Rezension Rezension (3/5*) zu Ich, Antoine: Roman von Julie Estève.

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Buchinformationen und Rezensionen zu Ich, Antoine: Roman von Julie Estève
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Ein Erzähler, mit dem man sich schwertut

Antoine Orsini ist ein armer Teufel. Geistig zurückgeblieben, zu keiner Zeit umsorgt und gefördert, von der Gemeinschaft des korsischen Bergdorfs, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat, wie ein Fußabtreter behandelt, erzählt er seine Geschichte selbst. Keinem Menschen, weil ihm sowieso nie jemand zuhört, sondern einem kaputten Plastikstuhl. Es ist nicht immer klar zu deuten, was er von sich gibt, und seine derbe Ausdrucksweise, mit Schimpfworten und Fäkalausdrücken gespickt, setzt eine gewisse Toleranz beim Lesen voraus ... dies schon vorab.

Antoine ist über 60, und fünfzehn Jahre seines Lebens hat er im Gefängnis verbracht. Verurteilt wegen Mordes an einer jungen Frau namens Florence, die tot im Wald gefunden wurde. Florence war schön und lebenshungrig, die von vielen verehrte Schönheit des kleinen Dorfs. Sie hatte, wie Antoine uns wissen lässt, einen Geliebten, der mit einer anderen Frau verheiratet war, einen Verehrer, der sie krankhaft begehrte, und eine bitterböse, kontrollsüchtige Mutter. Und sie hatte Antoine, der - wie er uns wissen lässt - über ihr Leben und ihre Geheimnisse vermutlich besser Bescheid wusste als irgendjemand sonst. Doch können wir Antoines Bekenntnissen glauben? Antoine vermischt Beobachtetes mit Erfundenem; er hat eine rege Phantasie, beweist in manchen Einzelheiten überraschende Gewitztheit, dann wiederum zeigt er sich strunzdumm und empathielos. Seine Mutter starb bei seiner Geburt, wofür ihm seine reichlich verstockte Familie die Schuld zuweist. Der Vater ist Alkoholiker, der Bruder baut Bomben (vermutlich für die ETA), die Schwester ist frühzeitig aufs französische Festland abgehauen, um ihr Glück zu suchen. Antoine lebt von der Stütze und hat weder Strom noch Wasser, er stopft seinen Haushalt mit gefundenem Plunder voll, ernährt sich aus Mülleimern und wäscht sich allenfalls mal im See. Er ist kein Erzähler, den man mögen oder dem man vertrauen möchte.

Damit ist schon das Problem umrissen, das viele mit dem Buch haben werden. Man müsste mit Antoine Mitleid haben, weil er - abgesehen von einer einzigen Person, einer Lehrerin seiner Kindheit, die schon lange nicht mehr lebt - zeit seines Lebens als Dorftrottel behandelt wurde. Aber dieses Mitgefühl fällt nicht eben leicht, er ist kein Mensch, der Sympathie weckt. Und auch alles andere in diesem kurzen Roman ist nicht leicht. Gelegentlich fängt die Autorin Einzelheiten der korsischen Landschaft ein, die ein wenig Erholung vom erdrückenden Alltag bieten - die Düfte, die Gärten mit Feigen und Trauben, die Atmosphäre des geheimnisvollen Lac de Tolla, wo Antoine hin und wieder baden geht. Doch insgesamt bleibt das Gefühl einer brutalen und rückständigen, am Rande vergessenen Dorfgesellschaft ohne Perspektiven, die auf dem Schwächsten herumhackt, wie das in solchen Gemeinschaften halt üblich ist - ohne irgendwelche Lichtblicke, ohne Verweis in eine möglicherweise bessere Alternative oder Zukunft. Der Roman ist mit dem äußerst "sperrigen" Protagonisten ein mutiger Wurf, aber er verlangt auch recht mutige Leser.

Ein interessanter Punkt - darauf sei noch hingewiesen - ist die Einschaltung einer neutralen Erzählstimme im ersten und im letzten Kapitel. Sie ist notwendig, weil der Roman mit Antoines Beerdigung beginnt. Was wir hören, ist quasi aus dem Grab gesprochen. Es hätte - das ist meine persönliche Meinung - dem Roman gut getan, wenn dieser Erzählstimme mehr Raum gewährt worden wäre. So ist die Gegenüberstellung von Antoines Sterbeszene, wie er selbst sie erzählt, und danach der in der dritten Person erzählten Szene, wie sein Bruder ihn tot vorfindet, m.M.n. eine unglaublich bewegende Passage, und ich hätte mir gern mehr von diesem Nebeneinander gewünscht, um Antoines Welt ein wenig objektiver wirken zu lassen. So bleiben am Ende viele Fragen offen; Antoine ist kein Zeuge, dem man trauen kann, und was den Tod der jungen Florence angeht, um den alles kreist, wirkt letztlich vieles überkonstruiert und unglaubwürdig. Für mich eine Geschichte, die stärker hätte wirken können, wenn sie ein wenig anders erzählt wäre - das mag jede Leserin anders sehen.

von: Jerome D. Salinger
von: Peter Heller
von: Emma Donoghue
 

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