1. Leseabschnitt: Beginn bis Seite 49

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Gleich die ersten beiden Seiten nahmen mich gefangen. Wie dort über die verlorene Stadt Viipuri (den Namen habe ich aus der Biografie) geschrieben wird, ist schon sehr besonders:
wirkliche Städte sind wahrgewordene Träume, unsere Stadt ist eine Traum gewordene Wahrheit.
Danach erzählt uns dann die Erzählerin über Leena, ein Kind, das auf der Suche nach sich selber ist. Mutter und Vater verloren, sehr introvertiert, lebt sie ein Leben, das im Wesentlichen abseits anderer Kinder abläuft. Mit denen scheint sie fast ebenso wenig anfangen zu können wie mit dem, was die Schule ihr bietet. Dieses Angebot allerdings ist auch sehr wenig einladend, jedenfalls so wie es der Erzähler, der nah an Leenas Gedankenwelt dran ist und hier die Grenzen zwischen ihnen immer wieder zu verwischen scheinen.
Auf jeden Fall haben wir es mit einer Außenseiterin zu tun, mit einer "von der seltsamen Sorte", die dann auch noch eine Krankheit von der seltsamen Sorte bekommt: Pepilepsie, oder wie die nochmal heißt. :rofl Eine Kindheit in Leid und tief empfundener Traurigkeit.
Nicht gerade ein leichter Stoff, der uns aber in einem grandiosen Stil und mit einer sprachlichen Treffsicherheit und Wucht bisher wunderbar erzählt wird.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Das kann durchaus sein. Aber sie ist wahrscheinlich ne ganz normale Lehrerin, wie man zu der Zeit halt war. Ausserdem wissen wir nicht, wieviele Kinder sie zu betreuen hat.
Selbst wenn sie 20 Kinder zu betreuen hat (ich glaube in einem kleinen finnischen Dorf dürften es kaum mehr sein :cool:), sollte sie in der Lage sein, jedem Kind die notwendige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Mir fällt bei der Lehrerin gerade übrigens Fräulein Rottenmeier aus Heidi ein :rofl.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich muss da an den Kantor in dem berühmten Buch "Die Heiden von Kummerow" denken. Das Buch beginnt in den Nullerjahren des vorigen Jahrhunderts, spielt in tiefster Provinz und der Kantor hat dreißig Kinder unterschiedlicher Altersstufen in der Dorfschulklasse. Und er ist kein junger Mann mehr. Aber sogar der ist in der Lage, Eigenarten und Begabungen seiner Schulkinder zu erkennen. (Dass hier auch Ziehen an den Ohren oder Ohrfeigen als legitimes pädagogisches Mittel gelten, steht auf einem anderen Blatt - das war halt damals so.)
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Selbst wenn sie 20 Kinder zu betreuen hat (ich glaube in einem kleinen finnischen Dorf dürften es kaum mehr sein :cool:), sollte sie in der Lage sein, jedem Kind die notwendige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Mir fällt bei der Lehrerin gerade übrigens Fräulein Rottenmeier aus Heidi ein :rofl.
Moderne Pädagogig ist eben das, modern. "früher" hat man geprügelt. Und das tut die Lehrerin nicht. Sie lädt auch sogleich zu einem Gespräch ein.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Sie hat zwar nicht geprügelt, lässte Leena aber in der Ecke stehen - und das finde ich schon erniedrigend genug...
Wir haben 1930. Da muss man dankbar dafür sein. Ich habe den Eindruck, ihr wollt die Lehrerin hassen. Sie spielt wahrscheinlich keine Rolle mehr in dem Buch.
Leena lebt mehr im Traum. Und das - glaub ich nicht! Kinder verlieren nicht so leicht den Kontakt zur Realität. Obwohl ich das modifizieren muss, sie glauben ja auch an Gespenster, osterhasen und so Zeug. aber das meine ich nicht. Leena ist viel zu abgehoben, um authentisch zu sein.
 
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Reaktionen: Literaturhexle

RuLeka

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30. Januar 2018
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Der Beginn lässt an ein Märchen denken. Eine Stadt, die es nicht mehr gibt.
Hier lebt die neunjährige Leena, ein Mädchen, das sehr allein ist, in seiner eigenen Welt lebt. Mutter tot, Vater verschwunden, eine Großmutter, die in ihrem eigenen Leid versunken ist.
Die Lehrerin ist leider von der Sorte, von denen es einige gab. Streng, ohne Einfühlung in kindliche Seelen. Kein Wunder, dass Leena sie hasst.
Für mich spricht hier aber nicht ein reales 9jähriges Kind. Die Autorin findet poetische Bilder für den Seelenzustand des Mädchens. Ich vermute autobiographische Bezüge.

Bisher lese ich den Roman sehr gerne. Anrührend, sogar witzig ( diese Vorstellung von einem Hefezopf essenden Jesus).
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Für Leena dagegen ist die Trauer ein lebendiger, sogar manchmal "schöner" Zustand. Die Trauer wird im Regen schön und verwandelt sich in ein eigenes Lied (S.18). Nach meinem Gefühl ist Leena kein "depressives" Kind. Sie hat eine andere Grundstimmung als andere Kinder, von Grund auf einsam, aber ihre Einsamkeit ist mit ihren eigenen Schöpfungen bevölkert.
Die Autorin findet wirklich schöne Bilder, um Leenas Stimmung einzufangen. Ich sehe es wie Du und würde ihren Zustand nicht als Depression bezeichnen.
Das Kind hat überhaupt keinen Grund, Angst zu haben.
Das sehe ich anders. Leena ist zutiefst einsam und findet wenig Verständnis in ihrer Umgebung. Die Oma wird sie versorgen, doch emotionale Wärme findet sie nicht.
Und Lehrer waren in jenen Zeiten Personen, die man fürchten musste.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Für mich spricht hier aber nicht ein reales 9jähriges Kind. Die Autorin findet poetische Bilder für den Seelenzustand des Mädchens.
Das hast du treffend formuliert. Denn tatsächlich ist es keine rein kindliche Perspektive. Manche Rückschlüsse würde ein Kind dieses Alters nicht ziehen können. Nicht umsonst verzichtet die Autorin auf eine Ich-Erzählerin.

Leena ist ein extrem fantasiebegabtes Kind. Sie überträgt Gefühle in Bilder, nimmt die Natur und ihr Umfeld sehr sinnbetont wahr. Nur dadurch ist es möglich, dass das gepunktete Kleid so eine große Rolle spielt. Die Tupfen verselbständigen sich quasi und erfüllen sie mit Angst vor der Lehrerin.

So geht es Leena mit vielen Dingen. Starke Eindrücke haben die Kraft, das Kind aus der Realität zu befördern. Sie wirkt dann verträumt, schwach und hilflos. Am Bach wird sie sogar bewusstlos. Leena hat dadurch auch Schwierigkeiten, sich anzupassen. Dass man ein Pult nicht einritzt, dass man nicht stiehlt, dass man einen Brief zu Hause abgeben muss...
Das sollte sie mit 8 Jahren wissen. Aber da legt sich immer eine Fantasie über ihre Tat, die das Unrecht zur Seite schiebt.

Mich hat der erste LA emotional bewegt. Ich hätte das Kind laufend an die Hand nehmen mögen, um ihm zu sagen: Lass das, tu es nicht! Denn die Folgen liegen ja auf der Hand. Ein Dieb zu sein wird zu damaliger Zeit noch schlimmer gewesen sein als heute.

Ich kann Wandas Einwand der Überfrachtung nicht ganz wegwischen. Hier kommt wirklich alles zusammen. Man will die Verlorenheit dieses Kindes herausstellen. Was wird aus einem Kind, wenn es keine liebevolle Zuwendung erhält? Können wir uns das überhaupt vorstellen?

Die Lehrerin entspricht ihrer Zeit. Sie hatte das Sagen, niemand nimmt für ein Kind Partei. Leena ist zweifellos schwierig. Sie schläft oder träumt im Unterricht, ist verhaltensauffällig, macht Dreck (und Arbeit). Damals hatten Kinder zu funktionieren. Nun kommt der Diebstahl dazu und das "L" (Sachbeschädigung!) Wird gewiss auch noch gefunden...

Ich finde Leenas Gedanken in Bezug auf den Onkel auch verquer. Sie liebt ihn. Aber nicht wie ein Kind den Onkel lieben sollte. Sie neidet ihn seiner Frau, zu der sie offenbar kein gutes Verhältnis hat. Seltsam auch das Ins-Ohr-beißen.

Ich würde mir wünschen, dass der Onkel die Dinge wieder ein bisschen gerade rücken kann. Es muss schlimm sein, wenn man keine vertraute Person hat. Kein Wunder, dass ein Fellkragen zur lebendigen Katze wird... Erinnert an den Ball "Wilson" von Tom Hanks.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Der Beginn lässt an ein Märchen denken. Eine Stadt, die es nicht mehr gibt.
An die Stadt der Kindheit habe ich dabei nicht gedacht, wie es jemand - der King? formulierte, ist aber ein würdiges Bild.

Für mich spricht hier aber nicht ein reales 9jähriges Kind
Danke. Genau das denke ich auch. Es passt einfach nicht zu einer 9jährigen, selbst wenn sie anders ist. In ihrer eigenen Welt lebt sie schon, das ist absolut richtig, eine Phantasiewelt.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich bin hin und hergerissen. Auf der einen Seite war ich verzaubert, wie die meisten hier. Auf der anderen Seite habe ich ständig Mitleid mit der armen Kleinen.
Allein schon die Vorstellung, dass ein Kind wegen des Briefes der Lehrerin an die Großmutter solche Gedanken hat, ist schwer zu ertragen. Ich kenne mich mit Epilepsie nicht sonderlich gut aus, habe mich beim lesen aber gefragt, ob es da vielleicht einen Zusammenhang gibt. Bislang dachte ich zwar diese Anfälle kommen plötzlich und unerwartet, aber wie gesagt, ich weiß zu wenig über diese Krankheit.
Leenas Hoffnung wegen der Erkrankung nicht in die Schule zu müssen, zeigt ebenfalls wie verzweifelt sie diesbezüglich ist. Ein Kind sollte sich doch nicht wünschen krank sein, um zu Hause bleiben zu können. Zumal es bei der Großmutter ja auch nicht besonders toll zu sein scheint. Und nun steht sie ohne eine Entschuldigung da, die die Omi ihr eigentlich hätte schreiben müssen. Warum tat sie dies nicht? Sie hätte ja eine andere Sache vorschieben können, wenn es ihr zu peinlich ist, wie sie Leena gegenüber sagte. Dieses Denken lässt mich vermuten, dass die Handlung schon einige Jähren zurück liegt.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Mir fällt bei der Lehrerin gerade übrigens Fräulein Rottenmeier aus Heidi ein :rofl.
oh Gott, nun habe die mit Punkten auf dem Rock im Kopf:rofl
Die Lehrerin entspricht ihrer Zeit
Ja, das denke ich auch. Wir Leser vergessen das manchmal leider, und vergleichen mit der heutigen Zeit.
Ich finde Leenas Gedanken in Bezug auf den Onkel auch verquer. Sie liebt ihn.
Dabei scheint sie ihn doch sehr lange nicht gesehen zu haben, wenn ich das richtig verstanden habe.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
querleserin.blogspot.com
Es ist doch leicht zu verstehen, dass sie sich wundert, dass Leena ewig braucht, um die Brille zu holen.
In dieser Situation ist ihr Verhalten noch nachvollziehbar, aber zu Beginn verhält sie sich nicht adäquat, v.a. nachdem sie erfahren hat, dass sowohl Vater als auch Mutter nicht anwesend sind. Aus professioneller Sicht muss ich sagen, dass sie nicht richtig handelt. Sie weiß weder um Leenas familiäre Verhältnisse noch über ihren späteren Einstieg ins Schuljahr Bescheid und gibt ihr trotz allem diesen Brief mit.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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An die Stadt der Kindheit habe ich dabei nicht gedacht
Diese Stadt der Kindheit gab es zum Zeitpunkt der Niederschrift auch ganz konkret nicht mehr für die Finnen. Dadurch dass die Russen sie im sog. Winterkrieg eingenommen haben, fiel sie der Sowjetunion zu.
Es ist mit der Stadt so, wie mit vielem im Buch. Es gibt die reale Lebenswelt, in der Leena aufwächst, ziemlich identisch, mit der, der Autorin und daneben gibt es die magische Märchen- oder Traumwelt, in der das Mädchen sich verliert.