Rezension Rezension (3/5*) zu Noah: Von einem, der überlebte von Takis Würger.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Noah: Von einem, der überlebte von Takis Würger
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Ein bemerkenswertes Leben - mit Schwächen erzählt

Noah Klieger (1926 – 2018) war ein bemerkenswerter Mann, der ein sehr bewegtes, tragisches Leben hatte. Bereits als 16-Jähriger wird er in Belgien von den Nazis verhaftet und ins Gefangenenlager Ausschwitz verschleppt. Wie durch ein Wunder überlebt er die Shoah und setzt sich anschließend für die Gründung des Staates Israel ein. Zeit seines Lebens wird er nicht müde, vor Schülern als überlebender Zeitzeuge zu sprechen, um die junge Generation aus erster Hand aufzuklären und zu warnen.

2017 lernt Noah im Rahmen eines solchen Besuches in Deutschland den Autor Takis Würger kennen. Die beiden verabreden sich für ein Buchprojekt, um das Leben und Schicksal Noahs auch für die Nachwelt festzuhalten. Zu diesem Zweck treffen sich die beiden zu unzähligen Interviews, deren Ergebnis das vorliegende Buch ist. Wer eine Biografie erwartet, wird enttäuscht sein, denn das ist „NOAH“ nicht. Das Buch fußt lediglich auf den Erinnerungen des Shoa-Überlebenden, die unterschiedlich gewichtet sind. Das Buch ist in vier ungleich lange Teile aufgeteilt. Nur der erste Teil befasst sich mit Noahs Gefangennahme sowie dem Leben im Nazi-Terror.

Noah schleust bereits als Jugendlicher jüdische Kinder über die Schweizer Grenze, er ist im Widerstand aktiv. Kurz vor seiner eigenen geplanten Flucht wird er aufgegriffen und kommt ins Lager nach Ausschwitz. Seine dortigen Erlebnisse werden sehr anschaulich geschildert. Das unvorstellbare Leid, die unmenschlichen Verhältnisse werden in kurzen, prägnanten Sätzen geschildert. Der Stil ist gewöhnungsbedürftig. Auch wenn den meisten Lesern die Schilderungen aus dem KZ nicht neu sein dürften, verursachen sie Gänsehaut. Durch Zufälle, glückliche Umstände und Solidarität der Lagerinsassen entgeht Noah mehrfach der gefürchteten Selektion, die in die Gaskammer führt. Er ist intelligent, sportlich und sprachgewandt – Fähigkeiten, die nützlich sind. Außerdem hat er ein gutes Gedächtnis und viel Mut, der ihm sogar im Angesicht Joseph Mengeles das Leben rettet. Der Horror des Konzentrationslagers, die dauerhaften Erniedrigungen unter Schmerz, Krankheit, Hunger und harter Arbeit sind unfassbar. Nach all dem Leiden wird die Befreiung dagegen eher unspektakulär geschildert.

In den folgenden zwei Teilen werden weitere Erinnerungen Noahs dokumentiert, die mich nicht annähernd so fesseln konnten wie im ersten Teil. Es geht um Erlebnisse und Episoden aus der Nachkriegszeit. Trotz der Befreiung sind Tausende Juden noch immer heimatlos, leben teilweise weiterhin in Lagern. Noah hat sich schon früh für die Entstehung eines eigenen jüdischen Staates eingesetzt. Erneut wird er zum Menschenschmuggler, als 1947 mehrere Tausend jüdische Flüchtlinge gegen den Willen der britischen Besatzer in Palästina von Frankreich nach Tel Aviv unter großer Gefahr übergesetzt werden. Erneut muss sich Noah behaupten, sein Schutzengel rettet ihn aus auswegloser Lage. Die Reise auf dem maroden Binnenschiff Exodus 47 geht in die Geschichte ein. Was eigentlich sehr spannend sein müsste, wird durch die Art der Darstellung anstrengend für den Leser. Der vierte Teil wirkt wie ein Abspann, informiert darüber, was mit Nazi-Schergen und Wegbegleitern geschehen ist.

Nach dem packenden Einstieg, der bereits Gelesenes/Gesehenes über das Leiden in Auschwitz in mir wach rief und dadurch große Emotionalität auslöste, konnte ich in Bezug auf die übrigen geschilderten Erinnerungen nicht auf Vorwissen zurückgreifen. Dadurch war es mir nicht möglich, einen konsequenten Kontext zu erkennen, die Fragmente ergaben für mich teilweise keinen Sinn. Auch ein zweites Lesen half nicht weiter. In dieser Situation hätte ich mir gewünscht, dass der Autor die fehlenden Zusammenhänge zwischen den Erinnerungen herstellt, so dass sie auch ohne Vorkenntnisse begreifbar sind.

Dem Text sind drei Nachworte nachgestellt, die Erklärungen liefern. „Dieses Buch erscheint in der Tradition der Oral History und erlaubt Zeitzeugen, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich erinnern“, erklärt Würger auf S. 157. Auch die Nichte des Protagonisten Alice Klieger sowie die Chefredakteurin der Yad Vashem Studies Sharon Kangisser Cohen liefern weitere Gedanken und Informationen über Noah und das generelle Wesen von Erinnerungen. Es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, diese Nachworte vor das eigentliche Buch zu stellen. Ich hätte dann eventuell eine andere Erwartungshaltung gehabt, die vermutlich aber nicht viel an meinen Schwierigkeiten geändert hätte.

Aus meiner Sicht darf eine solche Geschichte zu Internet-Recherchen einladen, man sollte aber nicht darauf angewiesen sein. Ein Buch muss für sich allein funktionieren, noch dazu, wenn es sich um ein solch brisantes Thema wie die Judenverfolgung im und nach dem Zweiten Weltkrieg dreht. Mich hat leider rund die Hälfte des Buches nicht abgeholt, die erzählten Episoden ab dem zweiten Teil hatten nicht mehr annähernd die Tiefe des ersten Teiles. Der Schreibstil mit kurzen Hauptsätzen wirkte nun emotionslos auf mich.

Das Leben Noah Kliegers verdient es auf alle Fälle, festgehalten zu werden. Er hat viel gewagt, erlitten und erlebt. Damit könnte man ein weitaus dickeres Buch füllen. Warum Takis Würger sich dazu entschieden hat, diese Persönlichkeit auf lediglich 160 Seiten mit zum Teil zerrissenen Erinnerungsfragmenten zu würdigen, kann ich nicht nachvollziehen.

Jedes Buch gegen das Vergessen ist wichtig, so auch dieses. Dank zusätzlicher Recherchen habe ich einiges dazugelernt, was die Flucht auf der Exodus 47 und die Gründung Israels betrifft. Leser, die sich bereits vor der Lektüre iintensiver mit diesen Umständen auseinander gesetzt haben, empfinden das Buch möglicherweise ganz anders. Vorwissen ist gewiss kein Fehler.


 

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