Der Keim

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Keim' von Tarjei Vesaas
4.9
4.9 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Keim"

Tarjei Vesaas (1897–1970) beschreibt in »Der Keim« eine Gruppe von Inselbewohnern, die eine verschworene Gemeinschaft bilden. Ein Neuankömmling auf der Insel bricht in dieses fest gefügte familiäre Miteinander ein und wirft einen dunklen Schatten auf den sonnigen Sommertag. Sein triebhafter Wahnsinn lässt ihn zum Mörder werden – der Mord führt unvermeidlich zu einem zweiten, und die ganze Insel lädt Schuld auf sich. Vesaas schrieb »Der Keim« 1940, einige Jahre vor seinen berühmten Romanen, und leitete nach einem naturalistischen Frühwerk damit die Phase symbolstarker, poetisch verknappter Prosa mit enormer psychologischer Intensität ein. Im Hintergrund klingt noch der traditionelle skandinavische Kollektivroman der Zwischenkriegszeit an. Besonderen Reiz gewinnt das Buch durch sein Entstehungsjahr: 1940 befindet sich Norwegen unter nazideutscher Okkupation, der düstere Eindringling und die Reaktion der Gemeinschaft stehen unter politischen Vorzeichen. Kein zweiter Autor ist in der Lage, das Unbeschriebene und Unausgesprochene mit solch einer Spannung aufzuladen wie Tarjei Vesaas. Und kein zweiter Autor kann sich derart in seine Figuren einfühlen und eine Nähe erzeugen, die einen bei der Lektüre geradezu körperlich erfasst. Vesaas’ sparsame, aber umso eindringlichere Erzählweise lässt jede einzelne Szene, jeden Satz und jede innere Regung zum Ereignis werden, und Hinrich Schmidt-Henkel gelingt in der Übersetzung das Kunststück, dieses filigrane Spiel von Andeutung und Auslassung, von Zurückhaltung und Übersprungshandlung haarfein nachzubilden.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:240
EAN:9783945370391

Rezensionen zu "Der Keim"

  1. Meisterhaft erzählte Parabel über den Kreislauf von Gewalt, über

    Ich las bisher noch nicht allzu viele Bücher aus dem Guggolz Verlag, aber es hat sich bereits der Eindruck in mir verfestigt, dass der Verlag mit seinem Namen für die Wiederentdeckung literarischer Schätze steht, die es zu heben gilt. "Der Keim" von Tarjei Vesaas hat diesen Eindruck verstärkt. Was für ein Buch!

    Dabei kam ich im ersten Zugang gar nicht direkt herein. Ich tat mich schwer mit den Szenen im Stall der Familie Li, mit denen ich erstmal nichts anfangen konnte. Im zweiten Anlauf hat das Werk aber direkt in seiner beispielhaften Grandiosität zu mir gesprochen. Es ist eine Parabel über den Kreislauf von Gewalt, über die Entstehung von Massenhysterie einerseits, aber gleichzeitig auch ein kraftvolles Beispiel für die verbindende Kraft von Gemeinschaft, eine Geschichte über Schuld und Vergebung fast schon biblischen Ausmaßes. Es steckt viel an Erklärungskraft drin, die auch ein Soziologenherz höher schlagen lässt: Wie entsteht Gewalt? Wie kommt es zu einer Massenhysterie? Welche heilende Wirkung hat Gemeinschaft? Und wie kann ein Neuanfang dennoch gelingen?

    Das Geschehen spielt auf einer namenlosen bleibenden Insel, die theoretisch überall liegen könnte. Denn Vesaas erzählt von allgemein Menschlichem; dem Keim, den ein jeder in sich trägt. Zunächst leben in Inselbewohner in einer scheinbar untrügbaren Idylle. Doch dies ändert sich schnell, als ein Fremder mit einem Boot auf die Insel zusteuert und diese betritt - ganz ohne Gepäck, aber eine eigene traumatische Vergangenheit mit sich tragend. Irgendetwas scheint in seinem Blick zu liegen, etwas, das die Inselbewohner, denen er gleich zu Beginn begegnet, fasziniert. Schnell entsteht eine Vorahnung davon, dass etwas Bedrohliches in der Luft liegt. Kaum betritt der Fremde den Hof der Familie Li und öffnet die Stalltür, geraten die Tiere völlig außer sich und entfalten eine bestialische Gewalt. Man spürt, das dies nur die Vorboten eines weit größeren Unheils sind.

    Ruhige Gespräche zwischen Mitter Li und ihrr Tochter Inga stehen im Kontrast dazu und verstärken gerade dadurch die Fassungslosigkeit und Hysterie, die kurz darauf folgen soll. Als Inga versucht, mit dem Fremden ein vertrauensvolles Gespräch zu führen, entlädt sich mit einem Mal all das, was in dem Neuankömmling Andreas so lange schon schwelt: Seine unbändige Energie wird freigesetzt und entlädt sich in einem zum Tode führenden Gewaltakt gegen Inga, die davon dermaßen überrascht ist, dass sie nur noch einen kurzen Schrei ausstoßen kann. Dieser genügt jedoch, um die Aufmerksamkeit der Inselbewohner vollends auf sich zu ziehen. Als die Gemeinschaft begreift, was Andreas getan hat, beginnt eine beispiellose Hetzjagd auf den völlig chancenlosen Täter, der endgütlig das verspielt hat, was er auf der Insel suchte: eine Heimat. Angeführt vom Bruder der Verstorbenen übt die Dorfgemeinschaft Selbstjustiz: Ein Mörder, so scheint es, hat jegliches Recht auf ein faires, gerichtliches Verfahren, geschweige denn darauf, hier eine Heimat zu finden und damit Teil der Gemeinschaft zu werden, verspielt.

    Während die unbeteiligten Eltern von Inga das begangene Unrecht trotz allen Schmerzes über ihren Verlust unmittelbar erkennen und insbesondere Vater Li die Vergeltungstat ablehnt, versinken die Täter und deren Mitläufer nun im Bewusstsein, dass sie den Keim des Bösen in sich tragen und zu Schlimmen fähig sind, in Scham. Angeregt durch die Außenseiterin Kari Nes versammelt sich die Dorfgemeine auf dem Hof der Familie Li, auch Sohn Rolv sucht dort Zuflucht. Doch Vergangenheit ist vergangen, Böses kann und darf nicht mit Bösem vergolten werden, und so herrscht Sprach- und Fassungslosigkeit vor, wozu man selbst fähig ist. Die Schlusszene hat schon fast biblische DImensionen. Denn wo Dunkellheit ist, gibt es auch das Helle und wer Schuld auf sich läft, dem wird auch vergeben. In der Kraft der zusammen schweißenden Gemeinschaft liegt nicht nur der Keim des Bösen verborgen, sondern ebenso der eines Neuanfangs.

    Beim zweiten Lektürezugang hat mich die Geschichte schnell in ihren Bann genommen und nicht mehr los gelassen. Atemlos las ich vom Hereinbrechen des Bösen in die Idylle und der dadurch ausgelösten Massenhysterie, bei der der eine Mord einen weiteren nach sich zieht. Ich war erschüttert, gleichzeitig aber sehr faziniert von Vesaas' Erzählkunst, bei der kein Wort zu viel ist; alles bedeutungsvoll ist. Die Geschichte stimmt sehr nachdenklich: Wozu ist ein Mensch in der Lage? Wie ist umzugehen mit kollektiver Schuld und Verstößen gergen Vernunft und Rechtmäßigkeit? Und ist der Mensch verloren oder darf er auf Rettung hoffen? Hier spielen für mich biblische Motive in die Geschichte herein, die ich ebenfalls mit großem Gewinn betrachte. Die Wirklichkeit kann verstörend sein, doch für jeden gibt es ein Morgen und damit neue Hoffnung, dass selbst die schwärzeste Dunkeltheit von Licht durchdrungen werden kann. So ist dieser 1940 erschienene und nun endlich der deutschen Leserschaft zugänglich gewordene Roman ein Zeugnis der heilenden Kraft, die jede Gemeinschaft als Keim ebenso in sich trägt wie den Keim der Verderbnis.

    Was für ein Buch! Es sollte Pflichtlektüre an Schulen sein. Lest es unbedingt!

    Ich bin sehr dankbar, dieses Buch entdeckt zu haben und genieße das Privileg, nun noch die Lektüre der beiden ebenfalls im Guggolz Verlag verlegten Werke vor mir zu haben. Ein Lobgesang auf die Literatur!

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  1. Kunstvoll gezeichnete Geschichte über das Böse

    „Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.“ (Franz Kafka)

    Ihr kennt das bestimmt: man liest ein Buch, findet es überragend – und steht dann vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe, eine Rezension zu schreiben, die dem Werk auch nur annähernd gerecht wird.
    Nun, ähnlich geht bzw. ging es mir mit „Der Keim“ von Tarjei Vesaas (aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel und einem Nachwort von Michael Kumpfmüller), erschienen im großartigen Berliner Guggolz-Verlag, der sich der Herausgabe vergessener literarischer Perlen vornehmlich aus Nord- und Osteuropa widmet und dessen Arbeit ich gar nicht oft und hoch genug loben kann (nein, ich werde NICHT für die Werbung bezahlt ha ha ha).

    Back to the story:

    Die Leser betreten mit Beginn eine nicht näher benannte Insel, auf der (vermeintlich) Harmonie herrscht *g*. Warum vermeintlich? Nun, welche Gemeinschaft (egal ob klein, mittel oder groß, gebildet oder ungebildet, reich oder arm) wird nicht früher oder später von Neid, Missgunst etc. heimgesucht? Oder wie es bei Tarjei Vesaas heißt

    „[…] Was half das alles? Das Grauen drang ja dennoch ein.“ (S. 123)

    Denn mit Ankunft von Andreas Vest beginnt die Atmosphäre auf der Insel sich zu wandeln. Dabei will er doch einfach nur Ruhe finden – Ruhe vor den Stimmen in seinem Kopf, Ruhe vor bzw. von dem erlittenen Schicksalsschlag. Und doch wird er zum Mörder…Wie werden die Inselbewohner auf den Mord reagieren? Und ist die Gemeinschaft so gefestigt, wie es zunächst den Anschein hat?

    Tarjei Vesaas´ Roman (Erstveröffentlichung: 1940) bietet Antworten auf diese Fragen – wer sie also beantwortet haben will, sollte bzw. muss selber zum Buch greifen *g*.

    Ich will euch weitere Beispiele für die meiner Meinung nach herausragende Übersetzungsarbeit von Hinrich Schmidt-Henkel geben – vielleicht reicht das ja als „Appetitanreger“:

    „Es dämmerte in ihnen selbst. Sie begriffen es nicht. Die Dämmerung kam von einem unvertrauten Ort. Aus Abgründen, die sich aufgetan hatten.“ (S. 147)

    „Es arbeitete zu schwer in ihnen. Heute am Vormittag war die Tobsucht von Mann zu Mann übergesprungen. Hinterher jetzt, in der Geborgenheit der Scheune, wanderten Reuegefühl und Selbstbefragung ebenso vom einen zum anderen. Etwas, dass man weder sah noch hörte, das aber die Knochen im Leibe so schwach werden ließ, wie man es noch nie erlebt hatte.“ (S. 195)

    Was jedoch noch viel wichtiger bei der Lektüre von „Der Keim“ ist: die Leser:innen müssen die ungeschriebenen Worte zwischen den Zeilen „entdecken“ und einordnen. Man liest also statt 220 Seiten im Idealfall mindestens 300 – wenn ihr versteht, was ich meine.

    Na, kann jemand das Fazit erraten? Richtig, mindestens 15* und die entsprechende glasklare Leseempfehlung!

    ©kingofmusic

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  1. Über die Untiefen menschlichen Verhaltens

    Tarjei Vesaas (1897 – 1970) wurde mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen. Die Wiederentdeckung seines Werkes ist hierzulande dem Guggolz Verlag zu verdanken. Mit „Das Eis-Schloss“ und „Die Vögel“ erschienen in den letzten Jahren bereits zwei herausragende Romane des Autors. Alle drei Werke begeistern mit ihrer Dichte, Sprachgewalt und Atmosphäre – „Der Keim“, erstmals 1940 erschienen, ragt in meinen Augen aber noch etwas über die anderen beiden hinaus. Er beschäftigt sich intensiv mit den menschlichen Schwächen in Ausnahmesituationen und deren Konsequenzen, was ihm einen hohen Grad an Allgemeingültigkeit verleiht. Die Thematik dürfte niemanden kalt lassen. Der Roman ist völlig zeitlos und erinnert doch an dunkle Zeiten europäischer Geschichte. Einfach grandios! Ich habe Hochachtung vor Autoren, die unterschiedliche Themen dermaßen kraftvoll in Szene setzen können.

    Der Fremde Andreas Vest kommt auf die namenlose Insel auf der Suche nach Frieden und Heilung seiner inneren Wunden. Er wandert über das grüne, fruchtbare Eiland, begegnet verschiedenen Einheimischen, die er mit seiner faszinierenden Aura auf undefinierbare Weise tangiert. Gleichzeitig erleben wir eine tierische Fast-Idylle auf dem Hof Li, der mit seiner großen roten Scheune einen zentralen Platz auf der Insel einnimmt. Neben Apfelbäumen werden dort auch Schweine gezüchtet. Die Sauen säugen friedlich ihre neugeborenen Ferkel, eine weitere Sau steht kurz vor der Geburt, der Eber läuft nebenan frei im Gatter herum. In diese Ruhe schleicht sich etwas Bedrohliches ein, bevor sie dramatisch gestört wird. Innerhalb kurzer Zeit kippt die Stimmung. Die Schweine geraten allesamt in Raserei, die Szene endet mit Leid und Tod. Andreas wird unfreiwillig Zeuge dieses Geschehens; in ihm tut sich ein seelischer Abgrund auf, der folgenschwere Konsequenzen für die weitere Handlung und die Inselgemeinschaft haben wird.

    Vesaas stellt uns nach und nach einige Inselbewohner an diesem zunächst ganz gewöhnlichen Tag vor. Die Mitglieder der Familie Li sind die Protagonisten: Karl und Mari bewirtschaften ihr Obstgut mit einträglichem Erfolg. Der zwanzigjährige Sohn Rolv hat sich beim Vater ein Studium in der Stadt erkämpft, in seiner Liebesbeziehung zu Else kriselt es. Die drei Jahre jüngere Tochter Inga hadert altersgerecht mit sich und der Welt, was ihre Mutter ratlos macht. Wir lernen mit den Knechten Haug und Dal zwei sympathische Tagediebe kennen. Ingas Freundin Gudrun freut sich über ihre erste Schwangerschaft… Die einzelnen Figuren wirken fast wie aus dem Leben gegriffen, sie haben ganz ähnliche Probleme und Befindlichkeiten wie andere im ländlichen Raum lebende Menschen. Verschiedene dieser Begebenheiten werden von Andreas oder der geheimnisvollen Witwe Kari Nes beobachtet, die bei den Inselbewohnern Empfindungen zwischen Betörung, Betroffenheit und Furcht auslösen.

    Vesaas versteht es, den Spannungsbogen allmählich zu steigern. Er lässt die abstrakte Bedrohung mehr und mehr zunehmen, um sie in einem schrecklichen Unglück münden zu lassen, das eine weitere Katastrophe in Gang setzt. Ähnlich wie zu Anfang die Schweine, toben später die Menschen. Sie stecken sich an, geraten in Raserei, in einen Strudel aus Rachegelüsten und Blutrausch. Am Ende kehrt Ruhe nach dem Sturm ein. Dann geht es um Schadensbegrenzung, um Verantwortung, um Schuld, Strafe und Wiedergutmachung. Es geht um die Auseinandersetzung mit der individuellen und der kollektiven Schuld und um das eigene Gewissen dabei. In diesem Sinn kann man das Buch als Lehrstück menschlichen Verhaltens lesen. Aus dem Keim des Bösen kann sich mit etwas Glück ein Keim der Hoffnung entwickeln, was den Buchtitel mehrdeutig erscheinen lässt.

    Meiner Meinung nach ist es eine Meisterleistung, wie Tarjei Vesaas seine Geschichte gestaltet. Er ist ein exzellenter Kenner der menschlichen Psyche und ein wahrer Sprachmagier. Er kann eine unglaublich intensive, bildhafte Atmosphäre schaffen, in der sich seine facettenreichen Figuren bewegen. Er besitzt ein beeindruckendes Gefühl für Handlungsdynamik. Die Sprache ist poetisch, fast lyrisch und besitzt starke Symbolkraft. Vesaas benutzt dabei einen verdichtet reduzierten Stil. Er ist Meister des Auslassens, so dass der Leser zum eigenen Reflektieren und Nachdenken aufgefordert wird. Die Natur spiegelt die Stimmungen der Figuren wider, die Handlungsschauplätze werden sehr bildlich ausgeleuchtet. Man fühlt sich hautnah ins Geschehen einbezogen, die Handlungsfäden sind fesselnd und geschickt austariert. Kein Satz, keine Szene ist zufällig gewählt, alles fügt sich in einem weiten Bogen zusammen, jedes Puzzleteil findet seinen Platz. Eine Zweitlektüre ist lohnend, erst dann kann man das Können Vesaas´ ganzheitlich würdigen. Der Roman eignet sich hervorragend zum gemeinschaftlichen Diskutieren in Lesekreisen.

    „Der Keim“ ist ein grandioses Stück Literatur, das Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel wunderbar ins Deutsche übertragen hat. Das Nachwort von Michael Kumpfmüller liest sich verständlich und hilfreich. Er ordnet den Roman ins Zeitgeschehen ein und skizziert Vesaas´ Gesamtwerk. Es bleibt zu wünschen, dass der Guggolz Verlag der deutschen Leserschaft noch weitere Schätze dieses Ausnahmeautors zugänglich macht.

    Ich gebe eine riesige Lese-Empfehlung für diesen beeindruckenden Roman, der mehr als 5 Sterne verdient hat.

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  1. Einfach toll!

    Einfach toll!

    Für mich war "Der Keim" das erste Buch des Autors Tarjei Vesaas, aber soviel schon mal vorweg: Es wird sicher nicht bei diesem einen bleiben. Die Atmosphäre die beim lesen entsteht ist einmalig, unheimlich dicht, obwohl für mein Empfinden mit wenig Emotionen gearbeitet wird. Der Autor erzählt und der Leser folgt bereitwillig, lässt alles auf sich wirken und genießt die Worte.

    Vesaas nimmt den Leser mit auf eine Insel, erzählt von der Ernte, von der Idylle, die die Menschen dort nach getaner Arbeit genießen. Er berichtet, was es mit der Scheune auf dem Li Hof auf sich hat, lässt an den Problemen der Familie Li teilhaben. Der Sohn der Bauernfamilie , Rolv, geht dem Vater nach, er will lernen und dann wiederkommen um auf dem Hof zu helfen, dabei wird er doch jetzt schon dringend gebraucht. Im Obstgarten ist immer viel zu tun, doch der Vater kennt diese Sehnsucht.
    Als dann ein Fremder in Form von Andreas Fest auftaucht geschieht etwas. Andreas hat schreckliches erleben müssen, ist nicht mehr der Alte, er streicht über die Insel und man bemerkt beim lesen direkt eine Veränderung. Die Idylle wendet sich ab, es geschehen unschöne Dinge, die Sau stürzt sich zum Beispiel auf die Jungen. Doch gibt es da überhaupt eine Verbindung zu dem Fremden, der einfach nur ziellos die Insel erkundet?
    Als Inga, die Schwester von Rolv, auf diesen Mann trifft, nimmt das Unheil seinen Lauf. Eine anschließende Hetzjagd verwirrt den Leser und bringt sehr viele Gedanken mit sich. Der Autor fordert den Leser auf zu überdenken was mit Menschen geschehen kann, wenn die Emotionen durchgehen.

    Der Roman hat mich gefangen genommen, er lässt mich im Grunde immer noch nicht ganz los. Viele Gedanken lassen sich nicht zu Ende denken, denn nur diejenigen, die eine ähnliche Situation erlebt haben, können mit Sicherheit sagen, wie man handeln würde. Und auch dies nur eingeschränkt, denn jeder Mensch, schön zu sehen an den Insulanern, bringt sein eigenes Naturell und seine eigene Entscheidung mit.
    Es wird ein Bezug zum Nationalsozialismus gezogen, verdeckt, gewollt, oder gar nicht vorhanden? Auch das kann jeder für sich selbst entscheiden. Das ist zumindest mein Eindruck, aber es lohnt sich in jedem Fall diesen Roman zu lesen und sich ein eigenes Bild zu machen

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  1. Große, zeitlose Literatur

    Der norwegische Autor Tarjei Vesaas schrieb „Der Keim“ bereits im Jahr 1940. Nun wurde dieser frühe Roman in einer Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel vom Guggolz-Verlag in einer wunderschönen Ausgabe neu herausgegeben.

    Es ist ein warmer, friedlicher Sommertag auf einer kleinen, abgeschiedenen, grünen, fruchtbaren Insel. Während einige Bewohner noch der Arbeit nachgehen, gönnen sich andere bereits ein Bier. Im Schweinekoben säugen zwei Säue ihre Ferkel, der Eber döst vor sich hin und eine trächtige Jungsau im Nachbarstall wirft gerade Junge. Andreas Vest, ein junger Mann, betritt die Insel. Er fühlt sich von der Natur angezogen, sucht Ruhe und Frieden und beginnt ziellos zu spazieren. Auf die Inselbewohner hat der Fremde eine faszinierende Ausstrahlung - irgendetwas Bemerkenswertes ist in seinen Augen.

    Von Anfang an gelingt es Vesaas durch subtile Misstöne die vermeintliche Idylle zu stören. Etwas Bedrohliches, das noch nicht greifbar ist, liegt in der Luft.

    Als der Sauschneider am Schweinestall mit seiner Arbeit beginnt, werden die Schweine unruhig, Eber und Sauen rasten aus, gehen aufeinander los, die Situation gerät außer Kontrolle. Auch Andreas verliert kurze Zeit später die Beherrschung und wird zum Mörder. Darauf folgt eine regelrechte Hetzjagd auf den Fremden, an der fast alle Bewohner beteiligt sind und die erst mit dem Tod von Andreas ein Ende nimmt.

    Vesaas beschreibt, was passiert, wenn der Mensch in Extremsituationen die Besinnung verliert, zu welchen Grausamkeiten er fähig ist und welche Rolle gruppendynamische Prozesse spielen. Was geschieht nach dem „Aufwachen“ aus der besinnungslosen Raserei? Wie gehen die Bewohner nach dem Lynchmord mit ihrer Schuld um? Wie lässt es sich damit weiterleben?

    Vesaas schreibt in einem reduzierten Stil; er ist ein Meister der Auslassung und erschafft gerade dadurch eine dichte, intensive, beklemmende Atmosphäre. Dieses Buch hat mich tief in die Geschehnisse auf der Insel hineingezogen, mich aufgewühlt. Ich fühlte mich bei zahlreichen Szenen so nah dran, dass es nur schwer auszuhalten war. Gerade durch die karge Sprache, die sich aufs Nötigste beschränkt, ist beim Lesen spürbar, was unter der Oberfläche alles noch verborgen ist.

    Für mich ist „Der Keim“ ein großartiges, zeitloses Stück Literatur, das viel Raum für eigene Gedanken lässt. Es ist eines der Bücher, die sich immer wieder lohnend erneut lesen lassen.

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  1. "Ich habe nicht gewusst, dass ich so bin"

    Ort und Zeit spielen keine Rolle in diesem kurzen Roman. Wir befinden uns auf einer Insel mit ein paar Einwohnerfamilien, die sich mühsam von Landwirtschaft, Obstbau und Fischfang ernähren. Ein Fremder trifft ein, ein charismatischer Mann, der sofort auffällt. Bei der ersten Begegnung mit einer jungen Frau, die ihn freundlich anspricht, kommt es zu einer Gewalttat; das Mädchen ist tot. Aufgeschreckt machen die Inselbewohner gemeinsam Jagd auf den Fremden, angeführt vom Bruder des erschlagenen Mädchens. Am Ende sind alle betroffen in Trauer und Schuld. Das ganze erzählte Geschehen dauert nur eineinhalb Tage.

    Tarjei Vesaas, vielen Lesern bereits bekannt durch seine Romane "Die Vögel" und "Das Eisschloss" (beide ebenfalls bei Guggolz erschienen), ist ein überaus sparsamer Erzähler, auf dessen Ton man sich einlassen muss. Auf die eingangs geschilderte ländliche Idylle der Muttersau, an deren Zitzen ein Dutzend glückliche Ferkel hängen, folgt sofort das Bild der mageren, überaus hässlichen Ebers. "Dennoch lauerte mitten in schläfrigen Ruhe etwas Bedrohliches", stellt der Erzähler selbst fest (eines der wenigen Male, da er selbst das Fazit aus seiner Schilderung zieht). Manche Szenen wirken wie eingefrorene Standbilder, dann wieder hat man den Eindruck von wie in Zeitraffer ablaufenden Bildfolgen. Die kollektive Gewalt, die ihre eigene Dynamik entwickelt, wird im Romangeschehen bildhaft deutlich. In dem Mob, der auf der Suche nach seiner Jagdbeute hektisch die Insel durchpflügt, wird jeder Beteiligte angesteckt und fortgerissen. Auch wider besseres Wissen: "Die Erwachsenen begegneten ihren eigenen Kindern. (...) In ihrer Wildheit, in ihrer eigenen Erniedrigung sahen sie ihre Kinder, und sie erschraken und wollten zurück. (...) Dazu die Wut all der anderen ringsum. Die kopflose Wut." Am Ende aber, macht der Erzähler deutlich, ist jeder Mitgelaufene mit seiner Schuld allein. Still bei der Totenwacht, in der Gruppe in einer dunklen Scheune oder im Schweinekoben sucht jeder seinen persönlichen Weg zur Befragung seines Gewissens.

    Es ist wichtig zu wissen, dass es Vesaas nicht um eine Auseinandersetzung mit Mord und Gruppengewalt im juristischen Sinne geht. Die üblichen Begriffe des Strafrechts - Schwere der Schuld, verschiedene Grade der Mittäterschaft, die Vorstellung einer "vorläufigen Festnahme", die aus dem Ruder läuft - all das greift bei Vesaas nicht. Im Mittelpunkt steht allein die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen. Folgerichtig endet der Roman noch vor dem Eingreifen der Polizei und des Rechtsapparats. Michael Kumpfmüller hebt in seinem fundierten und einfühlsamen Nachwort hervor, dass die Erfahrungen von "Zusammenbruch und Reue" wichtig sind, damit die Gemeinschaft danach überhaupt noch eine Chance hat, weiter zu funktionieren. Denkt man diese Überlegung in größerem politischen Zusammenhang, wird deutlich, dass "Der Keim" auch als allgemeine gesellschaftliche, sogar politische Parabel gelesen werden kann. Das kleine Buch, das in der typischen Guggolz-Optik fein und zartfarbig in der Hand liegt, kann in den Gedanken des Lesers Berge versetzen.

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  1. Abgründe

    Seit dem Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse 2019 veröffentlicht der außergewöhnliche Guggolz Verlag das Werk des mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagenen Tarjei Vesaas (1897 – 1979). In der hervorragenden Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel erschienen zunächst zwei seiner späten Romane: 2019 "Das Eis-Schloss" von 1963, 2020 "Die Vögel" von 1957. Beide gehören zu meinen Lesehighlights der vergangenen Jahre, entsprechend war ich etwas skeptisch, ob das nun erschienene Buch "Der Keim", sein Durchbruch 1940, ihnen gleichkommen würde – völlig grundlos, wie sich schnell erwies. Wie Tarjei Vesaas psychologisch fundiert menschliche Beweggründe und Abgründe zeichnet, die Natur, aber auch Licht und Dunkelheit als Handlungsträger einbezieht, religiöse Bezüge und vielleicht sogar, je nach Interpretation, politische einflicht, Szenen aus verschiedenen  Perspektiven wiederholt und Unschärfen setzt, das ist einfach großartige Literatur.

    Die Inselgesellschaft
    Ort der Handlung ist eine kleine, grüne, fruchtbare Insel, die geschützt in einer Meeresbucht liegt. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner leben auskömmlich von Landwirtschaft, Viehzucht und etwas Fischerei. Der größte Hof mit dem ertragreichsten Obstgarten gehört der Familie Li. Karl und Mari führen dort mit ihren Kindern Rolv und Inga ein arbeitsames, zufriedenes Leben, auch wenn Rolv die Sehnsucht nach einem Studium in der Stadt umtreibt und Inga mit der Unruhe des Erwachsenwerdens kämpft. Karl Li studierte einst auf dem Festland, kehrte aber als Hoferbe pflichtschuldig zurück. Von seinen übermütigen Plänen zeugt die riesige rote Scheune, der nie ein entsprechendes Wohnhaus folgte und die zu allerlei Spott Anlass gibt. Hier nimmt Der Keim seinen Anfang: im Schweinestall. Nur auf den ersten Blick ist es bei den säugenden Muttersäuen und der gebärenden Jungsau idyllisch:

    "Dennoch lauerte mitten in dieser schläfrigen Ruhe etwas Bedrohliches. Was man da sah, dem war nicht ganz zu trauen. Allzu glänzend standen lange Reißzähne aus den Schweineschnauzen hervor." (S. 10)

    Der Fremdling
    Währenddessen kommt ein Fremder auf die Insel, Andreas Vest, der nach einem traumatischen Ereignis Frieden und Heilung sucht. Ziellos spaziert er umher, mehr oder weniger skeptisch von den Einheimischen beäugt. Er wird Zeuge, wie im Schweinekoben Gewalt um sich greift. Sein mühsam unterdrücktes Trauma bricht wieder auf und es kommt zur Katastrophe, auf die wiederum ein Gewaltausbruch der Inselbewohnerinnen und -bewohnen folgt – drei sich bedingende Orgien von Raserei in kurzer Abfolge, dreimal verwandeln sich vorher friedliche Lebewesen urplötzlich in erbarmungslose, blutrünstige Täter. Binnen kürzester Frist werden zivilisierte Geschöpfe zu barbarischen Rächern und Menschen entledigen sich ihrer moralischen Grundsätze.

    Hoffnung
    Hilfe im anschließenden Chaos kommt ausgerechnet von Kari Nes, die ihren Mann und zwei Söhne auf See verlor und seither ziellos umherwandert, grübelt und alle schreckt. Sie spürt, was die Einzelnen und die Gemeinschaft brauchen und führt die von Schuld, Reue und Fassungslosigkeit Niedergedrückten in die kathedralenhafte Scheune. Auch Rolv, den allgemeinen Sündenbock, überredet sie zur Heimkehr und verhindert ein noch größeres Unglück in dieser düsteren Nacht, die allmählich dem Tag weicht:

    "Aber jetzt richteten sie sich wieder auf, innerlich gestärkt. Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein." (S. 217)

    "Der Keim" ist trotz seiner nur gut 200 Seiten ein großer Roman über individuelle und kollektive Schuld, Reue, Sühne, Trauma, Brutalität, gruppendynamische Prozesse, Tod, Trauer, Sprachlosigkeit, aber auch Hoffnung, unnachahmlich, symbolstark, komprimiert, zeitlos und einfach großartig erzählt.

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  1. 5
    02. Apr 2023 

    Der allgegenwärtige Keim für Gut und Böse

    Wir werden in dem Roman “Der Keim” von Tarjei Vesaas auf ganz besondere Weise eingeführt in die Stimmung des Buches und des Ortes, an dem die Handlung spielt. Das Personal des Eingangskapitels sind Schweine, zu denen wir im Schweinestall des größten Hofes im Ort der Handlung stoßen. In diesem Stall erwacht einerseits Leben bei der Geburt neuer Ferkel, aber dort endet auch Leben beim dramatischen Absturz zweier Schweine in einen alten Brunnenschacht. Schon in diesem Eingangskapitel liegt so der „Keim“ sowohl für Leben als auch für Tod, sowohl für friedvolle Gemeinschaft als auch für aggressiven Hass in schöner Eintracht gleichermaßen vor. Der Ort, in den wir so eingeführt werden, ist eine kleine Insel, auf der nur wenige Menschen in einer kleinen Dorfgemeinschaft wohnen. Auf diese Insel kommt ein Mann, der vollkommen fremd dort ist, und streift durch die Gegend. Der Leser fragt sich von Beginn an nach den Motiven dieses Fremden und nach dem Grund für das Dortsein. Doch diese Frage bleibt unbeantwortet. Stattdessen kommt es zu einer Gewalttat: Der Fremde tötet eine junge Frau, die Tochter aus dem zuvor schon im Buch aufgesuchten Haupthofs der Insel.
    In der Folge entwickelt sich eine Jagd auf den Täter, an der fast die gesamte Dorfgemeinschaft ihn hetzend teilnimmt. Diese Jagd eskaliert immer mehr, angefeuert vor allem durch den Bruder des Mordopfers, der sich in den Mittelpunkt dieses Geschehens spielt. Und sie endet im Tod des Fremden, der von einer Meute aus ihn verfolgenden Dorfbewohnern erschlagen wird.
    Im letzten Teil des Buches wird dann die Reaktion auf diese gemeinschaftliche Lynchjustiz geschildert. Lenkende Kraft ist hierbei eine Außenseiterin der Dorfgemeinschaft, Kari Nes, die die Einwohner zu einer Zusammenkunft in der Scheune des Haupthofes zusammenruft. Diese Gemeinschaft hat sich inzwischen weitestgehend darauf geeinigt, dass der Lynchmord vor allem auf das Konto von Rolv, dem Bruder des Opfers, geht und die sich so gemeinschaftlich zu einem großen Teil rein waschen von der begangenen Schuld. Sie suchen dabei intensiv das Gemeinschaftserlebnis. So können sie einigermaßen die Situation und sich selbst ertragen. Rolv dagegen sucht die Einsamkeit und meidet die Gemeinschaft in seinem Versuch, die Situation und das Geschehen zu verarbeiten.
    Tarjei Vesaas hat diesen Roman über gemeinschaftliche versus individuelle Schuld und deren gemeinschaftliche versus individuelle Verarbeitung im Jahr 1940 geschrieben, als sein Heimatland Norwegen von den Nazis besetzt worden war und sich die Norweger entscheiden mussten, eine Art von Schuld in Form von Kollaboration auf sich zu nehmen, oder sich auf den gefährlichen Weg der Resistenz zu begeben. In dieser Hinsicht hatte dieser Roman damals eine besondere Aktualität. Er hat aber nach meiner Einschätzung auch nie an Aktualität verloren, behandelt es doch eine immerwährende, zeitlose Thematik für uns alle.
    Tarjej Vesaas schreibt diese Geschichte von existentiellem Tiefgang in einer sehr reduzierten, minimalistischen und dafür umso stärkeren Sprache und schafft sehr ausdrucksstarke Bilder, die sich mir mühelos beim Lesen im Kopf bildeten. Die Charaktere sind knapp, aber prägnant gestaltet und verlassen den Leser lange nicht. Ich habe so in dieser Leserunde – nach meiner Einschätzung – ein mir bisher vollkommen unbekanntes Stück Weltliteratur kennenlernen dürfen, für das ich wirklich nicht weniger als 5 Sterne vergeben kann!

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  1. 5
    31. Mär 2023 

    "Ich trage diesen Abgrund in meiner Stirn"

    „Ich trage diesen Abgrund in meiner Stirn"

    Ein Fremder kommt auf eine grüne Insel. Die Idylle der Natur und das friedliche Zusammenleben der Inselgemeinschaft lassen ihn Heilung für seine Seele erhoffen. Sehr schnell bekommt die Idylle jedoch Risse, gefährliche Entwicklungen deuten sich an – und unverhofft bricht ein Inferno aus. Der Fremde wird in seinem Wahnsinn zum Mörder, und die Inselbewohner werden zum rasenden Mob, der den Fremden schließlich lyncht. Was nun?

    Schnell wird ein Sündenbock gesucht und auch gefunden. Sind damit aber die anderen Insulaner frei von Schuld? Ist ein Mitläufer schuldlos? Das ist eine der moralischen Fragen, denen sich der Roman zuwendet. Die andere ist die Schuld des Täters. Er ist der Bruder der Getöteten, und kann er deshalb nicht Verständnis erwarten? Hat er nicht auch im Interesse seiner Eltern gehandelt, als er die Hetzjagd auf den Fremden vorantrieb und zum blutigen Ende führte?

    Diese Fragen gilt es zu lösen, und in einer langen Nacht, einer Art Buße oder/und Totenwache, erkennen die Menschen, dass auch der Mitläufer nicht frei von Schuld ist und vor allem: wie schmal der Grat zwischen Menschlichkeit und Barbarei ist. Sie erkennen erschüttert „das wilde Tier“ in sich selber und müssen damit in eigener Verantwortung klarkommen.

    Auch der Sohn darf nicht mit Verständnis rechnen, aber der Vater fängt ihn in seiner Verzweiflung mit dem Schutz und der Fürsorge seiner Familie auf.

    Vesaas erzählt sehr gekonnt. In den Mittelpunkt stellt er als Dingsymbol die rote Scheune der Familie, und das Geschehen zeigt er in wechselnden Perspektiven. Er erzählt meist ruhig und immer wortkarg. Seine Sätze wie auch seine Figuren wirken holzschnittartig und archaisch, und dieser Eindruck wird verstärkt mit Anklängen an die Sprache der Bibel. Trotz dieser Kargheit gelingen ihm ungemein eindrucksvolle Bilder. So vergleicht er z. B. die Raserei des Mobs mit einer Feuersbrunst, die über die Insel jagt, und in fast zärtlichen, gerade in ihrer Kargheit sehr anrührenden Bildern sehen wir die Trauer der Eltern um ihre Tochter. In wenigen Sätzen zeigt er uns den Schmerz der Mutter und wie sie schließlich doch wieder ins Leben zurückfindet.

    Ins Leben zurückfinden: das ist die Aufgabe aller Inselbewohner, der sie sich nun stellen müssen. Und damit erklärt sich auch der Titel des Buches: Sie haben erkannt, dass sie den Keim des Bösen in ihrer Seele tragen, aber genau so haben sie den Keim des Guten in sich.

    Ein tröstlicher, aber zugleich auch ein aufrüttelnder Schluss!

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  1. Und vergib uns unsere Schuld

    Eine Insel, irgendwo in Norwegen: Während eine Sau gerade Junge bekommt und auf den Feldern und in den Scheunen allgemeine Betriebsamkeit herrscht, betritt ein Fremder namens Andreas Vest das Eiland. Offenbar ist er gekommen, um längere Zeit auf der Insel zu bleiben. Die Einheimischen beäugen ihn zwar skeptisch, bemerken aber auch etwas Anziehendes in seinen Augen, seinem Blick. Andreas seinerseits hört Stimmen und denkt noch immer an das verheerende Fabrikunglück zurück, bei dem er damals fast sein Leben verlor. Als er der 17-jährigen Inga im Wald begegnet, nimmt das Unheil seinen Lauf - und ein Keim nistet sich in der Inselgesellschaft ein...

    Dem Guggolz Verlag ist es zu verdanken, dass der norwegische Autor Tarjei Vesaas (1897 - 1970) in den letzten Jahren wieder ins Blickfeld des deutschsprachigen Publikums geraten ist. Mit dem sehr guten "Das Eis-Schloss" und dem überragenden "Die Vögel" brachte der umtriebige Verlag die zwei bekanntesten Romane Vesaas' in wunderbaren Neuübersetzungen von Hinrich Schmidt-Henkel heraus. Mit "Der Keim" ist nun erstmals ein früheres und unbekannteres Werk des Norwegers bei Guggolz erschienen. Ein Wagnis, das sich gelohnt hat.

    Bereits 1940 erschien das wie gewohnt auf Nynorsk verfasste Buch unter dem Namen "Kimen" und Vesaas stand dabei unter dem Eindruck der Besetzung Norwegens durch die Nationalsozialisten. In seinem Roman lassen sich verschiedene Szenen in diesen historischen Kontext bringen, doch er funktioniert auch als vornehmlich unpolitischer Gesellschaftsroman. Über allem schweben die großen Themen wie Tod, Trauer, Moral, aber vor allem Schuld und Vergebung.

    Wie schon in den beiden Vorgängern setzt Vesaas auch in "Der Keim" auf ein buntes Figurenensemble, verzichtet dabei aber überraschenderweise auf eine echte Hauptfigur. Die Perspektive schwankt von einer Figur zur nächsten, der Erzähler begleitet fast jeden einmal, bleibt dabei aber stets neutral. So ist es an der Leserschaft, ihr Urteil zu fällen über Schuld und Schuldige. Denn bereits in der ersten Hälfte geschehen nahezu unfassbare Verbrechen, über die der Klappentext leider ein wenig zu viel verrät.

    Vesaas erzählt in knappen Sätzen, verkürzten Dialogen und lässt vieles offen. Ein Großteil dieser Lücken ist der Sprachlosigkeit der Inselbewohner:innen zuzuschreiben. Sie können nicht umgehen mit den Folgen dieser Verbrechen, können ihre Trauer nicht in Worte formulieren, schämen sich ihrer selbst. Vesaas gelingt es in diesen Szenen brillant, Empathie und Verachtung zu vereinen. Sicher ist jedenfalls, dass wohl keine einzige Szene die Leser:innen kalt lassen wird. Dafür passiert einfach zu viel, auch im Ungesagten.

    Allerdings benötigt der Leser auch starke Nerven. Denn einige dieser Szenen sind so unerträglich, dass sie sich wohl lange ins Gehirn einbrennen oder sich wie ein Keim erst nach und nach entwickeln, um dann die volle Grausamkeit zu entfalten. Beispielsweise, wenn eine Sau ihre neugeborenen Ferkel frisst. Oder wenn ein rasender Mob sich aufmacht, um einen einzelnen Mann über die gesamte Insel zu jagen. Apropos Keim: Der Titelheld spielt natürlich auch eine tragende Rolle in diesem Roman. Äußerst klugt spielt Vesaas mit diesem Begriff, so dass der Keim seine Bedeutung immer wieder wechselt. Von einer bedrohlichen Krankheit wird er zum vermeintlichen Hoffnungsspender. Oder aus dem Tod entsteht wieder neues Leben.

    "Der Keim" von Tarjei Vesaas ist ein eindringlicher und intensiver Roman, der inhaltlich und sprachlich viel wagt und dabei die Leserschaft von Beginn an einbindet in diese seltsame Inselgesellschaft - ob sie es will oder nicht. Er zeigt auf und warnt gleichzeitig davor, wie schnell Menschen dazu in der Lage sind, ihre Zivilisiertheit aufzugeben, um in wilder Raserei mehr als nur ein Leben zu zerstören. Mit Blick auf gesellschaftliche Vorkommnisse wie zuletzt in den USA, aber auch in Deutschland, wirkt der Roman dabei erschreckend aktuell und sollte dringend gelesen werden. So erstaunt es nicht, dass eine moralisch geächtete Figur in einer besonders bewegenden Szene ausgerechnet von einer Stute Trost erfährt und sich ein Tier einmal mehr menschlicher als der Mensch verhält. Hervorzuheben ist zudem noch das vor allem auf der emotionalen Ebene sehr gelungene Nachwort von Michael Kumpfmüller und die gewohnt schöne Gestaltung des Buches.

    Es bleibt die Hoffnung, dass Guggolz auch in Zukunft auf Romane von Tarjei Vesaas setzen wird und die dritte Veröffentlichung nicht die letzte ist.

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  1. Um sich aus dem Staub zu erheben, ....

    ...muss man zuvor darin gelegen haben.

    Mit diesem Buch legt der Guggolz Verlag inzwischen schon den dritten Vesaas Roman wieder vor, der in einer liebevollen, dezenten Gestaltung gehalten, von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt und mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller versehen ist.
    Tarjei Vesaas (1897- 1970) verfasste seine Geschichte 1940 unter dem Eindruck der deutschen Besatzungstruppen in Norwegen. Er selbst wusste schon früh, dass er lieber Schriftsteller werden wollte und so übernahm er nicht den väterlichen Hof in Vinje/Telemark. Fiktiv lässt er diese Lebensentscheidung dem Sohn des Obstbauern auf einer üppigen, grünen Insel widerfahren.
    Rolv Li hat sich bei seinen Eltern durchgesetzt und erwirkt, dass er eine Schule auf dem Festland besuchen darf. Hat sein Vater Karl Li doch einst die Schule besucht, ja sogar sich ein Denkmal mit einer großen, überdimensionierten roten Scheune, dem die zwei Wohnhäuser nachstehen mussten, gesetzt. In den Ferien zieht es den inzwischen 20jährigen Rolv zur Ernte und seiner Freundin Else zurück. Aber mit diesem spätsommerlichen Besuch melden sich auch die Zweifel an eine feste Beziehung zu dem Mädel und die Nachfolge des Hofes.
    An einem dieser geschäftigen Tage, bei der sämtliche Bewohner ihr Werk vollbringen, setzt ein Fremder mit der Fähre über. Ohne Gepäck und Auftrag, schlendert er durchs Gelände, auf der Suche nach Frieden und einem Ort der Ruhe, von den Insulanern beobachtet. Andreas Vest hat offenbar den Irrsinn im Kopf, wurde er einst bei einer Fabrikexplosion tief traumatisiert. Nun wird er unversehens Zeuge, als bei der Beschneidung von Ferkeln die Muttersäue durchdrehen und zu Tode stürzen und eine dritte Sau daraufhin beginnt, ihren frisch geworfenen Nachwuchs aufzufressen.
    Doch diese Unglück ist nur der Vorbote. Kurz darauf wird Rolvs jüngere Schwester Inga tot aufgefunden. Eine Hetzjagd auf den Fremden, angeführt von Rolv, beginnt.

    Vesaas Personal und Bühne sind äußerst sparsam, aber wirkungsvoll angelegt. Wie auf einem Röntgenbild bedarf es für ein paar auffälliger Punkte der Interpretation von Schuld und Ursache. Schlüsselszenen lässt Vesaas hinter eindrücklichen Stimmungsbildern und wortlosen Zusammenkünften verschwinden. Dadurch bleibt viel Raum für verschiedene Sichtweisen. Die Hetzjagd erinnerte mich persönlich an die Judenverfolgung im 3. Reich, die reuevolle Zusammenkunft der Dorfbewohner in der großen Scheune bei Dunkelheit und teilweise im Dreck der Koben, glich einem Keim im Mutterboden und das Lichtermeer im Totenzimmer war ein Versprechen, das mit dem Sonnenaufgang am nächsten Morgen eingelöst wurde.

    Eine großartige Komposition aus Gesagtem und Verschwiegenem, aus Idylle und persönlichen Höllen, durchlebt von einem bunten Reigen an Persönlichkeiten, wie wir sie wohl selten finden, aber bei Vesaas garantiert sind.

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  1. 5
    29. Mär 2023 

    Meisterhaft erzählt: Selbstjustiz, Mitläufertum, Schuld

    6 von 5 Sternen ;-)

    Ein Meisterwerk: Vom Weiterleben nach schwerer Schuld – grandioser Roman, bei dem jeder Satz wichtig ist

    Tarjei Vesaas, dieser vom Guggolz-Verlag wieder entdeckte norwegische Autor! Ich fand schon 'Die Vögel' gut, noch besser 'Das Eis-Schloss', aber nun dieses hier! Harter Tobak, nichts für Zartbesaitete, aber so ist das Leben und es ist gut, hinzugucken und sich Gedanken über Richtig und Falsch zu machen.

    Eine idyllische Insel in einem norwegischen Fjord, landwirtschaftlich geprägt, harte Arbeit. Ein Fremder kommt, der dort Ruhe und Frieden sucht, ein Traumatisierter, der Heilung sucht. Aber ist die Insel wirklich so idyllisch und friedlich? Schon auf den ersten Seiten bei der Schilderung der Schweinekoben schleichen sich Sätze ein, die Böses vermuten lassen. Das Ganze kulminiert dann in schrecklichen Szenen mit wild gewordenen Schweinen und ausgerechnet der fremde junge Mann muss das zufälligerweise mit ansehen. Das hat ungeahnte Folgen bei ihm, der ohnehin labil ist und mit schweren Erlebnissen ringt. Etwas Furchtbares geht in ihm vor, 'ein Aufblitzen von bösem Licht' (54).

    Und dann nimmt das Unheil seinen Lauf und die Menschen verhalten sich auch nicht anders als die Schweine, was ihr aggressives Verhalten anbetrifft – das alles von Vesaas eindringlich beschrieben ('Blutdurst, Raserei'). Alle laden mehr oder weniger schwere Schuld auf sich.

    Als Ernüchterung eintritt, sind alle Beteiligten geschockt, durcheinander und wissen nicht, was sie von sich selbst halten sollen. Es setzen typische Mechanismen ein: sich Rechtfertigungen zusammenbasteln, die Schuld bei anderen suchen, hier beim jungen Rolv, der sie angeführt und 'es' getan hat. Der ist selbst völlig außer sich und sucht Verständnis bei Mutter Mari und Vater Karl. Dieser vertritt eine ganz klare Linie: keine Selbstjustiz. Und da ist das Problem, das auch Karl zerreißt: wir alle müssen uns an die Gesetze halten, sonst würde Mord und Totschlag herrschen und der Willkür Tür und Tor geöffnet sein. Aber: die Gemeinschaft und sein Sohn haben 'es' für die Tochter bzw. Schwester getan. - Alle sind in einer schwierigen Situation, die fast ausweglos erscheint. Wie wird es weitergehen? Kann man so weiterleben? Nachdenken über sich selbst, Eingeständnis der Schuld, eine Art Läuterung?

    Ist es nun der Keim des Bösen oder des Guten, der Keim eines Weiterlebens? Ich tendiere zu Letzterem, wofür es kleine Anzeichen gibt und auch Worte:

    'Man musste seinen Platz wieder einnehmen... (218) - 'Aber jetzt richteten sie sich wieder auf, innerlich gestärkt. Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein.' (217)

    Was für ein Buch! Jeder Satz ist wichtig und man muss zwischen den Zeilen lesen und die Atmosphäre erspüren. Vesaas Sprache ist verknappt, passend zu den Inselmenschen, aber nicht simpel, denn sie transportiert eine ganze Welt von Bedeutung. Es ist ein Buch, das nachhallt, das in seiner Problematik zeitlos ist: das Böse im Menschen, die Tendenz, sich in der Masse zu Schandtaten verführen zu lassen, der Umgang mit Schuld und die Frage, wie ein Leben danach möglich ist.

    Für mich ist jetzt schon klar: ein Highlight in diesem noch jungen Jahr.

    P.S. Die Rückseite des Buches verrät in etwa, was passiert. Wer das nicht wissen will, sollte es nicht lesen.

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