2. Leseabschnitt: Buch Eins, Zweiter Teil (Seite 41 bis 116)

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich folge Mohamed Mbougar Sarr nach wie vor gern, auch wenn die Faszination etwas nachgelassen hat.

Mir erschließt sich vor allem die Besonderheit von T.C. Elimanes Roman noch nicht, denn sein Tagebucheintrag klingt doch ziemlich verschwurbelt. Dennoch finde ich es spannend, wie sich der Ich-Erzähler Stück für Stück annähert. Für mich das Highlight des zweiten Abschnitts.

Die Liebes- und Sexzwischentöne lassen mich hingegen eher kalt. Zudem wirkt es konstruiert, dass Stanislaus ausgesetzt jetzt einen möglichen Hinweis auf T.C. in seinen Übersetzungen findet. Sei's drum, ich bin dennoch gespannt, wie es weitergeht.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Zu wenig gewürdigt habe ich im Beitrag oben die formalen Aspekte. Die Mischung aus Tagebucheinträgen, Zeitungsausschnitten in diesem Abschnitt und den erzählerischen Passagen des ersten Abschnitts halte ich für originell und abwechslungsreich.

Nicht verstanden habe ich, warum der Ich-Erzähler nicht mit seiner Schriftsteller-Kollegin schlafen will, weil er diesen Eid geleisteten hat, der Spinnenmutter aber auch sexuell ins Netz geht?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Mich fasziniert dieser Roman ungemein. Es sind lauter Puzzlesteinchen, die man zusammenfügen muss. Der Erzähler fühlt sich als Schriftsteller, wie auch einige andere aus seiner Clique. Er hat einen Roman geschrieben, dem aber kein großer Erfolg beschieden war. Er ist totat geflasht vom "Labyrinth der Unmenschlichkeit".

Die Parallelen zu diesem Elimane sind offensichtlich. Auch er litt unter dem Druck, ein großes Buch schreiben zu wollen. Schließlich gelang es ihm, es wurde in einem Kleinverlag veröffentlicht, jedoch von der Kritik sehr unterschiedlich aufgenommen. Besonders hart empfand ich den rassistischen Text, der seine "negriden" Vorurteile am Buch belegt sah. Überhaupt spielte die Hautfarbe und Herkunft des Autors bei den Kritikern eine große Rolle - aber klar: Der Roman ist 1938 erschienen. Dem Buch das Genick gebrochen hat wohl der Plagiatsvorwurf, der weite Akzeptanz fand und den Verlag in den Konkurs zwang. Was ist eine Entlehnung, was ein Plagiat? Alles eine Frage der Definition, des guten Willens;)?

Überhaupt gefällt mir Sarrs Schreibstil. Ich kann mir den Erzähler wunderbar von seinem Eifer getrieben vorstellen. Er lässt uns im Tagebuch an seinem Leben teilhaben, berichtet von seiner großen Liebe Aida, die wieder zurück nach Algerien gegangen ist und keinen weiteren Kontakt will. Sein Körper hat ihr die Treue geschworen. Das klingt sehr romantisch, allerdings war er zuvor Siga auch ins Hotel gefolgt - zu allen Schandtaten bereit. Ist wohl eine Frage der Stimmung, vielleicht hatte er auch einfach zu einem Dreier keine Lust.
Diégane ist noch auf der Suche. Auch das Verhältnis zu seinen Eltern ist unterkühlt. Er hat ein gespaltenes Verhältnis zur Heimat.
Beatrice fühlt sich von ihm abgewiesen und sagt ihm ein paar unschöne Wahrheiten, die auf ihn Wirkung haben. Sie hält ihn für unsensibel, blind und wechselhaft. Vielleicht ist sie in ihn verliebt? Ganz Unrecht scheint sie nicht zu haben.

Mir gefallen die kleinen Ausflüge über Literatur, Literaten, Kritiker und Lesende. Wir erfahren einiges über den Schreibprozess und was ein richtig gutes Buch angeblich braucht. Sogar echte Autorennamen tauchen auf, ich mag die literarischen Bezüge ("Bartlebys Antwort: Sie mochte lieber nicht.") Die Wortschöpfungen machen Spaß wie z.B. die "literarische Inkontinenz".

Das Buch erscheint mir bisweilen noch ein bisschen sprunghaft, aber auf eine positive Art und Weise. Ich lese wirklich gerne weiter!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Nicht verstanden habe ich, warum der Ich-Erzähler nicht mit seiner Schriftsteller-Kollegin schlafen will, weil er diesen Eid geleisteten hat, der Spinnenmutter aber auch sexuell ins Netz geht?
Verstehe einer die Männer :p
Letztlich wissen wir natürlich nicht, ob es mit der Spinnenmutter tatsächlich zum Sex gekommen wäre oder ob sein versiegelter Körper vorher dicht gemacht hätte. Er wäre nicht die erste Romanfigur, der so etwas Unangenehmes wiederfährt.
Außerdem hat auch nicht jeder Lust auf Sex im Dreierpack. Aber ich weiß, das war nicht die genannte Erklärung.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Er ist totat geflasht vom "Labyrinth der Unmenschlichkeit".
Ja und das ist natürlich die Grundlage unseres Romans. Aber was ich schade finde, ist, dass wir gar nicht wissen, warum. Wir haben den ersten Satz gelesen, erfahren später etwas über den Inhalt und lesen die Kritiken über Buch und T.C. Elimane. Aber was ist eigentlich das Besondere an dem Buch? Das "Erste Biographem" übte auf mich keine Faszination aus. Sprich, es wird nur behauptet, dass dieses Buch so unglaublich reizvoll sei, aber es wird nicht belegt und auch nicht gesagt, warum Diégane davon so fasziniert ist. Ich glaube, du hast damals auch "Das ferne Feuer" von Amy Waldman gelesen? Da nahm man als Leser direkt teil am "Buch im Buch" und man verstand sofort, was die Protagonistin daran mochte und wie sich später alles in Luft auflöste.
Letztlich wissen wir natürlich nicht, ob es mit der Spinnenmutter tatsächlich zum Sex gekommen wäre
Ich hatte es so verstanden, dass es dazu gekommen ist? Bzw mindestens zum Vorspiel auf S. 32 unten... Gut, ist letztlich auch nicht so entscheidend, aber passte halt nicht zum weiteren Vorgehen Diéganes.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Aber was ich schade finde, ist, dass wir gar nicht wissen, warum.
Mir reicht es im Moment, wie die Leute darüber schwärmen, wie sie es kaum in Worte fassen können... Versuche nie, ein gutes Buch zusammen fassen zu wollen. Das haben wir doch gelernt;)
Das Ferne Feuer habe ich noch nicht gelesen, hätte es aber im Stapel des Grauens.
Gut, ist letztlich auch nicht so entscheidend,
Sie macht ihn richtig heiß, steht dann auf, zieht sich an und singt dieses Lied. Meines Erachtens sind sie über ein stürmisches Vorspiel nicht herausgekommen. Gescheitert ist es aber an ihr zunächst. Vielleicht vergisst er seinen Treueschwur auch ab und an im Eifer des Gefechts nach einem guten Joint? Wir werden sehen.
 

petraellen

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11. Oktober 2020
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Der zweite Teil „Sommertagebuch“ beginnt nicht nur mit einem Tagebucheintrag wie bei dem ersten Teil, sondern besteht durchgängig aus Tagebucheinträgen. Das Besondere ist hier, dass die Einträge sich nicht auf den ersten Teil fortlaufend beziehen sondern in die Vergangenheit zurückreichen vom 11. Juli 2018 bis 25.August und mit einem Auszügen aus dem Tagebucheintrag des fiktiven Autors als erstes Biograph enden.
Mit dieser Vorgehensweise ein Tagebucheinträge werden die Gedanken und Gefühle des verarbeitet und Erinnerungen festgehalten. Die Geschichte bekommt mit diesem formalen Stil Authentizität und wirkt sehr real.

Diégane Latyr Faye begründet seine Tagebucheinträge direkt mit seinen Eintrag am 11.Juli 2018
„Es gibt einen Grund dich zu schreiben, Tagebuch: Um zu sagen, wie sehr mich „Das Labyrinth des Unmenschlichen auslaugt hat“.

Er braucht also jemanden dem er sich mitteilen kann. Nicht täglich , aber kurzen Abständen erfahren wir mehr über den fiktiven Roman und seinem Autor.
Die Tagebucheinträge enthalten nicht nur Gedanken, sondern geben auch Meinungen, Kritiken und unterschiedliche Reaktionen zum fiktiven Roman wider.
Tagebucheintrag 18 August sagt offen: „Stein des Anstoßes ist die Hautfarbe des Schriftstellers. Seine Rasse ist der Skandal. "
( S. 97)

Der letzte Tagebucheintrag von T.C. Elimane fordert , dass Tagebuch zur Seite zu legen und in das „Labyrinth des Unmenschlichen“ abzutauchen.

Der Grundstein ist nun gelegt. Mal schauen was der nächste LA bringt.

Bisher bleibt der Roman spannend, manchmal etwas undurchsichtig. Aber immer weiter auf Spurensuche.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Diégane ist noch auf der Suche. Auch das Verhältnis zu seinen Eltern ist unterkühlt. Er hat ein gespaltenes Verhältnis zur Heimat.
Das habe ich gar nicht so unterkühlt gelesen. Sogar in die andere Richtung: Er will/kann sich nicht so häufig melden, weil es ihn schmerzt, wie sie altern und er ist nicht da. Er ist abwesend in Paris, seine Eltern bemühen sich, wollen, dass er beim Videoanruf von jedem der beiden etwas sieht, zerteilen sich dafür.

Vielleicht ist sie in ihn verliebt?
Das habe ich mich auch gefragt. Aber gerade während solch philosophischen Passagen kann ich den Inhalt des Buches immer recht schwer greifen. Und noch schwerer eine Bedeutung dem beimessen.

Aber was ich schade finde, ist, dass wir gar nicht wissen, warum.
Ich denke, genau dieses Mysterium soll es bleiben. Es ist zumindest für unseren Erzähler das perfekte Buch. Er liest sich in der ersten Nacht in eine Extase, die beim Sex nicht besser hätte entstehen können und ist danach ausgelaugt wie selten ein Mensch. Sprich, dieses Buch ist Mythos. Meine Vermutung ist, wir werden es nie erfahren, eben weil wir es nicht greifen könnten. Weil, wie im Roman behauptet, große Literatur nie zusammengefasst und beschrieben werden kann.

Das "Erste Biographem" übte auf mich keine Faszination aus.
Haha, und genau deshalb kann ich gern auf weitere Ausschnitte oder Beschreibungen des Originalwerks verzichten... Denn ich fand diesen Abschnitt so langweilig wie eine tiefphilophische Abhandlung. Ich habe wenig übrig für philosophische Originaltexte. Da reichen mir Kurzzusammenfassungen. Die Kunst liegt im Auge des Betrachters, und scheinbar ist unser Erzähler ganz gefanden davon. Ich glaube es ihm einfach mal.

Insgesamt hat mir diese Leseabschnitt mehr zugesagt als der erste. Das lag vor allem an den tollen, ellenlangen Sätzen zur Welt der Literatur auf all den beschriebenen Ebenen. Ich vermute, der vorliegende Roman soll all diese Hypothesen an verschiedenen Stellen aufgreifen und ggf. untermauern. Der Text scheint mir unglaublich selbstironisch von Sarr geschrieben zu sein und das macht für mich den interessantesten Teil des Werkes aus. Selbst die "historischen" Zeitungsausschnitte scheinen schon den Finger darauf zu legen, was heutzutage immer noch afrikanischen Autor:innen nahegelegt wird: Schreib etwas "authentisches", mit Exotik, aber bitte nicht zu intellektuell oder gar ein ganz anderes Thema. Schreibst du über mystische Themen, die von den Vorfahren stammen, ist es nicht originell genug, sondern ein Abklatsch. Erwartungen der westlichen Leserschaft an afrikanische Texte. Und und und. Und gleichzeitig besteht ständig diese Parallelität zwischen Erzählinhalt von Diégane, Schreibstil und Meta-Inhalt. Diese Verknüpfung ist es, die mich am Buch reizt.

Mich nerven eigentlich diese bedeutungsschwangeren Passagen in der besonders poetischen Sprache, wenn die auf- (oder unter- ich weiß es nicht mehr)gehende Sonne beschrieben wird, die Stadt usw. Aber ich glaube selbst das könnte Ironie sein, denn sie wird auf Seite 50 rum durchbrochen durch eine gar nicht poetische Aussage. Dort sitzt Diégane auf der Bank und wartet darauf, dass sein Freund "Das Labyrinth..." gelesen haben wird. Alles wird unglaublich aufgeblasen geschildert und dann kommt dieses (frei zitiert): "in einem Zäpfchen in den Arsch der Welt gleiten". Das kann doch nur Ironie auf die hochgestochene Poetik sein, oder?

Tatsächlich lese ich weniger mit Spannung weiter, sondern mit kuriosem Interesse an dieser Mehrschichtigkeit des Romans und der Aussagen, die der Autor damit vielleicht über sich und sein eigenes Schreiben machen wird.
 

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Zu wenig gewürdigt habe ich im Beitrag oben die formalen Aspekte. Die Mischung aus Tagebucheinträgen, Zeitungsausschnitten in diesem Abschnitt und den erzählerischen Passagen des ersten Abschnitts halte ich für originell und abwechslungsreich.
Auch mich begeistert diese Mischung, dazu die Sprache. Dieses Bild, seine Liebe zu Aida als Tennispartie, finde ich großartig, vor allem auch deshalb, weil er diese Bildersprache im gesamten Text sehr gut dosiert einsetzt, nicht zu viel, denn dann hätte es auf mich beim Lesen gewollt gewirkt, so aber genieße ich diese kurzen Abschnitte sehr.
Bei dieser kurzen Aussage auf Seite 59 musste ich laut lachen, oh ja, wie wahr, mir fällt da sofort eine Liste von Beispielen ein: " ... weil die literarische Inkontinenz eine der am weitesten verbreiteten Krankheiten unserer Epoche ist ..."
Nun kennen wir den Hintergrund des Plagiatsvorwurfs, ich frage mich nur, ist es tatsächlich als Plagiat zu verurteilen, den überlieferten Gründungsmythos eines Volkes oder eines Stammes in einen Roman zu verpacken. Hm, vermutlich hätte Elimane, in einem Nachwort, bei den üblichen möglichen Danksagungen auf die Wurzeln, auf den Ursprung der Geschichte hinzuweisen sollen, aber die Einstufung als Plagiat halte ich für weit überzogen.

Diesmal musste ich, abgesehen von der Frage, ob tatsächlich alle der Namen von Schriftstellern, Schriftstellerinnen und Werken fiktiv sind, nur ein Wort nachsehen: Entelechie. Ja, Lesen bildet ...
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Nun kennen wir den Hintergrund des Plagiatsvorwurfs, ich frage mich nur, ist es tatsächlich als Plagiat zu verurteilen, den überlieferten Gründungsmythos eines Volkes oder eines Stammes in einen Roman zu verpacken. Hm, vermutlich hätte Elimane, in einem Nachwort, bei den üblichen möglichen Danksagungen auf die Wurzeln, auf den Ursprung der Geschichte hinzuweisen sollen, aber die Einstufung als Plagiat halte ich für weit überzogen.
Ich finde den Plagiatsvorwurf äußerst fragwürdig. Afrika ist geprägt durch orale Traditionen. Vermutlich gibt es ähnliche Gründungsmythen bei unterschiedlichen Völkern. Dort werden Geschichten erzählt, weitergegeben und mit Sicherheit dabei nicht die Referenzen angegeben. Das ist für eine gute Geschichte überhaupt nicht notwendig. Gut möglich, dass Elimane diese Geschichte irgendwann gehört hat, von ihr inspiriert wurde und sie vielleicht sogar literarisch nacherzählt hat. Jetzt kommt so ein Ethnologe daher, verschriftlicht die Kosmogonie und spielt sich dann noch als Retter der Bassari auf, deren kulturelles Eigentum angeblich geklaut wurde? Geht's noch?. Lassen sich Schöpfungsmythen, Kosmonogien überhaupt "stehlen"? Gehören die nicht der ganzen Menschheit und dürfen deshalb auch erzählt werden? Hier sollte ein guter Schrifttsteller mundtot gemacht werden, weil er nicht ins Bild passte.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Bisher bleibt der Roman spannend, manchmal etwas undurchsichtig. Aber immer weiter auf Spurensuche.
So empfinde ich es bis zu dieser Stelle auch.
Ich denke, genau dieses Mysterium soll es bleiben.
Kann sehr gut sein, zumal wir ja die Belehrung, dass man über die richtig guten Bücher nicht spricht, schon gehört haben;)
Insgesamt hat mir diese Leseabschnitt mehr zugesagt als der erste. Das lag vor allem an den tollen, ellenlangen Sätzen zur Welt der Literatur auf all den beschriebenen Ebenen.
Bin ganz bei dir :helo
aber die Einstufung als Plagiat halte ich für weit überzogen.
Hier sollte ein guter Schrifttsteller mundtot gemacht werden, weil er nicht ins Bild passte.
Genau. So sehe ich das auch. Ein wichtiger Kritiker zieht dieses fadenscheinige Argument aus dem Hut und alle anderen folgen. Da steckt mehr dahinter, zumal das Buch ja auch nicht mehr aufzufinden ist.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Tatschächlich, Circle, habe ich ganau auch dieses eine Wort nachgeschlagen.

Dieses Buch ist auf alle Fälle mal anders
Vllt ein literarisches Experiment.
Anders als (normalerweise) die Experimente, die man auf der Longlist des Deutschen Buchpreises für gewöhnlich findet, durchaus lesbar.

Es gibt so viele ironische Hinweise, Selbstironie, dass ich fast glaube, das Buch/ der Roman will gar nicht so ernst genommen werden. So lange ich ihn ernst nehme, kann ich ihn nicht gut finden ...

Nehmen wir ihn nicht ernst. (Im Nichternsten kann man trotzdem oft Ernstes finden, das wirkt dann sogar noch besser).
- In den Bemerkungen, die Faye seinen Schreiberkollegen unterjubelt - findet sich für mich stets ein Rückbezug; ich habe das Gefühl, er spräche immer über sich selbst, bzw. über den Autoren. Faye spricht über Sarr, wenn er über seinen Bekannten Sanza sagt (S. 57) er hätte einen Hang zum Ausgefallenen und seine Texte wären gespickt mit vergessenen Wörtern (das ist doch Sarr pur - zwar sind es nicht vergessene, sondern Fremdwörter, aber ... da ist eine Korrelation).
- Sarr lässt Stanislas sagen, "ein bedeutendes Buch erzählt immer nur von nichts, und doch steckt alles in ihm".
So siehts aus.
- Dann sagt er zu Musimba, er solle nicht das xte Buch über die Rückkehr ins Land der Geburt schreiben
hoffentlich hält sich Sarr daran, das sagt er doch zu sich selber.

Und warum schreiben sie, die jungen Exilanten/Immigranten: sie wissen es nicht. Oder weil sie nicht wissen, was sie sonst machen sollen.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Das habe ich gar nicht so unterkühlt gelesen. Sogar in die andere Richtung: Er will/kann sich nicht so häufig melden, weil es ihn schmerzt, wie sie altern und er ist nicht da. Er ist abwesend in Paris, seine Eltern bemühen sich, wollen, dass er beim Videoanruf von jedem der beiden etwas sieht, zerteilen sich dafür.
Das habe ich wie du gelesen. Es gibt in dieser Hinsicht auch eine Parallele zu Musimbwa, der nicht gerne über seine Vergangenheit spricht, weil ihn die Erinnerung an seine glücklichen Tage in seiner Heimat traurig machen. (...) nichts macht einen Menschen so traurig wie seine Erinnerungen, selbst wenn es Erinnerungen an glückliche Zeiten sind." Beide vermeiden daher den Kontakt zu den Menschen aus ihrem früheren Leben bzw. denken nicht gerne daran zurück. Das ist ein Selbstschutz.
Ich denke, genau dieses Mysterium soll es bleiben. Es ist zumindest für unseren Erzähler das perfekte Buch. Er liest sich in der ersten Nacht in eine Extase, die beim Sex nicht besser hätte entstehen können und ist danach ausgelaugt wie selten ein Mensch. Sprich, dieses Buch ist Mythos. Meine Vermutung ist, wir werden es nie erfahren, eben weil wir es nicht greifen könnten. Weil, wie im Roman behauptet, große Literatur nie zusammengefasst und beschrieben werden kann.
Davon gehe ich auch aus.
Selbst die "historischen" Zeitungsausschnitte scheinen schon den Finger darauf zu legen, was heutzutage immer noch afrikanischen Autor:innen nahegelegt wird: Schreib etwas "authentisches", mit Exotik, aber bitte nicht zu intellektuell oder gar ein ganz anderes Thema. Schreibst du über mystische Themen, die von den Vorfahren stammen, ist es nicht originell genug, sondern ein Abklatsch. Erwartungen der westlichen Leserschaft an afrikanische Texte.
Unbedingt! Diese Bilder und Erwartungen stecken immer noch in den Köpfen so vieler.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Was sonst noch? Konkretes:
- Eltern sollen und dürfen nicht sterben, ja, sie sollen aber aufhören weiterzuleben, sobald man sie verlässt. Sie zu verlassen ist eine naturgemässe Angelegenheit, aber sie sollen gefälligst mumifiziert so verharren, wie sie im Augenblick des Verlassens geblieben sind. /Ein kindlicher und kindischer Wunsch.
- Sex kann man immer haben, mit wem auch immer, theoretisch aber ist man von einem bestimmten Menschen verbrannt (manchmal auch praktisch für eine Weile). Erinnert mich an den Ausspruch von Gloria v. Thurn und Taxis "der Schwarze an sich schnackselt halt gern". Der Autor will unsere Vorurteile bestätigen. Was machen diese jungen Männer? Sie machen die Nacht unsicher, wünschen sich eine "Alte" aufzugabeln, die sie finanziert, saufen und benebeln sich, genießen ihre Jugend (eigtlich: verschwenden sie) - huren herum, aber "innen" sind sie natürlich rein und unschuldig wie die neugeborenen Kindlein. Ich sehe förmlich die Pariser Nachtszenen vor mir.
- Sex ist ungeheuer wichtig, man muss sich sogar rechtfertigen dafür, wenn man mal nicht will.
Herrlich finde ich auch, wie das Buch "Anatomie der Leere" entstand.

Das Buch Elimanes: ist eigentlich völlig unwichtig. Bzw. sein Inhalt. Ein Mythos. Interessant wiederum, dass es die Geschichte des Gründungsmythos eines afrikanischen Volkes sein soll.
Dessen Autor: Autoren, die sich aus der Öffentlichkeit heraushalten, schüren die Publicity.
Ich verstehe nicht, warum das Buch vom Markt genommen werden musste, diese Gründungsmytosgeschichte darf man doch ... und falls es viele weitere Plagiate gab, warum haben weder Lektoren noch Leser diese bemerkt?

Es gibt Sätze, bei denen zucke ich zusammen, z.B. "der Mond schwoll an, bereit vom Himmel zu fallen" - andere Rezensenten sprechen ganz zu Recht von Pathos (unerträgliches Pathos), und andere Sätze bei denen ich lachen muss: "Ich suchte Zuflucht in der Tiefe des Tellers."

Dann spielt der Autor mit den Ressentiments, die man gegen Schwarze haben kann. Das finde ich wiederum großartig.Ich mag die Ironie. Und ich mag den Aufbau.
Es ist alles mögliche, das Sarr-Buch, aber langweilig ist es nicht.
 
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Irisblatt

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15. April 2022
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Mich fasziniert dieser Roman ungemein. Es sind lauter Puzzlesteinchen, die man zusammenfügen muss.
Der erste Teil dieses Abschnitts war mir fast zu sprunghaft. Da habe ich mich tatsächlich wie in einem Labyrinth gefühlt, das mich permanent in eine ander Sackgasse hat laufen lassen, einmal abgebogen, wieder nix. Als es dann aber um die durchweg rassistischen Besprechungen ging, hatte mich Sarr wieder. Ich bin sehr neugierig, wie es weitergeht.
Die Wortschöpfungen machen Spaß wie z.B. die "literarische Inkontinenz".
Toll :)
Es gibt so viele ironische Hinweise, Selbstironie,
Gefällt mir!
- In den Bemerkungen, die Faye seinen Schreiberkollegen unterjubelt - findet sich für mich stets ein Rückbezug; ich habe das Gefühl, er spräche immer über sich selbst, bzw. über den Autoren. Faye spricht über Sarr, wenn er über seinen Bekannten Sanza sagt (S. 57) er hätte einen Hang zum Ausgefallenen und seine Texte wären gespickt mit vergessenen Wörtern (das ist doch Sarr pur - zwar sind es nicht vergessene, sondern Fremdwörter, aber ... da ist eine Korrelation).
- Sarr lässt Stanislas sagen, "ein bedeutendes Buch erzählt immer nur von nichts, und doch steckt alles in ihm".
So siehts aus.
- Dann sagt er zu Musimba, er solle nicht das xte Buch über die Rückkehr ins Land der Geburt schreiben
Das lese ich auch so.
hoffentlich hält sich Sarr daran, das sagt er doch zu sich selber.
vermutlich!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Beide vermeiden daher den Kontakt zu den Menschen aus ihrem früheren Leben bzw. denken nicht gerne daran zurück. Das ist ein Selbstschutz.
Für die Hinterbliebenen ein brutal wirkender Selbstschutz. Und für den Weggegangenen eine bequeme Entschuldigung, um sich nicht melden zu müssen (Es tut mir so weh, sie in der Ferne einsam zu sehen...).
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Gibt es eigentlich keinen afrikanischen Buchmarkt?
In dieser Zeit wohl noch nicht. Da wurde alles noch mündlich wiedergegeben. Im 3. LA müssen sogar Briefe eines senegalesischen Studenten in Paris den Eltern in der Heimat übersetzt werden. Wahrscheinlich liegt es aber auch daran, dass sie nicht lesen können. Aber der Sohn schreibt die Briefe auf Französisch. Befremdlich!