Im Gespräch mit Sam Millar

Sebastian

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18. April 2014
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Wie schon angekündigt hatte ich das Vergnügen, ein sehr umfangreiches Interview mit Sam Millar zu führen. Seine Worte zu Nordirland, seinem Leben und seinem Schaffen sind auf meinem Blog www.stuffed-shelves.de bereits erschienen, wie versprochen sind sie nun im Rahmen der Leserunde auch hier zu finden. Ich wünsche viel Spaß beim lesen - auch wenn nicht unbedingt alles leicht verdaulich ist.

(Stuffed-Shelves: ) Hallo Sam,

zunächst einmal möchte ich mich bei dir dafür bedanken, dass du dir die Zeit nimmst, uns ein paar Fragen zu beantworten. Ich bin mir sicher, dass dich einige unserer Leser bereits kennen, andere jedoch nicht. Würdest du darum bitte so nett sein, dich selbst in ein paar Worten vorzustellen?

(Millar: ) Sebastian, ich möchte mich an erster Stelle dafür bedanken, dass du mich zu diesem Interview eingeladen hast. Ich fühle mich geehrt.

Für diejenigen, die mich nicht kennen, ich bin ein ehemaliger politischer Gefangener aus Irland, der mittlerweile Kriminalromane und Theaterstücke schreibt. Mit Veröffentlichungen in vielen europäischen Ländern sowie in Nordamerika hatte ich das Glück, zahlreiche Literaturauszeichnungen zu gewinnen. Kürzlich wurden die Filmrechte an meinen Memoiren „On the Brinks“ (dt. Titel: „True Crime“) von einem amerikanischen Filmstudio gekauft. Ich bin außerdem der Autor der „Karl Kane“-Bücher.

Ich verfolge deinen Facebook-Account nun seit einiger Zeit und wie mir scheint, bist du immer noch eine sehr politische Person. Ich kann mir vorstellen, dass das für dich und deine Bücher eine Menge Ärger im Vereinigten Königreich bedeutet? Wie sind die Reaktionen in anderen europäischen Ländern?

Ja, ich bin sehr politisch und ich entschuldige mich auch nicht dafür. Ich habe zu viel Ungerechtigkeit in meinem Leben gesehen, um überhaupt etwas anderes zu sein. In einem Land, welches von einer bewaffneten fremden Armee besetzt ist, könnte ich auch nicht mehr in den Spiegel sehen, wenn ich nicht offenlegen würde, was in meinem Land passiert.

Soweit meine Bücher überhaupt in Großbritannien verkauft werden, werden sie von der britischen Presse angefeindet. „On the Brinks“ wurde in Großbritannien verboten, doch das war die größte Ehre, die sie mir zukommen lassen konnten! Sie müssen Angst vor dem Buch haben. Glücklicherweise werden meine Bücher in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien, Kanada und den USA sehr gut aufgenommen und ich habe von dort auch viel Unterstützung erfahren.

Vielen Menschen ist nicht einmal bewusst, dass der Nordirlandkonflikt noch nicht vorbei ist. Du bist einer der wenigen, die darüber noch in der Öffentlichkeit sprechen. Nachdem ich „On the Brinks“ und einige der Artikel, die du über Facebook teilst, gelesen habe, habe ich begonnen, selbst etwas bei Wikipedia und via Google zu recherchieren. War das eine der Intentionen, als du das Buch geschrieben hast? Die Menschen dazu zu animieren, dass sie nachdenken, recherchieren und sich selbst Gedanken machen?

Der Norden von Irland wird stärker unterdrückt als jemals zuvor. Die Leute von außerhalb denken, dass alles in Ordnung ist. Das ist verständlich, denn die meisten Informationen erreichen sie über die Propaganda der britischen Medien. Wie auch immer, es wird dich wahrscheinlich schockieren, dass hier immer noch Internierung ohne Prozess gegen irische Männer und Frauen praktiziert wird, ebenso wie gegen irische Nationalisten, die sich gegen die britische Besatzung meines Landes aussprechen. Mir wurde von der Polit-Polizei PSNI gedroht, dass ich besser mit dem Schreiben aufhören und die Klappe halten solle. Das werde ich allerdings niemals tun.

On the Brinks“ war ein Weckruf für viele Länder in Hinsicht auf das, was Großbritannien den politischen Gefangenen in Irland antat, wie es sie unter den Anweisungen von Margaret Thatcher täglich folterte und erniedrigte. Großbritannien ist großartig darin, mit dem erhobenen Finger zu drohen und sich die Dreistigkeit herauszunehmen, anderen Ländern etwas über Folter und Menschenrechte erzählen zu wollen, während sie selbst jede dieser Regeln brechen. Es ist einfach toll, ihre arrogante Heuchelei aufgedeckt zu sehen.

Denkst du, dass es wichtig ist, für seine eigenen Überzeugungen einzustehen, selbst wenn das bedeutet, damit Leser und natürlich auch Geld zu verlieren?

Ja, ich habe zu viele gute Freunde verloren, die von den Briten ermordet wurden, um einfach still zu sein. Ich denke, dass die meisten irischen Autoren Feiglinge sind, die mehr darauf bedacht sind, ihre Bücher in Großbritannien zu verkaufen als den Terrorismus der Briten gegen den Norden von Irland offenzulegen. Mir wurde so oft gesagt, dass ich mir viel mehr Türen öffnen würde um Bücher zu verkaufen, wenn ich einfach meine Augen vor dem verschließen würde, was hier passiert. Zur Hölle damit! Meine Leute erwarten von mir, dass ich ihre Stimme bin und genau das werde ich auch bleiben. Und nebenbei, wer zum Teufel braucht Großbritannien, um Bücher zu verkaufen, wenn man doch Deutschland, Frankreich, Amerika etc. hat?

Wenn du auf dein Leben zurückblickst, gibt es da etwas, was du gerne ändern würdest? „Nicht geschnappt werden“ mal ausgenommen.

Ja, nicht geschnappt werden wäre natürlich ganz oben auf der Liste! Nein, ernsthaft, ich habe so viele Fehler in meinem Leben gemacht, dass es den ganzen Tag brauchen würde, sie aufzuzählen. Der größte Fehler, den ich gemacht habe, war es wohl in der Schule den Clown zu geben und sie nicht ernst genommen zu haben. Als ich die Schule verlassen habe, hatte ich nicht mal eine richtige Ausbildung.

Dein Lebenslauf ist nicht unbedingt typisch für einen Autoren. Du warst politischer Aktivist, wurdest dafür ins Gefängnis gesperrt, du wurdest für kriminelle Aktivitäten verurteilt. Du hast damit angefangen, deine Biografie zu schreiben und jetzt schreibst du Thriller. Wie passt das zusammen?

Ich lebe den Traum, den ich als Kind hatte. Ein Autor wie Stan Lee (Marvel Comics) zu werden. Ich bin ein großer Sammler von amerikanischen Comics seit ich etwa acht Jahre alt war und mein Vater mir die Hefte von seinen vielen Reisen nach New York mitgebracht hat. Ich erinnere mich, dass ich meinem Vater in meiner Kindheit einmal erzählt habe, dass ich einmal in Queens/ New York leben würde, da wo Spiderman lebt, und dort meinen eigenen Comicladen haben würde. Er lachte, aber es passierte tatsächlich.

Ich lernte mehr aus den Comics, als mir jemals ein Lehrer an einer Schule vermitteln konnte. Die Filmrechte an meinen Memoiren „On the Brinks“ wurden kürzlich von einem amerikanischen Studio gekauft und so aufregend das auch für mich ist, ist es noch aufregender, dass das Buch auch als Graphic Novel umgesetzt wird! Mein Leben ist wie ein Kreislauf, der mit Comics begonnen hat und auch damit aufhört.

Wann hast du das erste Mal darüber nachgedacht, „On the Brinks“ zu schreiben?

Als ich in Amerika in der Strafanstalt gesessen habe. Es war ein ziemlich gewalttätiger Ort, also begann ich jeden Tag in meiner Zelle zu schreiben. Ich schrieb, um geistig gesund zu bleiben, habe aber nie darüber nachgedacht, dass das Manuskript tatsächlich gedruckt und auf der ganzen Welt veröffentlicht werden würde.

Du hast bisher sieben Bücher veröffentlicht. Hast du von Anfang an daran gedacht, mehr als nur deine Biografie zu schreiben? Und war es ein großer Unterschied, statt über dein eigenes Leben an einem Thriller zu schreiben?

Ich habe ein Buch namens „Dark Souls“ schon vor meinen Memoiren geschrieben. Nachdem ich „On the Brinks“ geschrieben hatte, wusste ich nicht, ob es mir möglich wäre, weiter zu schreiben. Ob ich die Ausdauer haben würde, ein Schriftsteller zu sein und ob die Menschen mich weiter unterstützen würden, indem sie meine Bücher kaufen. Glücklicherweise haben sie das und damit schreibe ich weiter. Ich habe außerdem ein erfolgreiches politisches Bühnenstück namens „Brothers in Arms“ geschrieben. Es war sehr kontrovers aber es wurde eines der erfolgreichsten Stücke überhaupt in Irland. Traurigerweise musste es eingestellt werden, da es bei jeder Aufführung zu politischen Auseinandersetzungen kam.

Du bist letztes Jahr und auch schon 2013 für öffentliche Lesungen in Braunschweig gewesen. Wie wichtig ist es dir, so in Kontakt mit deinen Lesern zu treten? Und sind die Fans hier anders als die in deiner Heimat? Und kannst du dir vorstellen, nach Deutschland zurückzukehren?

Als ich das erste Mal nach Deutschland (Berlin) eingeladen wurde, war ich sehr nervös. Ich wusste nicht, wie die Deutschen auf mich reagieren würden. Aber schon in den ersten Minuten, als ich die Menschen in Berlin traf, gaben sie mir das Gefühl, zu Hause zu sein. Ich war also sehr glücklich. Die Deutschen waren sehr gut zu mir und das werde ich nie vergessen. Ich würde natürlich jederzeit zurückkommen, wenn ich eingeladen werde.

Warner Bros. hatte Pläne „On the Brinks“ zu verfilmen, dann schlug die Politik zu und das Projekt wurde abgebrochen. Gibt es Neuigkeiten über einen weiteren Versuch, „On the Brinks“ auf die Leinwand zu bringen?

Als Warner die Rechte kaufte, war ich so aufgeregt, dass ich kaum schlafen oder essen konnte. Dann sah ich das Drehbuch. Es war schrecklich. Der typische Hollywood-Scheiß. Ich war sehr enttäuscht. Dann kam George Bush und sagte, dass das Buch Terrorismus verherrlichen würde (Bullshit, es verurteilt den britischen Terrorismus) und Warner bekam kalte Füße und ließ das Projekt fallen. Das war das Beste, was passieren konnte, denn es wäre ein schrecklicher Film geworden. In den letzten zwei Jahren war ich mit dem amerikanischen Filmstudio Focus (http://focusfeatures.com) im Gespräch. Sie sind ein fantastisches Studio und ich hoffe, dass sie diejenigen sind, die „On the Brinks“ richtig machen werden. Ich habe gestern den Vertrag unterschrieben und bin also wieder einmal zu aufgeregt um zu essen oder zu schlafen!

Wenn ich mir Karl Kanes Hintergrund ansehe, kann ich einige Ähnlichkeiten zu deinem Leben sehen. Wie viel deiner Persönlichkeit hast du in Karl gesteckt?

Ein bisschen. Seinen schwarzen Humor hat er von mir. Der Rest kommt von meinem Vater. Er war genau wie Karl, hat immer für die Underdogs und gegen Ungerechtigkeit gekämpft, wenn er sie gesehen hat.

Natürlich gibt es da auch noch einige „klassische“ Fragen, die ich in den meisten meiner Interviews verwende. Die erste: hast du Idole?

Bobby Sands und die Hungerstreiker. Meinen Vater.

Wie sieht ein normaler Tag in deinem Leben aus?

Das Leben in Belfast ist nie normal! Ich stehe früh auf und gehe spät ins Bett, schreibe so viel wie möglich. Ich wurde mit der „Schriftstellerkrankheit“ gesegnet: Schlaflosigkeit. Ich mache außerdem Freiwilligenarbeit mit Menschen, die mentale Gesundheitsprobleme haben. Meine Mutter litt an mentalen Problemen und hat uns verlassen, als ich acht war, ich habe sie nie wieder gesehen. Ich habe sie dafür gehasst, bis ich die Arbeit mit den Menschen mit psychischen Problemen begonnen habe. Erst dann habe ich realisiert, dass auch sie daran litt. Ich habe mich dafür geschämt, sie gehasst zu haben, aber was erwartet man auch sonst von einem achtjährigen Kind?

Wie arbeitest du? Nutzt du einen Computer oder einen Stift? Hast du einen bestimmten Schreibplatz? Wie lange brauchst du, um einen Roman fertig zu stellen und woher nimmst du deine Inspiration?

Ich arbeite an meinem Schreibtisch, normalerweise mit einer meiner beiden Katzen an meiner Seite, die versucht mich vom Schreiben abzuhalten! Ich habe versucht, mit einem Stift zu arbeiten, aber es hat zu lange gedauert, darum benutze ich jetzt einen PC. Ich brauche normalerweise zwischen 14 und 18 Monaten, um einen Roman zu beenden. Ich besuche Lesungen und Autogrammstunden in vielen verschiedenen europäischen Ländern, was mich natürlich vom Schreiben ablenkt. Wenn ich wieder zu Hause bin, muss ich dann aufholen.

Was können wir in Zukunft von Sam Millar erwarten? Arbeitest du an neuen Projekten?

Im Moment arbeite ich an zwei neuen Romanen, einer davon ist ein neuer Karl Kane, der andere ein Politthriller, der hier in Irland sehr kontrovers aufgenommen werden dürfte, wenn er rauskommt. Ich schreibe außerdem Buchkritiken für Veröffentlichungen in New York. Ich versuche immer, Bücher von weniger bekannten Schriftstellern zu besprechen und versuche, die Aufmerksamkeit etwas auf sie zu lenken, weg von den Namen, die man ohnehin dauernd irgendwo sieht.

Gibt es noch Traum-Projekte, die du gerne realisieren würdest?

Ich habe ein Drehbuch zum ersten Karl Kane-Buch geschrieben und das Feedback des Fernsehstudios war sehr positiv. Ich würde Karl liebend gerne auf dem Bildschirm sehen. Ich denke, dass er einen tollen Charakter abgeben würde (aber das muss ich jetzt natürlich sagen, nicht wahr?)

Liest du viel? Gibt es Autoren, die du empfehlen würdest?

Ich versuche, so viel wie möglich zu lesen, besonders neue Autoren. Ich muss zugeben, dass ich jeden Tag Comics lese und wahnsinnig viele davon habe. Ich werde vermutlich schon lange tot sein, bevor ich die Chance habe, sie alle zu lesen. Ich würde zwei junge Krimiautoren empfehlen, die ich kürzlich kennengelernt habe, beides großartige Menschen und außergewöhnliche Schriftsteller.Jenny Rogneby, die Autorin von „Leona“ (ein atemberaubender und origineller Roman). Ihr kennt Jenny vielleicht schon, denn das Buch wurde in Deutschland ein Bestseller und sie wurde oft in den deutschen Medien erwähnt. Die andere ist Jax Miller, die Autorin von „Freedom Child“. Dieses Buch hat Europa wie im Sturm genommen – und das zu Recht. Sie wurde auch für zahlreiche Auszeichnungen nominiert.

So, das waren nun eine Menge Fragen, dabei wollen wir es jetzt auch belassen. Wie immer in unseren Interviews gehören die berühmten letzten Worte dir. Noch einmal vielen Dank, dass du bereit warst, unsere Fragen zu beantworten und natürlich auch für die freundliche Kommunikation.

Vielen Dank, an euch, Sebastian. Danke, dass ich bei euch ein paar Worte sprechen durfte. Ihr seid echt nett.

Unser Dank geht an Betty Najdek fürs Korrekturlesen.
 
Zuletzt bearbeitet:
20. Mai 2014
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Ich habe es an irgendeiner Stelle schon mal gesagt - ein tolles Interview :) Mein Buch ist noch nicht da, kommt vielleicht heute. Da hab ich gerade noch Zeit mein aktuelles Buch zu Ende zu lesen, damit ich mich völlig auf True Crime konzentrieren kann.
 
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Reaktionen: Tiram

Sassenach123

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Mein Buch ist schon da. Habe auch bereits einige Seiten gelesen. Es ist schon erschreckend, wie wenig wir von der Problematik in Nordirland noch sprechen. Aber das Buch führt einem die ganzen Missstände vor Augen. Sam Millar hat zwar teilweise eine recht derbe Ausdrucksweise, aber irgendwie passt es doch hinein.
Kann es kaum abwarten bis die LR startet, obwohl mein Schulenglisch wohl etwas eingerostet ist......
 

Helmut Pöll

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Mein Buch ist schon da. Habe auch bereits einige Seiten gelesen. Es ist schon erschreckend, wie wenig wir von der Problematik in Nordirland noch sprechen. .....
Ja, das ist schon erschreckend, denn das ist ja noch gar nicht so lange her und mitten in Europa. Und ganz ausgestanden scheint das immer noch nicht zu sein, @Sassenach123
 
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Reaktionen: Sabine Schäfers

Sebastian

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Sam Millar hat zwar teilweise eine recht derbe Ausdrucksweise, aber irgendwie passt es doch hinein.

Ich habe mal eine Kritik gelesen, in der es hieß, dass Millar nicht mit dem erhobenen Zeige-, sondern mit dem ausgestreckte Mittelfinger schreiben würde. Und das empfand ich als absolut passend ;)