1. Leseabschnitt: Beginn bis Seite 49

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Die Grundstimmung der Erzählung ist traurig. Das Geschehen könnte überall und zu jeder Zeit spielen, in einer abgehängten, ländlichen Gegend. Leena ist zurückgezogen und still, bleibt für sich. Weder zu den anderen Kindern noch zu den Großen hat sie wirklichen Kontakt. Sie wächst bei der Großmutter auf, die wegen mehrerer Familientragödien selbst ständig in Trauer ist; diese Grundhaltung hat auch auf Leena abgefärbt. Obwohl nicht viel passiert, wird in poetischen Bildern deutlich, wie Leena ihre ganze Umgebung, die Natur, sogar die Möbelstücke als bedrückt bzw. bedrückend erlebt.

Nun kommt dazu noch eine Krankheit, über die niemand richtig Bescheid weiß, die "Pepilepsie".
Wenigstens hat Leena einen Freund, der ihr fröhliche Briefe schreibt. Ich hoffe, er hat bald einen persönlichen Auftritt.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Nun kommt dazu noch eine Krankheit, über die niemand richtig Bescheid weiß, die "Pepilepsie".
Da musste ich direkt grinsen, dass sie ein Wortspiel aus der Krankheit macht. Krass fand ich die Aussage der Oma, dass die Krankheit
keine Krankheit gewöhnlicher Menschen (S. 29)
ist. Aber so war es leider; ich sehe das ja hier bei uns an unseren Patientenakten im Archiv, was da an Aussagen getätigt wurde...:apenosee
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ich musste mich zunächst etwas einlesen in die märchenhafte Erzählstimme bzw. den Bruch zwischen Realität, den Erlebnisssen Leenas während ihrer Ohnmacht zurück in die Realität. Ich stimme @Die Häsin zu, dass die Grundstimmung tieftraurig ist und der Wunsch Leena´s nach einem selbstbestimmten Tod am Ende des Abschnitts hat mich unglaublich betroffen gemacht.
Den Brief ihres Onkels fand ich hingegen toll :cool:.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
"Worüber sie weinte, wusste sie nicht, und genau deshalb erschien ihr alles so traurig. Haus, Himmel, Baum, Wolken ... alles war für diese Trauer bestimmt. Natürlich auch sie. Dass es bestimmt war - dass alles fertig und durch nichts zu ändern war -, daher kam wohl diese alles umfassende Trauer." (S. 18)

Ich tue mich normal schwer mit solchen Texten, in denen die Trauer sich selbst füttert und man gar keinen Grund mehr braucht, traurig zu sein, außer dem, dass man eben traurig ist. Aber die Art, wie die Autorin diese Trauer beschreibt, ist anders, als ich das aus Texten über Depressionen Erwachsener kenne. Da liest man dann (oder hat es vielleicht auch selbst so erlebt), dass alles grau und leblos erscheint. Für Leena dagegen ist die Trauer ein lebendiger, sogar manchmal "schöner" Zustand. Die Trauer wird im Regen schön und verwandelt sich in ein eigenes Lied (S.18). Nach meinem Gefühl ist Leena kein "depressives" Kind. Sie hat eine andere Grundstimmung als andere Kinder, von Grund auf einsam, aber ihre Einsamkeit ist mit ihren eigenen Schöpfungen bevölkert. Ich weiß nicht, ob es für einen solchen Zustand eine Bezeichnung gibt; vielleicht ist es eine Form von Autismus, dass sie einfach für sich sein will.
Schlimm ist die Einschätzung dieser grottigen Lehrerin. Da hört sie, dass Leena sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht hat, und schreibt gleich danach auf den Zettel an die Oma, Leena sei faul und starrsinnig. Geht's noch? Wie ist diese Frau Lehrerin geworden?
Leenas Trauer schwindet, weil sie nun eine andere Aufgabe hat: "die Lehrerin hassen". Ihre Trauer schwindet, weil nun die Depression kommt, in dem Sinn, wie wir es aus gängigen Redenarten kennen: "aschfahle Tage, darunter seltene Farbtupfer, doch auch diese hatten für sie keinerlei Bedeutung. Die einzige Sache, die Bedeutung hatte, war der Tod" (S.48)

Für ein Kind von neun Jahren hört sich das furchtbar an. Aber - ich glaube nicht mal, dass das so ungewöhnlich ist. Man hat solche Zustände als Erwachsene(r) halt vergessen und erzählt, wie glücklich die Kindheit gewesen sei.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich finde den kleinen Roman bisher bemerkenswert schön.

Nicht nur durch das vorangestellte Zitat beginnt er wie ein Märchen, sondern eröffnet sogar mit "Es war einmal...". Und wie bei den meisten Märchen ist die Geschichte, die der Handlung zugrunde liegt, eine düstere oder traurige, inklusive junger Heldin und "böser" Antagonistin (Lehrerin).

Die poetische Einführung finde ich einfach nur toll. Diese "Stadt, die es nicht mehr gibt", den Ort der Kindheit und damit die Kindheit als solche, wird wie in einem Flug von oben betrachtet. Heraus ragt als einzige Störung die "hässliche" Volksschule.

Eeva-Liisa Manner lässt sich komplett auf die kindliche Perspektive ein, ohne dass der Roman dadurch kindisch oder naiv wirkt. Das finde ich sehr überzeugend. Für ihre kleine Hauptfigur hat sie mich durch ihre Empathie gleich eingenommen.

Trotz kleinerer Schmunzler wie dem Jesus im Arztkittel zieht sich die traurige Atmosphäre durch den gesamten ersten Teil. Manchmal habe ich sie sogar als tieftraurig empfunden, wie beispielsweise auf S. 46, wo die einsame Leena sogar ein Kaninchenfell als "echte Katze" einsetzen muss, um angemessen weinen zu können. Sehr schön fand ich auch auf S. 18 die Vermischung von Tränen und Regen, die in der Frage gipfelt, "ob es jenseits oder diesseits der Scheibe regnete".

Ich lese gern und mit Begeisterung weiter.
 

Christian1977

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Für ein Kind von neun Jahren hört sich das furchtbar an. Aber - ich glaube nicht mal, dass das so ungewöhnlich ist. Man hat solche Zustände als Erwachsene(r) halt vergessen und erzählt, wie glücklich die Kindheit gewesen sei.
Das finde ich auch. Als Kind, aber auch als Jugendliche:r, nimmt man alles so wahnsinnig intensiv wahr - die guten, aber auch die schlechten Dinge. Diese Intensität kann sowohl positiv als auch negativ zu solchen extremen Gefühlen führen.

An der Figur Leena stimmt mich aber traurig, dass in ihren jungen Jahren die Trauer überwiegt. Das ist wahrscheinlich das Ungewöhnliche an dieser Figur und nicht die extremen Rausreißer.
 

Christian1977

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Geht euch das auch so? Die Stimmung und der Ton sind genau wie in "Das Eisschloss".
Ich musste tatsächlich auch daran denken. Nicht nur wegen der Stimmung, sondern vor allem auch wegen der wahnsinnig intensiven kindlichen Perspektive, die die Autorin (wie Vesaas im Eis-Schloss) einnimmt.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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An der Figur Leena stimmt mich aber traurig, dass in ihren jungen Jahren die Trauer überwiegt. Das ist wahrscheinlich das Ungewöhnliche an dieser Figur und nicht die extremen Rausreißer.
Na ja, wundern tut mich das nicht. Mutter kurz nach der Geburt gestorben, der Vater ein Trinker, eine Oma, die auch in ihrer Trauer "gefangen" ist, eine Lehrerin, die sie von oben herab behandelt - Gründe genug für Trauer bzw. Traurigsein...
 

Die Häsin

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Ich kenne von Vesaas nur "Die Vögel", aber da ist die Hauptfigur, aus deren Sicht erzählt wird, nach meiner Erinnerung ein als "zurückgeblieben" geltender junger Erwachsener. Ja, der Erzählton ist recht ähnlich.
Über die Stelle mit dem Jesus musste ich auch lächeln: Jesus ist ja eigentlich dünn, aber vielleicht hat er im Himmel viel Hefezopf gegessen. Der Hefezopfjesus. Das muss ich mir merken.
(Ich lache heute noch drüber, wie ich einmal zwei Freundinnen meiner jüngeren Tochter beim "Kommunion-Spielen" beobachtet habe. Die eine reichte der anderen eine Brotschnitte mit den Worten "Der Leib Christi" und die andere antwortete: "Hmmm, lecker, amen!")
 

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29. März 2022
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Sodele. Den ersten Abschnitt habe ich begeistert gelesen. Eine sehr märchenhaft, aber auch bedrückende Stimmung. Wir lernen die kleine Leena kennen, die vermutlich noch nie viel Grund gehabt hat, zu lachen oder fröhlich zu sein. Die Mutter tot, der Vater irgendwo in der weiten Welt, möglicherweise ebenfalls tot. Eine Oma, die mit vielem überfordert scheint. V.a. eine Lehrerin, die ihr allen Grund gibt sie zu hassen. Wenn Leena lieber tot wäre, um nie mehr in die Schule zu müssen - sagt das doch alles. Die Lehrein ist eine schreckliche, völlig empathieunfähige Person. Bisheriger einziger Lichtblick ist der Onkel, der seinen Besuch ankündigt.
Mir gefallen die Passagen, wo Leena über Gott und den Himmel sinniert.
Die Sprache finde ich sehr ansprechend, mitunter poetisch, die Atmosphäre erdrückend.
Die Stadt, die es nicht mehr gibt - das steht wohl für den Ende der Kindheit oder eine Kindheit, die es nicht geben darf?
Gespannt lese ich weiter...
 

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Den Brief ihres Onkels fand ich hingegen toll
Fand ich auch. Ich hoffe, er taucht bald auf.
Für ein Kind von neun Jahren hört sich das furchtbar an. Aber - ich glaube nicht mal, dass das so ungewöhnlich ist. Man hat solche Zustände als Erwachsene(r) halt vergessen und erzählt, wie glücklich die Kindheit gewesen sei.
Kinder empfinden, denke ich, alles viel intensiver. Die Stimmungslage ändert aber auch viel schneller. Wer in einem Moment noch der verhasste Feind ist, kann im nächsten Moment schon ein Freund sein.
Die kindliche Perspektive des Romans empfinde ich als sehr stimmig.
Ich lese gern und mit Begeisterung weiter.
Same here :)