Rezension Rezension (4/5*) zu Ich, Antoine: Roman von Julie Estève

ulrikerabe

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14. August 2017
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Wien
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ich, Antoine: Roman von Julie Estève
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Eine unschöne Realität

Antoine Orsini lebt in einem Dorf auf Korsika. Zeit seines Lebens ist er Außenseiter, dem Spott und der Gehässigkeit seiner Mitmenschen ausgesetzt. Denn Antoine ist mental retardiert. So spricht Antoine lieber mit Bäumen und verbringt seine Zeit mit „seinem besten Freund“, einem Diktiergerät.

Als Jugendlicher nimmt er eine Art Beschützerrolle für die 16-jährige Florence ein. Doch als diese eines Tages tot in Pinienwald gefunden wird, sieht man in Antoine sofort den Schuldigen und er kommt für Jahre ins Gefängnis.

„Ich, Antoine“ ist ein sehr unangenehmer Roman, den die französische Schriftstellerin Julie Estève vorgelegt hat. Antoine ist eine Zumutung. Er ist ungepflegt, penetrant und vulgär. Mit Sicherheit kein liebenswerter tumber Tor, sondern ein handfestes Ekel. Diesen Protagonisten zu mögen ist kein leichtes Unterfangen.

Die Geschichte beginnt mit Antoines Beerdigung. Das ganze Dorf hat sich versammelt, nicht aus Trauer oder Pietät.

„Die Vögel und der Wind schweigen, während die Versammlung ihre geheuchelten Tränen vergießt. Endlich sind wir ihn los, denkt sie.“

Danach erfolgt in verkürzter - passend zu Antoines kognitivem Defizit - und derber Sprache, Antoines Erzählung seiner Lebensgeschichte. Der unzuverlässige Erzähler hält sich nicht an einen Zeitrahmen, kommt vom heute ins gestern und wieder zurück, ganz wie es seine Gedankensprünge zulassen.

In seiner Kürze ist das Buch immens eindrucksvoll. Was hier auf so wenigen Seiten erzählt wird: die mangelnde Inklusion, Alkoholismus, physische und sexuelle Gewalt. Dieses Buch ist quälend, abstoßend, ein einziger Schwall an Ungerechtigkeit und Trostlosigkeit. Ein Dorf der Chancenlosen, so rohe Menschen, dass es in der Geballtheit kaum auszuhalten geht. Wenn am Buchrücken von „ergreifender Menschlichkeit“ die Rede ist, dann geht es nicht um (Mit)Menschlichkeit. Julie Estève macht schonungslos das Versagen einer Gesellschaft und eine unschöne Realität sichtbar. Das ist es was dieses Buch ausmacht.



 
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