Neujahr: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Neujahr: Roman' von Juli Zeh
5
5 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Neujahr: Roman"

Lanzarote, am Neujahrsmorgen: Henning sitzt auf dem Fahrrad und will den Steilaufstieg nach Femés bezwingen. Seine Ausrüstung ist miserabel, das Rad zu schwer, Proviant nicht vorhanden. Während er gegen Wind und Steigung kämpft, lässt er seine Lebenssituation Revue passsieren. Eigentlich ist alles in bester Ordnung. Er hat zwei gesunde Kinder und einen passablen Job. Mit seiner Frau Theresa praktiziert er ein modernes, aufgeklärtes Familienmodell, bei dem sich die Eheleute in gleichem Maße um die Familie kümmern. Aber Henning geht es schlecht. Er lebt in einem Zustand permanenter Überforderung. Familienernährer, Ehemann, Vater – in keiner Rolle findet er sich wieder. Seit Geburt seiner Tochter leidet er unter Angstzuständen und Panikattacken, die ihn regelmäßig heimsuchen wie ein Dämon. Als Henning schließlich völlig erschöpft den Pass erreicht, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er war als Kind schon einmal hier in Femés. Damals hatte sich etwas Schreckliches zugetragen - etwas so Schreckliches, dass er es bis heute verdrängt hat, weggesperrt irgendwo in den Tiefen seines Wesens. Jetzt aber stürzen die Erinnerungen auf ihn ein, und er begreift: Was seinerzeit geschah, verfolgt ihn bis heute.



Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
EAN:9783630875729

Rezensionen zu "Neujahr: Roman"

  1. 5
    11. Dez 2019 

    Unbedingt lesen!

    Gleich vorab:
    Ein absolut lesenswerter Roman! Ich bin begeistert. Mir fallen die Adjektive bravourös und exzellent dazu ein.

    Während einer Mountainbiketour am „Ersten Ersten“ 2018 auf Lanzarote, in deren Verlauf sich Henning die Serpentinen zum Dorf Femés am Fuße des Vulkanberges Atalaya hochquält, drängen sich ihm Erinnerungen auf.
    Anhand von Rückblenden lernen wir seine jetzige Familie (seine Ehefrau Theresa und ihre zwei kleinen Kinder), seine Ursprungsfamilie (seine Eltern und seine jüngere Schwester Luna) und einige Details aus seiner Biographie kennen.

    Wir bekommen einen Einblick in den Alltag dieser vierköpfigen Familie, in der die Rollen nicht klassisch traditionell sondern emanzipiert modern verteilt sind. Außerdem werden wir eingeweiht in Entstehung und Verlauf von Hennings Panikstörung.

    Schließlich tauchen, ausgelöst durch die Entdeckung eines Häuschens oberhalb von Femés und durch die Begegnung mit seiner deutschen Besitzerin Lisa bis dahin verdrängte erschütternde und traumatisierende Erinnerungen auf.

    Juli Zeh beschreibt die Panikattacken, die Anstrengung auf dem Fahrrad und die Gedanken, die in Henning vorgehen eindrücklich und detailliert. Ich blätterte gefesselt und manchmal regelrecht atemlos um und wurde mitgerissen von den Wörtern und Sätzen, die die Welt Lanzarotes, das Innenleben Hennings und den Alltag dieser Familie zum Leben erweckten.

    Juli Zeh seziert ihre Beobachtungen der Innen- und Außenwelt, so dass uns eindrückliche, lebensnahe, detaillierte und ungeschönte Beschreibungen präsentiert werden. Es ist ein sachlich nüchternes, fast kaltes und rationales Sezieren, das den Leser aufgrund der resultierenden Eindrücklichkeit erschüttert, fesselt und ihm manchmal den Atem raubt, weil er mitten drin zu sein glaubt.

    In der ersten Hälfte des Romans erleben wir die recht schnellen Wechsel zwischen gegenwärtiger kräftezehrender Radtour und Rückblenden in die nähere oder weiter entferntere Vergangenheit.

    Dann, ab der zweiten Hälfte tauchen wir schließlich in DIE entscheidende, z. T. quälende, erschütternde und kaum auszuhaltende Erinnerung ein und ab.
    Dabei begegnen wir wunderschönen ausdrucksstarken und bildhaften Sätzen wie zum Beispiel: „Die Scham darüber landet auf seinem Nacken und fliegt gleich wieder davon, wie ein Insekt, das sich entschieden hat, doch jemand anderen zu stechen.“

    Im letzter Abschnitt kehren wir wieder in die Gegenwart zurück. Der Urlaub ist vorbei. Die Familie ist wieder zu Hause in Göttingen. Aber es geht nach dieser einschneidenden Erfahrung auf Lanzarote noch etwas weiter:
    Ein Telefonat.
    Ein aufklärendes Geständnis. Eine Erkenntnis.
    Eine notwendige Konsequenz.

    Juli Zeh verdeutlicht mit ihrem packenden Roman „Neujahr“ ganz wunderbar die erlösende und befreiende Kraft von Erinnern und Auseinandersetzung mit dem Erinnerten.
    Sie zeigt auf, wie dadurch Erkenntnis und Veränderung möglich werden.
    Wunderschön gezeigt hat sie auch, dass eine psychische Beschwerdesymptomatik durch Umstände ausgelöst werden kann, die das im Unbewussten schlummernde Vergangene ins Bewusstsein katapultieren (im vorliegenden Roman sind es Hennings Kinder, die gerade im entscheidenden Alter sind.)

    Allerdings ist es etwas zu optimistisch, zu glauben, dass dies alles, also die Verarbeitung des kindlichen Traumas und der Verlust der ausgeprägten Symptomatik, so schnell und ohne professionelle Hilfe vonstatten gehen kann.
    Erinnern allein reicht da in der Regel nicht. Durcharbeiten ist für Verarbeiten, Verdauen und Heilung unabdingbar. Und das geschieht am ehesten mit einer fundierten psychotherapeutischen Unterstützung.
    (Aber das Leben geht für Henning ja nach dem letzten Zuklappen des Buches noch weiter ;-) vielleicht sucht er sich ja noch Hilfe.)

    Teilen
  1. 5
    11. Dez 2019 

    Unbedingt lesen!

    Gleich vorab:
    Ein absolut lesenswerter Roman! Ich bin begeistert. Mir fallen die Adjektive bravourös und exzellent dazu ein.

    Während einer Mountainbiketour am „Ersten Ersten“ 2018 auf Lanzarote, in deren Verlauf sich Henning die Serpentinen zum Dorf Femés am Fuße des Vulkanberges Atalaya hochquält, drängen sich ihm Erinnerungen auf.
    Anhand von Rückblenden lernen wir seine jetzige Familie (seine Ehefrau Theresa und ihre zwei kleinen Kinder), seine Ursprungsfamilie (seine Eltern und seine jüngere Schwester Luna) und einige Details aus seiner Biographie kennen.

    Wir bekommen einen Einblick in den Alltag dieser vierköpfigen Familie, in der die Rollen nicht klassisch traditionell sondern emanzipiert modern verteilt sind. Außerdem werden wir eingeweiht in Entstehung und Verlauf von Hennings Panikstörung.

    Schließlich tauchen, ausgelöst durch die Entdeckung eines Häuschens oberhalb von Femés und durch die Begegnung mit seiner deutschen Besitzerin Lisa bis dahin verdrängte erschütternde und traumatisierende Erinnerungen auf.

    Juli Zeh beschreibt die Panikattacken, die Anstrengung auf dem Fahrrad und die Gedanken, die in Henning vorgehen eindrücklich und detailliert. Ich blätterte gefesselt und manchmal regelrecht atemlos um und wurde mitgerissen von den Wörtern und Sätzen, die die Welt Lanzarotes, das Innenleben Hennings und den Alltag dieser Familie zum Leben erweckten.

    Juli Zeh seziert ihre Beobachtungen der Innen- und Außenwelt, so dass uns eindrückliche, lebensnahe, detaillierte und ungeschönte Beschreibungen präsentiert werden. Es ist ein sachlich nüchternes, fast kaltes und rationales Sezieren, das den Leser aufgrund der resultierenden Eindrücklichkeit erschüttert, fesselt und ihm manchmal den Atem raubt, weil er mitten drin zu sein glaubt.

    In der ersten Hälfte des Romans erleben wir die recht schnellen Wechsel zwischen gegenwärtiger kräftezehrender Radtour und Rückblenden in die nähere oder weiter entferntere Vergangenheit.

    Dann, ab der zweiten Hälfte tauchen wir schließlich in DIE entscheidende, z. T. quälende, erschütternde und kaum auszuhaltende Erinnerung ein und ab.
    Dabei begegnen wir wunderschönen ausdrucksstarken und bildhaften Sätzen wie zum Beispiel: „Die Scham darüber landet auf seinem Nacken und fliegt gleich wieder davon, wie ein Insekt, das sich entschieden hat, doch jemand anderen zu stechen.“

    Im letzter Abschnitt kehren wir wieder in die Gegenwart zurück. Der Urlaub ist vorbei. Die Familie ist wieder zu Hause in Göttingen. Aber es geht nach dieser einschneidenden Erfahrung auf Lanzarote noch etwas weiter:
    Ein Telefonat.
    Ein aufklärendes Geständnis. Eine Erkenntnis.
    Eine notwendige Konsequenz.

    Juli Zeh verdeutlicht mit ihrem packenden Roman „Neujahr“ ganz wunderbar die erlösende und befreiende Kraft von Erinnern und Auseinandersetzung mit dem Erinnerten.
    Sie zeigt auf, wie dadurch Erkenntnis und Veränderung möglich werden.
    Wunderschön gezeigt hat sie auch, dass eine psychische Beschwerdesymptomatik durch Umstände ausgelöst werden kann, die das im Unbewussten schlummernde Vergangene ins Bewusstsein katapultieren (im vorliegenden Roman sind es Hennings Kinder, die gerade im entscheidenden Alter sind.)

    Allerdings ist es etwas zu optimistisch, zu glauben, dass dies alles, also die Verarbeitung des kindlichen Traumas und der Verlust der ausgeprägten Symptomatik, so schnell und ohne professionelle Hilfe vonstatten gehen kann.
    Erinnern allein reicht da in der Regel nicht. Durcharbeiten ist für Verarbeiten, Verdauen und Heilung unabdingbar. Und das geschieht am ehesten mit einer fundierten psychotherapeutischen Unterstützung.
    (Aber das Leben geht für Henning ja nach dem letzten Zuklappen des Buches noch weiter ;-) vielleicht sucht er sich ja noch Hilfe.)

    Teilen
  1. Beklemmend, packend und großartig erzählt

    „Wenn er versucht, falsche Gedanken zu vermeiden, rennt er wie ein gehetztes Reh durch den eigenen Kopf.“ (Originalzitat, Seite 33)

    Inhalt:
    Ohne seine Frau Theresa vorher zu fragen, hat Henning spontan ein kleines Ferienhaus auf Lanzarote gemietet, zwei Wochen über Weihnachten und Neujahr. Das Ehepaar hat zwei Kinder, den vierjährigen Jonas und die zwei Jahre jüngere Bibbi. Eine moderne Familie, beide haben gute Jobs mit Teilzeit-Anwesenheitspflicht, teilen sich Kinderbetreuung und Haushalt. Doch kurz nach Bibbis Geburt begannen bei Henning die heftigen Panikattacken und die Angststörung bestimmt seither sein Leben, das ihn ohnedies oft überfordert. An diesem Neujahrsmorgen in Lanzarote nimmt er sich vor, sich auch wieder Zeit für sich selbst zu nehmen und schwingt sich auf sein Leihrad: sein Ziel ist das hoch über dem Meer gelegene Bergdorf Femés, zu erreichen über eine herausfordernd steile Straße. Erschöpft erreicht er sein Ziel und plötzlich überfällt ihn die Erinnerung an ein schreckliches Ereignis, das er bisher verdrängt hatte, denn vor vielen Jahren hatte er genau hier mit seinen Eltern und seiner Schwester Luna Urlaub gemacht.

    Thema und Genre:
    Dieser Roman handelt von den psychischen Auswirkungen einer gravierenden Erfahrung in der Kindheit und vom Tabuthema Angststörung. Thema sind auch moderne Familienstrukturen zwischen Karriere, Job und Kindererziehung und der Druck, funktionieren zu müssen.

    Charaktere:
    Hauptprotagonist ist Henning, ein Mann, von dem erwartet wird, in vielen Rollen gleichzeitig perfekt zu funktionieren: als liebender Ehemann und Vollzeitvater, erfolgreicher Mitarbeiter eines Sachbuchverlages. Auch seine jüngere Schwester Luna kommt immer wieder Hilfe suchend zu ihm und er fühlt sich für sie verantwortlich, genau wie damals, als seine Eltern von ihm erwarteten, als „großer Junge“ auf seine Schwester aufzupassen, obwohl er damals selbst erst vier Jahre alt gewesen war.

    Handlung und Schreibstil:
    Juli Zeh ist eine herausragende Schriftstellerin, die mit der Sprache spielt und der es perfekt gelingt, einerseits ruhig schildernd zu erzählen, um dann andererseits wieder sprachgewaltige, beklemmende Bilder vor den Augen der Leser entstehen zu lassen.
    Der Weihnachtsurlaub auf Lanzarote und die Gedanken, die sich Henning über seine aktuelle Lebenssituation macht, bilden nur die Rahmenhandlung. Die Haupthandlung findet in der Vergangenheit statt, es sind die dramatischen Ereignisse seiner frühen Kindheit, an die sich Henning plötzlich wieder erinnert, chronologisch, wie in einem Film.

    Fazit:
    Ein beklemmender Roman, sehr packend erzählt. Auf nur 200 Seiten enthüllt sich dem Leser langsam und eindringlich eine spannende Geschichte aus der Vergangenheit, die erklärt, warum die Gegenwart ist, wie sie ist. Ein Buch, das noch lange in den Gedanken des Lesers bleibt.

    Teilen
  1. 5
    12. Nov 2018 

    Über ein frühkindliches Trauma

    Über ein frühkindliches Trauma

    Gleich vorneweg gesagt: Das Buch war super. Es hat mir vom Inhalt und vom Aufbau her sehr gut gefallen.

    Die Handlung
    Die Handlung behandelt eine gut situierte vierköpfige deutsche Familie, die aus Göttingen kommt und die in Spanien, auf Lanzarote, ihr Neujahr verbringt. Eine einsame Gegend, in Fémes, wo Henning als Kind schon mit seinen Eltern Urlaub gemacht hat. Das wird ihm aber erst sehr viel später bewusst …
    Ein emanzipiertes Ehepaar, in dem die Aufgaben zwischen den Eheleuten in der Familie und im Haushalt gleichberechtigt verteilt sind. Henning und Theresa gehen beruflich einer Halbtagsbeschäftigung nach. Allerdings ist Theresa diejenige, die mehr verdient als Henning ... Im Vordergrund glaubt man es mit einer perfekten und harmonierenden Familie zu tun zu bekommen.

    Henning ist bemüht, ein guter Ehemann und Vater zu sein, aber ihm ist neben den Familien- und beruflichen Pflichten auch wichtig, außerhalb dieser Einrichtungen ein autonomes Leben zu führen, ganz allein für sich Dinge zu tun, die ihm guttun. Er möchte innerlich unabhängig sein. Zur reinen Entspannung fährt er gerne alleine Fahrrad, umrundet damit die Insel auf Lanzarote, viele aufsteigende Straßen, und sich ihm dabei viele Episoden seiner Kindheit aufgetan haben. Auch geht er häufig Sinnfragen auf den Grund.
    Auf Lanzarote schließt die Kleinfamilie 2017 das alte Jahr ab. Beide hoffen, dass das neue Jahr besser wird als das alte.

    Henning ist in einem linkslastigen Sachbuchverlag tätig, Theresa in einem Steuerbüro.

    Trotz aller Bemühungen bekommt Hennig den Familienalltag nicht so gut hin wie Theresa. Oftmals scheint er überfordert zu sein. Er leidet an einer psychischen Störung, Theresa tippt auf einen Burnout, als Henning ihr von seinen Beschwerden berichtet, und empfiehlt ihm dringend einen Psychologen aufzusuchen. Theresas Stimmung ist oft gereizt, wenn die Kinder immerzu nach der Mutter rufen und an ihrem Rockzipfel hängen. Die Kinder spüren, wenn der Vater mit ihnen überfordert ist. Hennig ist der Meinung, dass die emanzipierten Geschlechterrollen nicht einfach umzusetzen sind. Theresa wirft Henning vor, dass er eine mangelnde Bereitschaft mitbringen würde, seine Vaterrolle auszufüllen. Henning sieht das anders:
    Kinder sind, was sie sind. Seit frühester Kindheit spielt Jonas mit Baggern, Bibbi mit Puppen, obwohl weder Henning noch Theresa dem klassischen Geschlechtermodell entsprechen. Und sie schreien nach Mama. Bibbi und Jonas interessieren sich nicht für die Regeln der modernen Emanzipation. (2018, 45)

    Theresa zeigt für Hennings psychische Labilität wenig Verständnis, da er damit die ganze Familie überfordern würde.
    Sei ein Mann! Einer, den ich lieben kann. (66)

    Man lernt auch Luna kennen, Hennings Schwester, die ihr Leben als eine erwachsene, junge Frau noch nicht wirklich im Griff hat. Derzeit lebt sie übergangsweise in Göttingen bei seinem Bruder und dessen Familie. Theresa stinkt es, dass Henning eine Beschützerrolle für seine Schwester übernommen hat ...

    Henning leidet dazu noch an einer massiven Spinnenphobie ...

    Im nächsten Abschnitt verlässt man die Gegenwart und kommt in die Vergangenheit. Hier wird man in die Herkunftsfamilie von Henning und seiner Schwester Luna versetzt. Beide noch sehr klein, zwei und vier Jahre alt. Henning ist das ältere Kind. Er befindet sich mit seinen Eltern und Luna auf Lanzarote, auch in Sémes. Man bekommt auch hier den Eindruck, dass die Familie harmoniert und glücklich ist. Aber der Schein trügt. Zwischen den Eltern kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung, die eine solch große Auswirkung hat, dass eines Morgens beide Elternteile nicht zu Hause sind, als die beiden Kinder aufwachen. Wo sind die Eltern? Henning sucht sie überall, die aber nirgends zu finden sind. In seiner kindlichen Fantasie findet er Erklärungen, wo die Eltern sein könnten. Nun muss er sich um sich selbst und um seine kleinere Schwester kümmern und übernimmt bestmöglich die elterliche Verantwortung, mit der er schier überfordert ist ... Hier wird nun deutlich, weshalb Henning seiner Schwester gegenüber eine Beschützerrolle übernommen hat ... Man kann hier nun verstehen, woher Henning seine Spinnenphobie hat ...

    Im dritten Abschnitt verlässt man Hennings und Lunas Kindheit und man ist zurück in der Gegenwart. Der Urlaub auf Lanzarote ist vorbei und die Familie befindet sich wieder in Göttingen. Auch wenn das nicht explizit aus dem Kontext hervorgeht, bekommt man mitgeteilt, dass Henning und Luna sich nach dem Urlaub mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben, und haben die Mutter dadurch zur Rede gestellt ...

    Zum Schreibkonzept
    Der Roman ist weder in Teilen noch in Kapiteln gegliedert. Trotzdem ist eine Struktur lesend deutlich erkennbar. Die Familiengeschichte besteht aus drei Teilen. Auf den ersten 92 Seiten befindet man sich im ersten Teil, in der Gegenwart, Neujahrsurlaub auf Lanzarote. Von der Seite 93 bis 175 befindet man sich im historischen Bereich, in der Kindheit von Henning und Luna, die sich im Sommerurlaub auch in Lanzarote aufhalten. Der dritte Teil, von der Seite 176 bis zur Seite 192, führt die Autorin ihre Leser*innen wieder zurück in die Gegenwart.

    Ich habe im zweiten Teil richtig mit den Kindern mitgebangt und konnte den Schluss kaum abwarten. Als man sich wieder in der Gegenwart befand, ohne dass irgendeine Aufklärung stattgefunden hat, hatte ich befürchtet, die Autorin habe den Schluss offengehalten. Aber nein, erst auf den letzten Seiten erfährt man, was den Eltern von Henning und Luna in ihrer Kindheit widerfahren ist. Die mittlerweile erwachsenen Kinder stellen die Mutter zur Rede, warum sie damals alleine gelassen wurden … Erst in Sémes bekommt Henning eine Ahnung, dass er schon mal hier gewesen sein muss, ohne sich wirklich an die Fakten erinnert zu haben …

    Cover und Buchtitel?
    Beides fand ich passend. Der Käfer auf dem Cover hatte mich beschäftigt, denn noch vor dem Lesen hatte ich mich gefragt, was dieser Käfer bedeuten könnte. In der Geschichte bekommt man es sogar mit zwei Käfern zu tun. Mit einem Tausendfüßler und mit einem Skarabäus. Diese Käfer hatten damals die Kinder auf den Steinen gemalt. Der erwachsene Henning hatte diese Steine auf der Insel wiedergefunden, die ihn zum Nachdenken brachten.

    Meine Identifikationsfigur
    Theresa

    Meine Meinung
    Erst dachte ich, dass Henning mit den Familienpflichten überfordert ist, und er nicht einsehen konnte, weshalb es an ihm liegen sollte, dass das Familienmodell nicht 1:1 umzusetzen war. Wenn man allerdings Hennings Kindheit in Betracht zieht, dann war es klar, weshalb er in seiner eigenen Familie psychische Probleme hatte. Er und Luna sind mit einem schweren Trauma groß geworden, das nicht aufgearbeitet wurde.
    Aber ich teile nicht Hennings Meinung, dass Kinder per se sich zur Mutter hingezogen fühlen. Auch nicht, dass Jungen nur mit Bagger und Mädchen nur mit Puppen spielen. Hierzu fällt mir das Buch Typisch Mädchen von der Juristin Marianne Grabrucker ein, die ein Tagebuch zu ihrer kleinen Tochter geführt hat. Marianne Grabrucker hat ihre Tochter ganz bewusst geschlechtsneutral erzogen. Das heißt, das Mädchen durfte alles machen, was auch Jungen machen. Sie ist mit ihrer Erziehung dennoch gescheitert, weil an der Erziehung ihres Kindes noch andere Menschen beteiligt waren, wie zum Beispiel die Großeltern, der Kindergarten, Werbeplakate, etc … Im Alter von drei Jahren wusste die Kleine schon, was Männer und was Frauen für Beschäftigungen nachgehen. Das Buch hat deutlich machen können, dass man als Eltern nicht alleine die Kinder großzieht, sondern dass ein gesamtes System von Gesellschaft an der Erziehung beteiligt ist.

    Was mir nicht gefallen hat?
    Ich fand die Übergänge vom ersten Teil bis zum dritten Teil nicht fließend, zu hauruckartig von einer Familiengeschichte in die nächste geworfen worden zu sein. Und ob die Haltung vom kleinen Henning authentisch war, aus dessen kindlichen Perspektive mit diesen Nöten fertigzuwerden, wage ich zu bezweifeln.

    Mein Fazit?
    Ich hätte so richtig Lust, das Buch ein weiteres Mal zu lesen. Ein wunderbares Buch, das mich einfach nicht mehr loslassen konnte und ich keine Ahnung hatte, wie die Geschichte weitergehen könnte. Die Ausgänge waren nicht vorhersehbar. Ich konnte das Buch nicht genießen, weil ich zu schnell von einer Seite zur nächsten raste. Nicht nur den zweiten Teil fand ich spannend, auch der erste Teil stimmte mich sehr neugierig. Und im dritten Teil hoffte ich sehnsüchtig auf die Auflösung der Probleme von Henning und Luna aus den Kindertagen. Und ich hätte mir noch mehr Transparenz gewünscht .

    Auf meinem Blog gab es einen halben Punktabzug.

    Teilen
  1. Neuer Anfang ?

    Am Neujahrsmorgen 2018 sitzt Henning in Lanzarote auf dem Fahrrad. Sein Ziel ist der steile Pass von Fermés, da er sich beweisen will, dass er das schafft. "Erster, erster, erster", betet er sich vor, wenn seine Kräfte ihn verlassen.

    Während er einsam gegen Wind und Berg kämpft, lässt er den letzten Abend Revue passieren und reflektiert über sein Leben, das objektiv betrachtet, gut verläuft:
    Er liebt seine Frau Theresa, gemeinsam kümmern sie sich um die Kinder Bibi (2) und Jonas (4), wobei er mehr Zeit zu Hause verbringt, da seine Frau besser verdient. Wurmt ihn das? Ist das Grund, warum "Es" immer wieder hervor kriecht.
    Henning leidet unter Angstzuständen, hat Panikattacken, die ihn überfallen und mit denen er nicht zurecht kommt. Hat Theresa deshalb den letzten Abend mit dem Franzosen vom Tisch gegenüber Tango getanzt? Wird dieser Urlaub der letzte gemeinsame sein? Während er sich weiter den Berg hinauf quält, beschleicht ihn das Gefühl, dass er diese Gegend kennt. Er erreicht eine einsame Villa, an deren Hauswand viele Spinnen sitzen - schlagartig hat er ein Déja-Vu, er kennt dieses Haus...

    Im zweiten Teil des Romans erzählt der vierjährige Henning von einem schrecklichen Erlebnis aus seiner Kindheit, das er bisher verdrängt hat.

    Bewertung
    Zu Beginn kann man als Elternteil Hennings Gedanken gut nachvollziehen. Wenn er von seiner Erschöpfung spricht, davon, wie anstrengend die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist, wie unzufrieden er sich in seiner Rolle fühlt, dann nickt man zustimmend beim Hören und denkt, genauso ist es. Juli Zehs klare Sprache deckt die Widersprüche in Hennings Leben auf, seine Unsicherheit und seine Verzweiflung darüber, dass es scheinbar keinen Grund für die Panikattacken gibt. Besonders gut hat mir der Teil aus der kindlichen Perspektive gefallen - sehr genau beschreibt Zeh, wie die Situation auf ein vierjähriges Kind wirken muss, so dass man zwangsläufig intensiv mitfühlt - viel mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten, aber ich konnte beim 2.Teil fast nicht mehr auf "hören" ;), wozu auch der hervorragende Sprecher Florian Lukas maßgeblich beigetragen hat.
    Die psychologischen Ursachen für die Panikattacken, Hennings Reaktionen und Wahrnehmungen während der Fahrradfahrt werden im 2.Teil nachvollziehbar erzählt und den Schluss fand ich ebenso schlüssig wie genial.

    Klare Lese-Empfehlung!
    Jetzt freue ich mich demnächst auf "Unterleuten", das noch ungehört in meiner Bibliothek auf mich wartet.

    Teilen
  1. Wenn die Maske der Erinnerung fällt...

    Schon immer wollte ich ein Buch der Autorin lesen und da mich der Klappentext enorm ansprach, begann ich mit der Lektüre und wurde förmlich in das Buch hineingesogen.

    In der Geschichte geht es um Henning, glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder. Doch er ist vom Leben überfordert und Panikattacken quälen ihn. Ein Urlaub auf Lanzarote soll ihm Erholung bringen, doch dort quälen ihn Erinnerungen, die er nicht so recht einordnen kann. Ist es möglich, dass er als Kind schon mal auf der Insel war und damals Schlimmes passiert ist? Aber was?

    Ein beobachtender Erzähler bringt uns Henning und seine Familie näher, die so tickt wie du und ich. Das Leben mit Kindern ist nicht leicht, was hier sehr realistisch und zugleich natürlich beschrieben wird. Es ist nicht alles eitel Sonnenschein und längst vieles nicht mehr wie in der eigenen Kindheit.

    Sehr bildhaft beschreibt Frau Zeh einzelne Szenen und fast hat man das Gefühl selbst der Akteur in der Geschichte zu sein.

    Henning steht im Mittelpunkt der Handlung. Man kann sich gut in ihn hineinversetzen, mit ihm fühlen und hat vollstes Verständnis für seine Überforderung. Gerade bei seinen Gefühlen nur noch zu funktionieren und wie seine Ehe abläuft, fühlte ich mich direkt angesprochen.

    Die Handlung hat mich so sehr mitgenommen, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu lesen und das Geschriebene innerhalb eines Tages regelrecht weggesuchtet habe. Gerade als es um die Kinder ging, war ich hin und weg und las wahrscheinlich ausschließlich mit offenem Mund.

    Fazit: Tief bewegend und emotional, eine Geschichte, die bei mir noch lange nachwirken wird, da sie mich doch sehr nachdenklich gestimmt hat. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

    Teilen