Der Erinnerungsfälscher: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Erinnerungsfälscher: Roman' von Abbas Khider
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4 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Erinnerungsfälscher: Roman"

Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, auch wenn er in Berlin-Neukölln nur in den Supermarkt geht. Als er eines Tages die Nachricht erhält, seine Mutter liege im Sterben, reist er zum ersten Mal seit Jahren in das Land seiner Herkunft. Je näher er seiner in Bagdad verbliebenen Familie kommt, desto tiefer gehen die Erinnerungen zurück, an die Jahre des Ankommens in Deutschland, an die monatelange Flucht und schließlich an die Kindheit im Irak. Welche Erinnerungen fehlen, welche sind erfunden und welche verfälscht? Said weiß es nicht. Es ist seine Rettung bis heute. Eine Lebensgeschichte von enormer Wucht. In diesem bewegenden und poetischen Roman liegt der Klang eines ganzen Lebens.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:128
EAN:9783446272743

Rezensionen zu "Der Erinnerungsfälscher: Roman"

  1. 3
    21. Jan 2023 

    Flucht und Rückkehr...

    Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, auch wenn er in Berlin-Neukölln nur in den Supermarkt geht. Als er eines Tages die Nachricht erhält, seine Mutter liege im Sterben, reist er zum ersten Mal seit Jahren in das Land seiner Herkunft. Je näher er seiner in Bagdad verbliebenen Familie kommt, desto tiefer gehen die Erinnerungen zurück, an die Jahre des Ankommens in Deutschland, an die monatelange Flucht und schließlich an die Kindheit im Irak. Welche Erinnerungen fehlen, welche sind erfunden und welche verfälscht? Said weiß es nicht. Es ist seine Rettung bis heute. Eine Lebensgeschichte von enormer Wucht. In diesem bewegenden und poetischen Roman liegt der Klang eines ganzen Lebens. (Klappentext)

    Das Thema Flüchtlinge ist kein neues, aktuell ist es seit Jahrzehnten, denn immer herrscht irgendwo Krieg, werden Völkergruppen verfolgt oder muss jeden Tag ums nackte Überleben gekämpft werden. Said Al-Wahid floh seinerzeit aus dem Irak, ließ Bagdad und seine Familie hinter sich, um ein Leben ohne Angst führen zu können. Doch fühlt man sich wirklich zu Hause in dem Land, das einen letztlich aufnimmt, fremd die Sprache, die Kultur, das Denken? Said Al-Wahid lernt schnell die Sprache, nimmt einen Beruf an, heiratet und setzt ein Kind in die Welt. Doch ersetzt das die Wurzeln, die einst gekappt wurden? Die gleichgültige Bürokratie mit nicht immer wohlwollenden Sachbearbeiter:innen in Deutschland tun ihr übriges. Selbst nach der Einbürgerung kämpft Said Al-Wahid manchmal gegen Windmühlen.

    "Es war, als ob Saids Leben kein Leben wäre, sondern ein überflüssiger Satz in den Akten der Behörden: Jeder konnte ihn mit einer flüchtigen Bewegung wegstreichen. Es war ein wertloses Leben, nur ein Furz am Rande aller Welten."

    Doch um diese Themen geht es nur zu Beginn. Said Al-Wahid erfährt von seinem Bruder, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Will er sie noch einmal lebend sehen, muss er sofort zurück in den Irak. Er macht sich sogleich auf zum Flughafen und auf den Weg nach Bagdad. Im Flugzeug und nach seiner Ankunft wird er von Erinnerungen überschwemmt. An seine Kindheit und Jugend, an seine Fluchtgedanken und schließlich an die Flucht selbst. Aber - die Erinnerungen sind trügerisch. Oft gibt es große Lücken, die Said durch seine Fantasie zu schließen sucht, zuweilen erinnert er sich an verschiedenen Versionen desselben Geschehens, bei vielem ist er auch erleichtert, dass er sich nicht erinnern kann. Doch die Zustände im damaligen Irak werden auch so deutlich, der Fluchtplan wird nachvollziehbar.

    "Er wollte auch verhindern, dass irgendjemand in seiner Vergangenheit bohrte (...) Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reißen. Ein Leben kann schön und erträglich sein, wenn man diese Orte meidet."

    Zuweilen poetisch, meist aber eher nahezu lakoinisch wird hier von Said Al-Wahid erzählt, von seiner Flucht aus dem Irak, der durchaus auch willkürlich anmutenden Bürokratie in Deutschland, seinen Erinnerungslücken, den Zuständen in seiner ehemaligen Heimat, dem Verlust. Themen werden meist nur angerissen, vieles nur angedeutet, wenig vertieft. Der Schreibstil ist distanziert, so dass die Emotionen außen vor bleiben. Ich hätte mir ein intensiveres Leseerlebnis gewünscht, auch wenn ich respektiere, dass der Autor, der hier sicherlich eigene Erlebnisse hat einfließen lassen, diese distanzierte Darstellung für sich gewählt hat.

    "Er ist nie mit seiner kleinen Familie heimgereist und nun liegt seine Mutter im Sterben. Als Said wegging, war das Land ein Loch der Verzweiflung; zwei Jahrzehnte später ist es zu einem Loch der Hoffnungslosigkeit geworden."

    Eine ruhige und zurückhaltende Erzählung ohne großen Spannungsbogen mit einem Einblick in die Thematik Flucht (Gründe, Gefahren, Hürden, Entwurzelung). Und über die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen. Ein wenig intensives Leseerlebnis, aber durchaus lesenswert.

    © Parden

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  1. Das Gehirn fälscht die Erinnerungen

    Dieser autofiktionale Roman thematisiert zum einen das Kriegstrauma des Protagonisten und zum anderen die bürokratischen Hürden in Deutschland für Migranten und Flüchtlinge - das erinnert mich an "Dschinns", was ich auch noch lesen werde (und, wie Barbara, auch an "Herkunft").

    Said Al-Wahid ist nach seiner jahrelangen Flucht aus dem Irak in Deutschland angekommen, hat studiert, geheiratet, einen Sohn bekommen, erste Erfolge als Schriftsteller. Dann bekommt er einen Anruf aus dem Irak: Sein Bruder teilt ihm mit, dass seine Mutter im Sterben liegt. Er fährt sofort zum Flughafen und fliegt nach Bagdad, wo er seit seiner Flucht nur zweimal war.

    Er fängt an, sich an seine Kindheit und die Zeit dort zu erinnern, was ihm aber aufgrund der Umstände (Gefängnis, Folter, Krieg, Flucht) sehr schwer fällt. Erst als er seine Erinnerungen ausschmückt und Fehlendes hinzuerfindet, gelingt ihm dieses Buch. Er erzählt von seiner Flucht, seinem Studium in München, seinem jetzigen Familienleben in Berlin, seinen Schwierigkeiten mit den Behörden.

    Er hat jetzt einen deutschen Pass und muss daher am Flughafen Bagdad ein teures Visum kaufen. Dann fährt er mit seinem Bruder durch die Stadt, die sich wieder völlig verändert hat, empfängt mit der Familie Freunde und Verwandte zum Trauerbesuch und ist zum Schluss froh, wieder zurück nach Berlin fliegen zu können.

    Leider reißt der schmale Band vieles nur an, deshalb ziehe ich einen Stern ab, aber man spürt trotzdem, dass Khider das Thema wichtig ist. Das sollte es für uns auch sein.

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  1. Erinnerungen erforden Mut

    Der Erinnerungsfälscher,

    nennt sich selber so, weil er seine eigenen Erinnerungen nicht abrufen kann, und manchmal auch nicht abrufen will. Um aber beruflichen Erfolg zu haben, muss er sie abrufen, oder eben fälschen.
    Das Buch hat mich einerseits total berührt, da es sehr anschaulich vermittelt, wie man sich als Mensch fühlt, wenn man zwischen verschiedenen, absolut konträren Weltanschauungen festsitzt, andererseits vermittelt es dem Leser durch die distanzierte Erzählweise in der dritten Person eine Leere und Empathielosigkeit, die mich manchmal sprachlos gemacht hat. Der Protagonist Said Al-Wahid wurde in Bagdad geboren und floh in jungen Jahren nach Deutschland, wo er den ganzen bürokratischen Tücken dieses Staates ausgeliefert war. Zu Hause scheint er sich hier nicht zu fühlen, aber zumindest angekommen. Angekommen in einem Leben, das familiär , sicher und stabil ist. Auch Bagdad scheint nicht mehr seine Heimat zu sein, alles ist anders, war aber noch nie wirklich gut. Hier fehlen Stabilität und Sicherheit völlig. Dafür gibt es wahrscheinlich nur ein Minimum an Bürokratie.
    All die Zerrissenheit und Heimatlosigkeit waren eindringlich und sehr berührend beschrieben. Ein wenig gefehlt hat mir die Nähe zu Monika, sie fällt leider oben angesprochener Empathielosigkeit zum Opfer.
    Dieses Buch bespricht auch einige Themen, die ein Land betreffen, welches noch nie wirklich in Frieden lebte. Und den Kontrast der deutschen Mentalität. Schade fand ich auch ein wenig, dass der Autor nie den Mut gefunden hat, seinem Protagonisten den einen Moment der Schwäche einzugestehen, in dem er um Hilfe für sein Gedächtnisproblem ersucht. Hier wäre ein dezenter Hinweis auf das Thema PTBS sehr befreiend gewesen. So wirkt das ganze Buch in großen Teilen ein wenig depressiv und hilflos , da der Protagonist" in keiner Situation wirklich selber richtig aktiv wird", er handelt immer nur nach den Vorschlägen und Maßgaben anderer. Passend hierzu sind die Parallelen zum Buch " Die Taube " von Patrick Süskind, welches der Protagonist dreimal versucht zu lesen.

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  1. Zwischen Realität und Fiktion

    Zweimal war Said Al-Wahid seit seiner Flucht in seiner irakischen Heimat: nach dem Sturz der Diktatur, heimlich, während in Deutschland sein Asylverfahren lief und in den Straßen von Bagdad das Chaos amerikanischer Soldaten herrschte, und zwei Jahre später kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs. 2014 wird er plötzlich ein drittes Mal nach Hause gerufen: Sein jüngerer Bruder Hakim teilt ihm mit, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Said, der gerade auf dem Weg von einer Podiumsdiskussion in Mainz zurück nach Berlin ist, begibt sich umgehend zum Frankfurter Flughafen:

    "Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, egal, wohin er geht. Er hat ihn bei einem Podiumsgespräch in Mainz dabei und auch im Supermarkt um die Ecke." (S. 25)

    Auf seiner Reise nach Bagdad begleiten ihn Gedanken an seine vier Jahre dauernde Fluchtodyssee, seine ersten Jahre in Deutschland mit befristeten und unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen, Abschiebungsandrohungen, Widerrufsverfahren, Duldung und schließlich der Einbürgerung, bürokratischen Schikanen bis heute und einem ständigen Gefühl der Unsicherheit:

    "In der Fremde gibt es keine Himmelsrichtungen." (S. 8)

    Traumata
    Dabei ist Saids Integration eine Erfolgsgeschichte: Abitur am Studienkolleg und Studium an der Philosophischen Fakultät in München als einziger arabischer Student, Jobs zur Finanzierung, Ehe mit Monica, einer deutschen Sozialarbeiterin aus einer Mittelschichtsfamilie, der zweijährige Sohn Ilias und erste schriftstellerische Erfolge.

    Worüber er mit niemandem sprechen kann, sind die „Minenfelder“ im Gedächtnis, der als Verräter hingerichteten Vater, über den geschwiegen werden musste, die im Bürgerkrieg mit ihrer Familie getötete Schwester und die traurige Mutter, die mit Krisen umgehen kann, nicht jedoch mit glücklichen Momenten. All dies beeinträchtigt sein Erinnerungsvermögen:

    "Said scheiterte bei jedem Versuch, einen längeren Text zu verfassen. Es war grauenhaft." (S. 47)

    Erst als er beginnt, die Gedächtnislücken mit Fiktion zu füllen, erlebt er einen „Schreibdurchfall“.

    "Der Erinnerungsfälscher" des deutsch-irakischen Autors Abbas Khider ist mit gerade einmal 124 Seiten leider ein sehr kurzer Roman. Albtraumhafte Flucht aus einem desolaten Land, Ankommen in Deutschland, das auch den integrationswilligsten Schutzsuchenden immer neue bürokratische Felsbrocken in den Weg rollt, Rassismus und Vorurteile in der neuen sowie schwierige Besuche in der alten Heimat, wo sich auch Jahre nach dem Sturz der Diktatur nichts zum Besseren entwickelt, sind seine Themen.

    Mehrwert der Perspektive
    Wie bei "Herkunft" von Saša Stanišić oder "Eine Formalie in Kiew" von Dmitrij Kapitelman liegt der besondere Wert von Abbas Khiders Roman für mich in der Perspektive des Migranten, der aus eigener Anschauung schreibt. Zwar betont er in Interviews, dass "Der Erinnerungsfälscher" ein literarisches Werk und keine Biografie sei, sein eigenes Schicksal als 1973 in Bagdad geborener Autor, seine Flucht 1996 nach mehreren Gefängnisaufenthalten und die Ankunft in Deutschland 2000 liefern jedoch erkennbar die Vorlage.

    Dass man trotz der traurigen Thematik bei der Lektüre nicht verzweifelt, liegt am gelungenen Wechsel zwischen nüchtern wiedergegebenen Fakten und Poetik, den originellen Sprachbildern, dem Wortwitz und Humor und dem immer durchscheinenden Optimismus. Unfassbar, dass Abbas Khider erst mit 27 Jahren die deutsche Sprache erlernt hat!

    Sowohl für die deutsche Literatur als auch für die politische Debatte hierzulande sind Stimmen wie die von Abbas Khider eine große Bereicherung. Höchste Zeit also für mich, auch seine vier früheren, etwas umfangreicheren Romane kennenzulernen.

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