Nebenan: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Nebenan: Roman' von Kristine Bilkau
4.3
4.3 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Nebenan: Roman"

Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht. Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:288
EAN:9783630875194

Rezensionen zu "Nebenan: Roman"

  1. Zeitgenössische Probleme - lose aneinander gereiht

    Kurzmeinung: Zeitverschwendung

    Der Roman „Nebenan“ beschäftigt sich zunächst mit Problemen der Kleinstadt. Leerstand aufgrund hoher Mieten im Zentrum, Landflucht. Dieser Thematik wäre ich gerne gefolgt. Wären da nicht so viele andere Themen nebenher mit eingeflossen. Selbstverständlich die Plastikverschmutzung. Umweltschutz muss. Unerfüllter Kinderwunsch und Hormonbehandlung ist ein weiterer Themenbereich. Wir hören die Klagen der Protagonistin Julia, um die vierzig, über das Unverständnis männlicher Ärzte, und das Unverständnis ihres Partners, der zwar behauptet, mit ihr auch ohne Kinder glücklich sein zu können und Hormonbehandlung ist halt teuer, deshalb könne man auch wieder damit aufhören, sagt er, aber kann sie dem Kerl trauen, der vielleicht nach 15 Jahren mit einer anderen, einer Jüngeren doch noch ein Kind zeugt? Sie sitzt in der Falle. Die Gedanken Julias zum unerfüllten Kinderwunsch nehmen einen breiten Raum ein, gehen dann aber doch nicht in die Tiefe und bleiben irgendwo stecken. Und wollten wir nicht über das Sterben von Kleinstadt und Landflucht lesen? Oder schreiben? 

    Unerfüllter Kinderwunsch wäre einen eigenen Roman wert gewesen. Es gibt dazu tatsächlich eine Menge zu sagen, zum Beispiel, dass man nicht alles im Leben beeinflussen kann und dass menschliche Machbarkeit eine Grenze hat; oder dass keine Ehe einen Garantieschein besitzt; oder dass man auch dann ein erfülltes Leben haben kann, wenn man sich nicht reproduziert; und überhaupt. Aber davon lesen wir leider nichts weiter. Weil man dann in die Tiefe hätte gehen müssen und Kleinstadt überhaupt keine Rolle spielte. 

    Und auch sonst nichts. Nichts spielt wirklich eine Rolle. Themen, tauchen auf, versuchen zu zünden, aber bevor die Lunte den Sprengstoff erreicht, wird sie ausgetreten. „Nebenan“ könnte sehr wohl auch „Nebenher“ heißen. Oder „Perlenschnur unbehandelter Thematiken“. 

    Eine zweite Protagonistin stellt das Problem des Ärztemangels in den Raum und lässt es dort unbeachtet stehen. Die Doktorin Julia ist sechzig und macht sich allmählich Gedanken über einen Nachfolger. Dabei hätte ich sie gerne begleitet. Aber Julia kümmert sich dann doch lieber um Elsa, ihre betagte Tante, die sich allmählich aufs Sterben vorbereitet und ihr Haus ausräumt, Möbel verkauft, verschenkt, nur noch ein Stockwerk ihres Hauses nützt. Lebensende. Abschied. Trauerarbeit, die der Nochlebende leisten muss. Wieder eine Thematik, bei der ich mitgegangen wäre. Jedoch 

    muss ich weiter und mich mit Astrid ihrer Nachbarin zuwenden, von der sie sich entfremdet hat, weil deren Sohn ein Tierquäler ist. Spannend. Wieder ein bewegendes Thema. Eltern, die erkennen müssen, dass ihre Nachkommen keineswegs nette, liebe Kinder sind, sondern Monster. Äh, sind sie das? Zwar gibt es ein Gespräch zwischen Astrid und ihrer Nachbarin über die Angelegenheit, die einzige Szene, die ich richtig gut finde, aber erschöpfend behandelt wird auch diese Sache nicht. Und dergleichen mehr. Nirgendwo gibt es einen Schwerpunkt. Jedes Thema ist gleichgewichtig.
    Der angerissenen Themenbereiche ist kein Ende. Und nirgendwo darf man als Leser verweilen und sich adäquat auseinandersetzen. Nehme ich zur Kenntnis. Haken. Nehme ich zur Kenntnis. Haken. Dann lese ich doch lieber Zeitung. Dort steht das nämlich alles drin. Mit Hintergrund. Und im Detail. 

    Fazit: Eine lose Aneinanderreihung zeitgemäßer Problematiken. Mehr Aufzählung als Roman. Von daher völlig belanglos. 

    Frage: wie kommt dieser Roman auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises? Vermutung: die Jury wird wohl keine Zeitungen abonniert haben und muss durch „Nebenan“ erst auf Stand gebracht werden. 

    Kategorie: Roman.
    Verlag: Luchterhand, 2022
    Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022

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  1. Sehnsüchte und Einsamkeiten

    Im Zentrum dieser leisen Geschichte stehen zwei Frauen, die beide auf verschiedene Art in einer Zeit des persönlichen Umbruchs leben. Astrid erfährt angesichts des am Horizont drohenden Ruhestands einen Wegfall alter Gewissheiten und erhält anonyme Drohbriefe, Julia wünscht sich ein Kind, doch diese Sehnsucht bleibt trotz In-vitro-Fertilisation unerfüllt. Diese Brüche im Lebensentwurf stehen nicht im leeren Raum, die Gesellschaft ist jedoch weniger Trost als vielmehr Brennglas der empfundenen Unzulänglichkeiten. Und so zieht eine jede sich eher zurück ins Private, als nach echter Verbundenheit und Gemeinschaft zu streben.

    Ja, es geht viel um das Nebeneinander, das Miteinander – aber vor allem um den Mangel daran.

    Nicht von ungefähr gibt es eine ganz reale Leerstelle im Dorf: Eine Familie ist spurlos verschwunden, anscheinend über Nacht, Personifizierung der sozialen Verkümmerung. Sorgen wir uns überhaupt um unsere Nachbarn, gibt es eine Gemeinschaft, die noch etwas bedeutet? Inwiefern ersetzen wir menschliche Kontakte mit sinnentleerten Konstrukten wie Social Media? Leere, immer wieder Leere, der Roman findet viele Bilder und Worte dafür, im Großen wie im Kleinen, ohne plump offensichtlich zu werden. Klimawandel, Kleinstadtsterben, Kinderwunsch, die Geschichte wandert in ruhigem Erzählduktus durch die Themen.

    Julia kann sich nicht losreißen von den Instagram-Accounts, die eine heile heteronormative Welt voller niedlicher Kinder und strahlender Übermütter vorgaukeln, obwohl sie sich der Künstlichkeit bewusst ist. Sie tröstet sich damit, sie quält sich damit, und das eine lässt sich vom anderen nicht mehr trennen. Astrid dagegen wird durch die anonyme Post eine echte Auseinandersetzung mit dem Gegenüber verwehrt, und damit auch jede Möglichkeit der Verteidigung. Und das hat etwas sehr Gewaltsames an sich, bewusst dosiert. Im Zeitalter des Ghostings kann die Verweigerung persönlicher Kommunikation passive Nachlässigkeit sein, aber auch eine Form der Aggression.

    Neben den beiden Protagonistinnen betreten auch andere Charaktere die Bühne, rücken für kurze Zeit diesen oder jenen Aspekt der ins Wanken geratenen Zwischenmenschlichkeit ins Zentrum. Wer bin ich? Wie behaupte ich meine Individualität und bewahre mir gleichzeitig einen Sinn für Gemeinschaft?

    Der Roman lässt das immer wieder anklingen, mit klugem Feingefühl, gibt aber keine Lösungen vor. Das kippt mehrfach um ins still Bedrohliche, ohne dass »Nebenan« jemals auf Effekthascherei zurückgreift. Kristine Bilkau erzählt in einer Sprache der leisen, schlichten Töne, die sowohl Problematik als auch Potential der angesprochenen Themen auf den Punkt bringt – allerdings verzichtet sie darauf, jedes davon auszuerzählen, sie ist eine Meisterung der beredten Andeutung.

    Über das Ende können Leser:innen sich sicher streiten, denn die Autorin zieht diese Unverbindlichkeit konsquent durch bis zur letzten Seite: jegliche Antworten, die sie liefert, werfen letztlich weitere Fragen auf.

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  1. Klug, leise, lesenswert

    „Sie dreht sich um, betrachtet den Garten und fühlt sich auf einmal wieder beobachtet. Doch niemand ist zu sehen, das ist nur ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich hier an dieser Türe zu schaffen macht.“ (Zitat Seite 119)

    Inhalt
    Viele haben das Dorf am Nord-Ostsee-Kanal längst verlassen, auch die fünf Kilometer entfernte Kreisstadt zeigt zahlreiche Leerstände. Doch Julia fühlt sich sofort zu der Stadt mit ihren leeren Lokalen und Hinterhöfen hingezogen. Im Vorjahr hatten ihr Freund Chris und sie das alte Backsteinhaus in dem Dorf entdeckt, hergerichtet und sind aus der Großstadt hierhergezogen. Vor drei Monaten hat Julia ihren Keramikladen in der Kreisstadt eröffnet. Eines Tages kauft dort Astrid dort eine blaue Schale, für Marli, ihre Jugendfreundin. Astrid ist Ärztin, sie hofft, innerhalb dieses Jahres die Nachfolge für ihre Praxis lösen zu können, ihr Mann Andreas ist schon im Ruhestand. Astrids Tante Elsa, Mitte Achtzig, wohnt im Dorf im Haus neben Julia und so ist auch Astrid oft im Dorf. Anfang Januar fällt es Julia auf, dass sie die Familie Winter, die mit drei Kindern im Haus gegenüber wohnt, schon längere Zeit nicht mehr gesehen hat, sind sie noch nicht aus den Ferien zurück oder einfach ausgezogen? Astrid will einen Brief für Mona Winter abgeben, auch sie wundert sich. Doch außer Julia, Astrid, Elsa und einem Kind, das Julia im Garten des Hauses trifft, scheint sich niemand Gedanken über die verschwundene Familie zu machen.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um das Leben in ländlichen Gegenden und vor allem um Dinge, die fehlen, verschwundene Nachbarn, fehlende Nachfolger, ein unerfüllter Kinderwunsch, Lücken in der eigenen Familiengeschichte, Alltagsprobleme, Konflikte und die Suche nach Antworten.

    Charaktere
    Julia mit ihrer Sehnsucht nach einem eigenen Kind, Astrid mit ihrem Wunsch nach einer Nachfolge für ihre Praxis und Elsa, die dabei ist, die Dinge ihres Lebens zu ordnen: es sind diese drei unterschiedlichen Frauen mit ihren Wünschen und Sorgen, die im Zentrum dieser Geschichte stehen.

    Handlung und Schreibstil
    Die Handlung beginnt im Winter, zu Beginn eines neuen Jahres und endet im Sommer. Sie wird ergänzt durch Erinnerungen und Gespräche, die Ereignisse aus der Vergangenheit erzählen. Abwechselnd steht entweder Julia oder Astrid im Mittelpunkt eines Kapitels. Zunächst begegnen sie einander, ohne sich zu kennen, Astrid kauft eine Schale, die Julia angefertigt hat, ohne zu wissen, dass Julia auch die Nachbarin von Elsa ist. Diese und weitere Begegnungen im Dorf und in der Kreisstadt verbindet die Autorin gekonnt zu einer gemeinsamen Geschichte, der Geschichte der Menschen, die schon immer hier gelebt haben und jener, die neu zugezogen sind. Die Sprache erzählt einfühlsam, lässt den Figuren Raum, ist nicht bemüht, auf jede Frage auch eine Antwort zu finden. Großartig sind die Schilderungen des Umfeldes, der Landschaft am Kanal, der das Dorf in einen Nord- und Südteil trennt, der alten Häuser und teilweise verwilderten Gärten, der Kreisstadt, der unterschiedlichen Stimmungen der Natur.

    Fazit
    Eine leise, einfühlsam und lebendig erzählte Geschichte über das Leben, über Lücken, Wünsche, Abschiede und Neubeginn. Ein Roman über den Alltag und die Themen unserer Gegenwart, der den Mut hat, Fragen für die eigenen Gedanken der Lesenden offen zu lassen, statt einfach Lösungen zu präsentieren, und dennoch positiv bleibt.

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  1. 4
    15. Sep 2022 

    Winterküste

    Es ist kurz nach Weihnachten, müssten die Ferien nicht langsam vorbei sein? Julia fällt auf, dass sie die Nachbarn schon länger nicht gesehen hat. Sie selbst und ihr Mann wohnen noch nicht lange in dem kleinen Ort am Nord-Ostsee-Kanal. So gut kennt sie die Familie nebenan auch nicht. Dann taucht jedoch ein fremder Junge auf dem Grundstück auf, der jemanden zu suchen scheint. In der Kreisstadt betreibt Astrid eine Arztpraxis, schon seit einiger Zeit überlegt sie, die Praxis abzugeben. Allerdings ist ein Nachfolger nicht leicht zu finden. Schwimmen ist ihr großes Hobby und gerne kümmert sie sich um ihre Tante Elsa.

    Wieder kann man froh sein über die Auswahl, die die Jury für die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022 getroffen hat. Beim Erscheinen ist dieser kleine Roman nicht so aufgefallen. Umso schöner, dass das Leben in einer Nachbarschaft auf dem Land nun doch noch mehr Aufmerksamkeit bekommt. Es findet ein Wechsel im Ort statt, Alteingessene sterben, ihre Kinder hat es in die Welt gezogen und die Neuen bleiben häufig für sich oder unter sich. Und dennoch gibt es Begegnungen und Begebenheiten. Menschen versuchen, ihre Träume zu erfüllen, ihr Leben zu leben oder sich Neuem zu öffnen.

    Ruhig und melancholisch kann der Roman auf den Leser oder die Leserin wirken. Dennoch wird man gefangen genommen von dem kleinen Ort in Norddeutschland. Man spürt die Veränderungen, die die Zeit gebracht hat. Besonders die Kreisstadt ist wohl mit vielen Kreisstädten vergleichbar, Leerstand und Tristesse herrschen vor und wenig kann getan werden, um dies zu ändern. Und doch strahlt die Handlung eine gewisse Wärme aus, nach der Vereinzelung ein langsames Herantasten an den Nächsten. So Mittendrin hört es auf, dass man geneigt ist, sich die Entwicklungen in dem kleinen Dorf selbst weiterzudenken. Und so ist es wohl das Leben, es fließt dahin immer weiter. Man kann nichts bis zum Schluss erzählen, weil es einen Schluss in dem Sinne garnicht gibt.

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  1. 5
    03. Aug 2022 

    Das verlassene Haus...

    Es ist jetzt schon einige Wochen her, dass ich diesen Roman beendet habe, und immer noch habe ich das Gefühl, mit einer Rezension der Erzählung nicht gerecht werden zu können. Kristine Bilkau hat mit ihrer Komposition, dem melancholisch-leisen Ton, dem verdichteten und dabei doch so präzise ausgeloteten Schreibsil bei mir jedenfalls einmal mehr ins Schwarze getroffen.

    Im Grunde ist dieser Roman eher handlungsarm. Die Perspektive wechselt stetig zwischen der Enddreißigerin Julia, die mit Mann und Hund in ein kleines Dorf am Nord-Ostseekanal gezogen ist, und der etwa sechzigjährigen Astrid, deren Mann bereits im Ruhestand ist, und die selbst darüber nachdenkt, ihre Arztpraxis zu verkaufen und nur noch wenige Tage in der Woche zu arbeiten. Der eigentliche Fokus des Romans liegt auf der Gedanken- und Gefühlswelt der beiden weiblichen Hauptcharaktere, und auch das kann ungemein spannend sein. Kristine Bilkau jedenfalls lotet hier geheime Wünsche, Sehnsüchte und Ängste aus, wodurch der Roman eine große Intensität erlangt.

    Als dritter Protagonist fungiert hier noch ein verlassenes Haus, dessen Bewohner, eine fünfköpfige Familie, von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Der Briefkasten quillt über, und vor allem Julia als direkte Nachbarin macht sich so ihre Gedanken. Hätte sie etwas bemerken müssen? Probleme der Nachbarn erkennen? Auf sie zugehen?

    "Eine Trennung, ein Streit um das Sorgerecht, psychische Erkrankungen, finanzielle Probleme, die meisten Familien bemühten sich doch eher darum, jede Art von Schwierigkeit so lange wie möglich mit sich allein abzumachen. Wie gut musste man einen Menschen kennen, um etwas zu bemerken, um sicher sein zu können, dass etwas nicht stimmte? Und wie konnte man sicher voneinander unterscheiden, was Vermutungen und was Vorurteile waren? Wie nah musste man einem Menschen sein, um aus einem Verdacht heraus eine Frage stellen zu können, ohne neugierig oder aufdringlich zu wirken?" (S. 74)

    Doch bei diesen Fragen bleibt es nicht. Wie gut kennen wir eigentlich die, denen wir nahestehen? Hält nicht jede:r Geheimnisse verborgen, die, wenn sie ans Tageslicht kommen, Bilder verändern können? Was geschieht mit uns, wenn wir obsessiv einem Lebenstraum hinterherjagen und uns darüber zu verlieren drohen? Wie sehr beherrschen Ängste das Leben und unser Handeln? Fragen, denen sich die Charaktere im Buch stellen müssen, die aber auch den/die Leser:in anrühren. Sind das nicht existentielle Fragen?

    Wie nebenher flicht Kristine Bilkau noch weitere Themen ein und streift Problemfelder wie die Landflucht junger Menschen, die Vergreisung ganzer Landstriche, die Verödung von Innenstädten und deren schrumpfende Attraktivität, die lieblose Maschinerie künstlicher Befruchtung, die Hoffnungslosigkeit angesichts skrupelloser Umweltverschmutzung, die Vereinsamung des Einzelnen in der Gesellschaft. So zusammengefasst erschlägt es einen beinahe, aber die Autorin bemüht sich um eine erträgliche Dosis, die allerdings den melancholischen Grundton stetig speist.

    Ein handlungsreduzierter, leiser aber intensiver Roman über Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste - reduziert im Schreibstil, dabei präzise ausgelotet. Für mich ein Jahreshighlight!

    © Parden

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  1. Das Leben ist still auf dem Land

    Gerade kehre ich von „Nebenan“ zurück – sehr schön war es dort, leise, still, ruhig, melancholisch, manchmal auch bedrückend, bedeutungsvoll und wunderbar. „Nebenan“ ist eigentlich nur der Alltag zweier Frauen, die miteinander fast nichts zu tun haben, aber über ganz fein gesponnene Linien doch durch Berührungspunkte verbunden sind – so wie es in kleinen Orten und auf dem Land wohl häufiger der Fall ist. Astrid, Ärztin in der Kleinstadt, mit erwachsenen Söhnen und pensioniertem Ehemann, fehlt Freundschaft und auch Nähe zu ihrem früheren Leben. Die atmosphärisch dichten Einblicke in ihre Gefühlswelt und auch ihre Ängste, ihre Sorgen um ihre alternde Tante Elsa, die sich anscheinend sukzessive aus dem Leben verabschiedet, sind authentisch und nachvollziehbar eingefangen. Ebenso wie die Lebenswelt und der Kummer Julias, der aus Hamburg zugezogenen Keramikerin, die sich verzweifelt nach einem Kind sehnt, das aber trotz aller medizinischer Hilfe nicht kommen will. Ohne es von der anderen zu wissen, werden beide sehr stark von einem leerstehenden Klinkerhaus angezogen, dessen Bewohner spurlos verschwunden sind.

    Trotz dieses und weiterer leicht mysteriös oder bedrohlich anmutender Vorfälle, ist „Nebenan“ kein Krimi. Im Gegenteil, alle Fäden, bei denen man sich im Regelfall Lösung und Aufklärung wünscht, werden offengelassen, denn es geht dem Roman nicht um Klärung, um Abschluss. Stattdessen ist „Nebenan“ ein fast schon poetischer Schwebezustand, eine Lebensbeschreibung von Menschen und ihrem sterbenden Ort, vom schon verlorenen Kampf gegen die Landflucht und den Leerstand in Innenstädten, von der Einsamkeit im Leben und dem Unwissen, was Nebenan passiert, vom zunehmenden Verlust von Bindungen und der Sehnsucht danach. Diese Fülle an Themen, zu denen sich auch noch der Klimawandel und der unerfüllte Kinderwunsch gesellen, könnte einen Roman sehr leicht überfrachten, zu beladen wirken. Gerade dies ist hier nicht der Fall. „Nebenan“ steuert mit leichter Hand und unendlicher Eleganz durch diese Gewässer, ist sprachlich so ausgereift, in seinen Bildern so zart und empathisch, dass es eine Freude ist. Der Text bietet nicht nur zahlreiche Interpretationsmomente, er erreicht den Leser auch emotional. Kristine Bilkau gelingt es auf eindrucksvolle Art und Weise Alltag zu erzählen, denn eigentlich passiert „Nebenan“ nicht viel bis nichts und trotzdem liest man mit großer Spannung immer weiter. Die großen Stärken des Romans sind – neben dem Jonglieren mit so vielen relevanten Themen – die atmosphärischen Beschreibungen und die klugen und berückenden Innenperspektiven. Der graue, trübe, leere Ort in Schleswig-Holstein im Januar und die Wärme und Freiheit des Sommers werden ebenso erlebbar, wie akute Bedrohungen und Enttäuschungen, Gedankenkarussels und nostalgische Momente im Leben der Frauen.

    Für mich ist „Nebenan“ ein absolut lesenswerter, sprachlich wunderbarer, Roman, der allerdings nur für Menschen geeignet ist, die gut damit umgehen können, dass es im Leben still ist und für die meisten Themen keine Lösung gibt.

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  1. Landleben heute

    Dorfromane haben nicht erst Konjunktur, seit die Städte durch Corona-Lockdown und Homeoffice-Pflicht an Attraktivität eingebüßt haben. In diesem Genre treffen Neuzugezogene und Alteingesessene aufeinander, Traum und Alptraum liegen oft eng beieinander.

    Der dritte Roman "Nebenan" der Hamburgerin Kristine Bilkau gehört in dieses Genre, sticht aber zugleich angenehm heraus. Nach ihrem Debüt "Die Glücklichen" von 2015 über ein junges, von Abstiegsängsten gelähmtes Paar und "Eine Liebe in Gedanken" von 2018 über eine Tochter auf den Spuren ihrer verstorbenen Mutter spielt "Nebenan" in einem namenlosen Dorf am, genauer rechts und links vom Nord-Ostsee-Kanal und in der fünf Kilometer entfernten Kreisstadt.

    Zwei Frauen
    Julia und ihr Mann Chris, eine mit ihrer beruflichen Situation in Hamburg unglückliche Kunsthistorikerin und ein Biologe, beide Ende 30, versuchen im Dorf einen Neuanfang. Im efeuumrankten kleinen Backsteinhaus von 1921 mit Garten soll die Familiengründung endlich klappen.

    Astrid, Ärztin kurz vor der Rente mit eigener Praxis, wuchs im Haus ihrer Tante Elsa neben dem Efeuhaus auf. Sie arbeitet und lebt mit ihrem Mann Andreas in der Kreisstadt. Die drei Söhne haben die Heimat längst hinter sich gelassen.

    Für Kindergarten, Schule und Einkäufe sind die Dörfler auf die Kreisstadt angewiesen, doch auch dort bröckelt die Infrastruktur. Läden schließen, das leerstehende Kaufhaus wird abgerissen und das Jugendzentrum wegen Einsturzgefahr geräumt:

    "Ladenflächen bleiben leer und Häuser verfallen, weil es für wenige steuerlich von Vorteil ist […]." (S. 110)

    Julias neueröffneter Keramikladen scheint ein Hoffnungsschimmer, lebt aber hauptsächlich vom Onlinehandel.

    Keine heile Provinzwelt
    Wer hier Idylle erwartet, wird enttäuscht. Astrid findet bei einer Leichenschau Spuren von Misshandlung, leidet unter einer zerbrochenen Frauenfreundschaft, anonymen Drohbriefen und der Sorge um ihre alte Tante. Julias Kinderwunsch bleibt trotz Kinderwunschklinik vorläufig unerfüllt, Chris deckt einen Umweltskandal auf und das Einleben wird nicht zuletzt wegen Julias Menschenscheu schwieriger als gedacht:

    "[…], in diesem Dorf, in dem einige Leute aufeinander achten, aber nur einige, und zu denen gehören sie hier noch nicht." (S. 244)

    So ist es erstaunlicherweise die Zugezogene, die sich die meisten Gedanken um das plötzliche Verschwinden der Patchworkfamilie im hässlichen Gelbklinker gegenüber macht.

    Auf den ersten Blick scheinen die beiden Frauen gegensätzlich, einerseits die verzagte Julia mit ihrer Zurückgezogenheit, ihrem „wartenden Zimmer“ und ihrem sehnsüchtigen Stöbern nach Familienidylle in pastellfarbenen Internetforen, andererseits die tatkräftige, zugewandte Astrid mit dem nach außen perfekten Leben. Doch bei genauerer Betrachtung erkennt man ihre unerfüllten Sehnsüchte, ihre Ängste und Nöte, die sie auch vor ihren durchaus empathischen Männern verbergen.

    Ein bunter Themenstrauß und Raum für Fantasie
    In 42 Kapiteln, meist abwechselnd aus personaler Sicht der Protagonistinnen erzählt, zeigt die detailgenaue Beobachterin Kristine Bilkau zwei Frauenleben und die Veränderungen auf dem Land, unterschiedlichste Familienmodelle einschließlich Jugendwohngruppe, Grenzen zwischen Kümmern und Übergriffigkeit, Niedergang dörflicher und kleinstädtischer Strukturen, Leere und Einsamkeit, pastellfarbene Social-Media-Scheinwelten und das Unheimliche, das überall lauern kann.

    Während mir bei der ersten Lektüre viele Erzählstränge offen und in der Schwebe vorkamen, wie es das immer wiederkehrende Motiv des Wassers nahelegt, fügte sich bei der zweiten alles wie von selbst. Ob die Fantasie da zu sehr mit mir durchgegangen ist? Nun schien mir das Ende dieses melancholisch-stillen, stilsicher geschriebenen und absolut empfehlenswerten Romans hoffnungsvoll:

    "Manches ist offenbar ganz von allein miteinander verbunden, ohne dass man etwas dafür tun muss." (S. 267)

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