen Buch erwarte ich auch etwas hervorstechendes, etwas außerordentliches. Aber dieses Gefühl stellt sich bei mir bei der Lektüre leider nicht ein. Auch von dem Autoren habe ich etwas mehr afrikanische Verspieltheit erwartet. Ein Blick in seine Bio erklärt aber einiges. Hätte ich da mal vor der Lektüre hingesehen. Nun gut. Abdulrazak Gurnah ist zwar in Sansibar geboren, ist arabischbantustämmig und spricht Swahili, ist aber schon mit 20 Jahren nach England ausgewandert. Und ich finde genau dies merkt man dem Text an. Hier spricht kein Afrikaner, sondern eine eher nüchtern gehaltene Stimme. Was durchaus schade ist!

Dennoch ist dieses Buch natürlich geschichtlich interessant. Und von diesem Blickwinkel habe ich dieses Buch auch sehr gern gelesen. Dass mich die Charaktere merkwürdig wenig tangieren, mich eher kalt lassen, fand ich allerdings wenig erbaulich.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Was ich interessant finde: Dass Ilyas aufgrund seiner positiven Erfahrung mit dem deutschen Kaffeeplantagenbesitzer (war er doch, oder?) auch generell gegenüber der deutschen Besatzungsmacht so positiv eingestellt ist, dass er sich sogar freiwillig für deren Krieg mit den Briten als Kanonenfutter meldet.
Dies finde ich auch interessant. Ein interessanter Blickwinkel, meist werden die Kolonisatoren ja anders, deutlich negativer von afrikanischen Autoren dargestellt. Aber ist jemand, der mit 20 nach England auswandert noch ein Afrikaner, fühlt er sich noch so oder sieht er sich als Engländer? Aber gut. Andererseits frage ich mich auch, ob dieser Gedanke von mir gerade zielführend ist.