Rezension (5/5*) zu Töchter Haitis von Marie Vieux-Chauvet

Literaturhexle

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2. April 2017
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Emanzipationsprozess in Zeiten des Hasses


Port-au-Prince, Haiti, in den 1940er Jahren. Lotus wächst als Mulattin privilegiert am Rande der Stadt auf. Nur wenige Mädchen sind mit ihr befreundet. Den Schwarzen ist sie zu hellhäutig, den Hellhäutigen passt ihre Herkunft nicht, denn ihre Mutter verdient ihr Geld als Prostituierte, der Vater gilt als verschollen. Mutter und Tochter leben in bescheidenem Wohlstand, sie haben Dienstpersonal, während in ihrer Nachbarschaft deutlich ärmere Schwarze leben, was Neid hervorruft. Lotus wächst sehr behütet auf. Sie verachtet ihre Mutter für das, was sie ist. Liebe erfährt das Mädchen nur durch das Dienstmädchen Maria. Als Lotus 15 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter, drei Jahre darauf auch Maria. Fortan fühlt sich Lotus einsam, sie leidet an Langeweile und Überdruss, wird von wirren Träumen gequält. Zum Glück hat sie Vater Charles mit seiner Familie auf der Nachbarschaft. Der gottesfürchtige Mann widmet sich liebevoll der jungen Frau und bringt sie immer wieder mit sich ins Reine.

Wir begleiten Lotus über mehrere Jahre. Sie selbst erzählt uns ihr wechselhaftes Leben in kritischen, ehrlichen Rückblicken. Als Leser sieht man sie und ihre beiden Freundinnen aufwachsen, erlebt manchen Konflikt vor dem Hintergrund des im Land omnipräsenten Rassismus. Man erkennt die Probleme der schwarzen Bevölkerung, die völlig anders geartet sind, als die Nöte der launischen und Ich-bezogenen Protagonistin. Man sieht aber auch deren guten Willen, sich über gängige Handlungsmuster hinweg zu setzen. Durch ihre Herkunft steht sie zwischen den Stühlen und eckt immer wieder an. „Und erneut wird das Zwiegespräch meines Erbes in meinem Inneren zu einem kleinen Duell, zu einem fruchtlosen Kampf ohne Sieger und Besiegten.“ (S. 37) In der Rückschau erlangt sie Klarheit über viele ihrer Erlebnisse, die Erzählperspektive halte ich für sehr gelungen.

Mit Georges tritt ein Mann in ihr Leben, der sich politisch engagiert und sich als Mulatte und Oppositionsführer des herrschenden Regimes für die Rechte der benachteiligten schwarzen Bevölkerung einsetzt. Lotus verliebt sich Hals über Kopf und wird dadurch mit der harten Realität konfrontiert. Sie unterstützt ihren Geliebten nach Kräften. Die Konsequenzen ihres Tuns werden ihr dabei erst nach und nach klar. Im Laufe des revolutionären Kampfes, der schließlich in einem Umsturz mündet und als paradoxe Folge die mulattische Bevölkerung zu Gejagten macht, erfährt Lotus eine interessante Wandlung und Entwicklung…

Der Roman erschien erstmalig 1954. Man sollte ihn wissend um die historischen Hintergründe der Zeit lesen. Wie überall in der Welt war das damalige Frauenbild nicht mit dem heutigen vergleichbar. Insofern ist es legitim, dass man sich an Lotus´ teilweise naivem und selbstverliebtem Handeln stört. Sie will oft das Richtige tun, will die Not ihrer Nachbarn lindern, erreicht aber nur das Gegenteil. Abgesehen von Vater Charles hat sie kaum Fürsprecher und kein Korrektiv. Frauen wurde zudem wenig Bildung zuteil und sie wurden für ein Leben im häuslichen Bereich ihrer Kaste erzogen. Man spürt zunehmend Lotus´ Aufbegehren gegen die gängigen Regeln. Sie kämpft für die Gleichheit der Menschen. Ihre Liebe macht sie dabei verletzlich.

Der Roman liest sich stilistisch flüssig, die Sprache wirkt etwas altertümlich, wartet aber immer wieder mit wunderschönen Formulierungen und Metaphern auf. Das Buch wird an keiner Stelle langweilig. Zahlreiche Szenen machen die Umstände der Zeit erlebbar, zeigen deren Wirren, Konfliktbereiche und Ungerechtigkeiten anschaulich. Die Erzählerin stellt dabei ihre Emotionen und ihre Empfindungen in den Mittelpunkt. Sie leidet auch im Nachhinein mit dem jüngeren Ich mit, was tatsächlich manchmal etwas anstrengend sein kann. Mit zunehmendem Alter tritt aber ein deutlicher Reifeprozess bei der Protagonistin ein. Die Autorin versteht es, ihre Schauplätze bildlich und atmosphärisch dicht zu beschreiben. Zahlreiche hilfreiche Anmerkungen des Verlages geben Erklärungen zu Historie, Sprache und Übersetzung, so dass man einen umfassenden Eindruck der Lebensumstände, der Gesellschaft und der politischen Lage Haitis bekommt. Man lernt tatsächlich viel dazu.

Am Ende reift die Erkenntnis, dass es auch im Rahmen von Regierungsstürzen selten gerecht zugeht. Die haitianischen Muster von damals spiegeln sich immer wieder in der Welt: Aus Kämpfern von heute werden Gejagte von morgen. Viele despotische Herrscher haben eben nicht das Wohl des Volkes im Blick, sondern nur den eigenen Wohlstand, die eigene Macht. Das verleiht diesem Roman Zeitlosigkeit. Zweifellos darf man aber auch den feministischen Aspekt nicht unberücksichtigt lassen. Marie Vieux-Chauvet legt den Finger immer wieder in die Wunde: „Die Erziehung einer Frau bereitet sie darauf vor, immer wieder an sich zu zweifeln.“ (S. 169) Lotus wächst in die Rolle der Kampfgefährtin hinein, muss auch eigenen Blutzoll entrichten. Am Ende hat das Leben sie geschliffen und zu einem eigenen Daseinszweck geführt.

Ein sehr lesenswertes Buch, das den Emanzipationsprozess einer Frau in politisch bewegten Zeiten schildert. Die erstmalig ins Deutsche erfolgte Übersetzung ist dem Manesse Verlag im Rahmen seiner Aktion „Mehr Klassikerinnen“ zu verdanken. Der Übersetzerin Nathalie Lemmens, die den Feinheiten der in Haiti gebräuchlichen Sprache höchste Aufmerksamkeit zollt, gilt meine Anerkennung. Das Nachwort von Kaiama L. Glover gibt wertvolle Informationen zu Leben, Werk und Zeit. Ich empfehle den Roman uneingeschränkt allen Lesern, die Interesse an klassischer Literatur und am Eintauchen in fremde Kulturen haben.

Große Leseempfehlung!