Ich habe auch den Eindruck, dass hier ein Stück Autobiografie verarbeitet wird - zu ehrlich und intim sind die Gedanken des Autors. Eine sehr starke Geschichte!
Bereits am Anfang erfahren wir vom Bruder Chris und seiner kranken Frau Dina, die sich gemeinsam durch Kohlenstoffvergiftung das Leben genommen haben. Eine solche Tat ist für die Hinterbliebenen ein Schock, kein Wunder, dass auch der Ich-Erzähler intensiv darüber nachdenkt und vom Schmerz übermannt wird. Er sinniert darüber, wer hier wem einen Gefallen mit dem gemeinsamen Freitod getan hat, wann der richtige Zeitpunkt für einen solchen Schritt ist... Der Gedanke des "Nie Wieder" trifft ihn letztlich wie ein Schlag. (Das ist tatsächlich auch der Gedanke, der mich beim Abschied einer lieben Person am meisten trifft: nie wieder...)
Anschließend werden Erinnerungen an den 5 Jahre älteren Bruder geteilt. Chris hat drei Jahre bei einer Tante verbringen müssen, der guten Luft wegen. Als er zurückkommt, entwickeln die beiden Brüder liebevolle Rituale und pflegen ein enges Verhältnis, was sich altersgemäß später zum Leidwesen des Jüngeren lockert - 5 Jahre sind in einem bestimmten Lebensabschnitt eine ganze Welt.
Der Erzähler trauert aufrichtig um den Bruder. Elton Johns Lied "Daniel" wird zur Hymne der Trauer:
[zitat]Wenn er das weinen nicht verlernt hätte, hätte er geweint. Er sehnte sich oft danach zu weinen. Er sehnte sich danach, dass der schwarze See der Traurigkeit in seiner Brust in einem Strom von Tränen ausliefe. (S. 183)[/zitat]
An seiner namenlosen Freudin hat der Erzähler in dieser Phase eine verständnisvolle und trostspendende Partnerin.
Das Verhältnis der erwachsenen Brüder war nicht spannungsfrei, etwas war zwischen sie getreten. Davon berichtet der Erzähler in mehreren Episoden. Offensichtlich fühlte er sich vom Älteren häufig "beiläufig gedemütigt und zurückgewiesen", er empfand seine Leistungen, sein Leben als wenig anerkannt. Er sucht nach den Ursachen dafür, wägt ab, kann am Ende auch seinen Frieden mit dem Bruder machen. Diese Reflexionen und Stationen seiner Gefühlslage waren sehr empathisch, nachvollziehbar sowie sehr nah am Autor selbst geschildert, der stets schreibend verarbeitet: [zitat]Sein Schreiben war Flucht, er wusste es, und er wusste auch, dass er das Leben nur bestand, weil er es floh. (S.189)[/zitat]
Am Ende kann der Erzähler loslassen, er kann seine negativen Gefühle auflösen, er kann positive Bilder an deren Stelle setzen und vom Bruder Abschied nehmen.
Diese Geschichte ist in der Tat sehr stark im Ausdruck. Ich denke, man kann sie immer wieder zur Hand nehmen. Auch und gerade, wenn man selbst Abschied zu nehmen hat. Denn dann gilt es, sich auf das Positive zu besinnen, um loslassen zu können.