Miss Kim weiß Bescheid« versammelt die Leben von acht koreanischen Frauen im Alter von 10 und 80 Jahren. Jede einzelne dieser stellvertretenden Frauenbiografien wird vor einem aktuellen gesellschaftlichen Thema in Korea verhandelt: das heimliche Filmen von Frauen in der Öffentlichkeit, Hatespeech und Cybermobbing auf Social-Media-Plattformen, häusliche Gewalt, Gaslighting, weibliche Identität im Alter und die Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz. Auch sich selbst, die plötzlich weltbekannte Autorin, nimmt sie ins Visier. Ihr Erfolg ermöglicht ihr einerseits, ihr Leben als Schriftstellerin komfortabel zu führen, andererseits lässt sie der Hass, der ihr vor allem im Netz begegnet, nicht kalt. Cho Nam-Joos meisterhaftes Können besteht in der glasklaren Sprache, in der sie ihre Prosa verfasst und gleichzeitig in dem genauen Blick auf die Ungerechtigkeiten Koreas, den sie mit nichts verschleiert, sondern im Gegenteil messerscharf zu Papier bringt. Wie schon bei »Kim Jiyoung, geboren 1982« sind auch die Schicksale dieser acht Frauen nicht annähernd so weit von uns weg, wie wir meinen und hoffen. Kaufen
Kaufen
„Kim Jiyoung, geboren 1982“ heißt der Debütroman von Cho Nam-Joo , der mich 2021 sehr beeindruckt hat. Extrem nüchtern, fast distanziert im Ton, wird darin ein typisches Frauenleben aus Südkorea geschildert, das unter die Haut geht und soziale Missstände rund um die Benachteiligung von Frauen in unterschiedlichen Lebensbereichen aufdeckt. Insofern war ich sehr gespannt, was mich mit diesen „Stories“ erwarten würde – ich wurde nicht enttäuscht!
Erneut stellt die Autorin Frauen in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen. Fast immer wählt sie die sehr unmittelbare Perspektive der Ich-Erzählerin, die gerade eine intensive oder fordernde Phase ihres Lebens durchläuft. Cho Nam-Joo kann sich dabei in die verschiedenen Altersstufen ihrer Protagonistinnen hervorragend einfühlen. Sie erzählt ebenso berührend von der betagten Schwester im Pflegeheim, von der es Abschied zu nehmen gilt, wie von der ersten zarten Liebe zweier Fünftklässler, denen die Corona-Regeln das Leben erschweren.
In vielen Geschichten wird deutlich, wie schwer es für junge koreanische Frauen ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Es wird gesellschaftlich erwartet, dass beide Eheleute so lange Arbeitstage absolvieren, dass die Kindertagesstätten diese Zeiten nicht komplett abdecken können. Die Geburt eines Kindes scheint daher eine massive Gefahr für die Karriere der Mütter darzustellen. Es sei denn, sie haben rüstige Omas, die ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der jungen Familien hintenanstellen. Doch auch das birgt Konflikte, wie Nam-Joo vielschichtig darlegt. Immer sind es die Frauen, die die Familie zusammenhalten, die kochen, sorgen und pflegen.
In allen betrachteten Familien steht Bildung hoch im Kurs, alle leben in und um die Hauptstadt Seoul herum. Schon die Kinder gehen nicht nur zum Schulunterricht, sondern besuchen zusätzlich verschiedene Nachhilfeinstitute, die dafür sorgen, dass die Schulnoten überdurchschnittlich gut werden. Nur die Besten kommen weiter, ergattern die begehrten Studienplätze. Fleiß, Ehrgeiz, Disziplin und Strebsamkeit scheinen Grundtugenden der koreanischen Bevölkerung zu sein. Allerdings sind auch Seilschaften und gute Beziehungen von Vorteil für das individuelle Vorankommen, völlig gerecht scheint es gerade in vielen Betrieben nicht zuzugehen, wie die Titelgeschichte „Miss Kim weiß Bescheid“ auf eindrucksvoll-ironische Weise belegt.
Nam-Joo entwirft ihre Szenarien sehr gekonnt, sie stellt uns die Protagonisten vor, die Frauen, die in einem Dilemma stecken. Sehr schnell ist man am jeweiligen Schauplatz angekommen. Die Autorin beweist große Beobachtungsgabe durch ihre Figuren. Wie fühlt es sich an, wenn der 72-jährige Vater plötzlich ausbricht und seine Frau sowie die erwachsenen Kinder ohne Abschied zurücklässt? Was sagen die Tischgespräche über alte Rivalitäten, über Erwartungen, und verdeckte Konflikte aus? Rückt eine Familie in dieser Situation eher zusammen oder auseinander? Erinnerungen und Rückblicke runden die Bilder ab, schaffen Empathie für die einzelnen Generationen.
Auch eine toxische Liebe wird beleuchtet: Zehn Jahre war die Ich-Erzählerin mit Hyunnam zusammen. Ganz langsam hat er seinen Einfluss auf ihr Leben vergrößert, hat sie manipuliert, seinen Willen immer stärker durchgesetzt. Kritisch reflektiert die junge Frau in einem Brief an ihn, wie das hat passieren können.
In der umfangreichsten Erzählung „Die Nacht der Polarlichter“ geht es um Sehnsüchte, Wünsche und Lebensträume. Beschrieben werden auch hier drei Frauengenerationen derselben Familie, denen das Schicksal übel mitgespielt hat, die sich aber aufrappeln und versuchen, der Situation das Beste abzugewinnen. Am Ende steht eine Reise nach Kanada zu den Polarlichtern, die unglaublich nah an den Figuren Atmosphäre und Wärme vermittelt. Egal, ob Schauplätze, Charakterzeichnungen oder Zwischenmenschliches – Cho Nam-Joo überzeugt auf ganzer Ebene. Sie zeichnet kraftvolle, kluge Frauenfiguren, die den Blick nach vorne richten, ohne unglaubwürdigen Optimismus auszustrahlen. Die Erzählungen machen nachdenklich, aber nicht traurig.
Wie nebenbei treten dabei die Missstände der koreanischen Gesellschaft zu Tage. Die Strukturen sind noch immer patriarchalisch geprägt, auch wenn sich das im Laufe der Jahre abgeschwächt hat. Jungen stehen im Ranking eindeutig vor den Mädchen, die meist in Familie, Schule und Beruf benachteiligt werden. Sexuelle Übergriffe werden oft bagatellisiert oder vertuscht. Frauen müssen sich zurücknehmen, tragen die überwiegende Last der (Groß-) Familie und reiben sich zwischen den verschiedenen an sie gerichteten Erwartungen auf. Das ist ein Stressfaktor, der krank machen kann.
Natürlich sind wir in Deutschland schon den ein oder anderen Schritt weiter vorwärts gekommen, doch eine reelle Gleichberechtigung der Geschlechter ist auch hierzulande noch nicht erreicht. Da tut es gut, wenn uns Cho Nam-Joo den Spiegel vorhält, damit wir in unseren Bemühungen um Emanzipation nicht nachlassen.
Ich kann diesen Erzählband nur aus vollstem Herzen empfehlen. Die Autorin findet immer den richtigen Ton, sie nähert sich sensibel ihren Themen an. Die Erzählungen wirken viel wärmer und lebendiger als ihr o.g. Roman. Die Autorin zeigt ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten. „Miss Kim weiß Bescheid“ ist für mich ein feministisches Buch der besten Sorte: Es kommt ohne offenkundige Botschaften aus, es setzt auf eine intelligente Leserschaft, die durchaus in der Lage ist, die latent vorhandene Misogynie zu erkennen und ihre Schlüsse daraus zu ziehen.
Riesige Lese-Empfehlung für alle Menschen, die sich für fremde Kulturen interessieren und gerne wirklich gute Erzählungen lesen.
Lesern von "Miss Kim weiß Bescheid: Storys" gefiel auch...

Das Sandkorn by Christoph...
von:

Am Strand
von: Ian McEwan

Das Schönste, was ich sah...
von: Asta Scheib