Rezension (4/5*) zu Töchter Haitis von Marie Vieux-Chauvet

ulrikerabe

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14. August 2017
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Wien
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Was wissen wir schon über Haiti?

Port-au-Prince, Haiti in den 1940er Jahren. Dort lebt Lotus Degrave. Dank ihres französischen Vaters hat sie helle Haut und gehört deswegen der elitären „mulattischen Gesellschaft“ an und wird dennoch gesellschaftlich nicht anerkannt, da ihre Mutter eine Edelprostituierte war. Nach dem frühen Tod der Mutter erbte Lotus zwei Häuser, ist somit finanziell unbelastet. Ihr unbeschwertes und flatterhaftes Leben ändert sich, als sie den politisch engagierten Georges Caprou kennen lernt. Durch ihn wird sie auf die Armut und das Elend im ganzen Land aufmerksam und beginnt selbst aktiv zu werden.

Töchter Haitis ist ein Roman der haitianischen Schriftstellerin Marie Vieux-Chauvet, erschienen im Jahr 1954. Der Manesse Verlag hat sich dieses Buches im Rahmen des Mottos „mehr Klassikerinnen“ angenommen. So ist das Buch 2022 auf deutscher Sprache erschienen, übersetzt von Nathalie Lemmens und mit einem Nachwort von Kaima L. Glover, Professorin an der Columbia University, versehen. Ein sehr informativer Anhang mit Anmerkungen, Glossar und editorischer Notiz gibt umfangreich Auskunft über die politischen und gesellschaftlichen Haitis und zum Leben und Wirken der Autorin.

Lotus ist eine Frau zwischen den gesellschaftlichen Linien. Ihre helle Haut macht sie Teil der Elite Haitis, ihre Herkunft als Tochter einer Prostituierten isoliert sie jedoch. Sie ist eine sehr einsame junge Frau, die ihren rechten Weg erst finden muss. Bei allem, was sie tut, ist sie in ihren Gefühlen äußerst wechselhaft, spielt eine dramatische Partitur vom Schluchzen du Zittern bis zur Euphorie. Das macht es schwierig, sich mit der Person Lotus anzufreunden, spiegelt aber im Kleinen auch die ständige Instabilität des Staates Haiti wider.

Wie so viele Klassiker ist das Buch im historischen Zusammenhang zu lesen und zu verstehen. Die Autorin Marie Vieux-Chauvet ist doch selbst eine „Tochter Haitis“ und kann als Zeitgenossin, das Leben auf Haiti, das gesamte Lokalkolorit, die politischen Unruhen, die sozialen Ungerechtigkeiten und ihr brennendes Anliegen eindrücklich vermitteln.

„Unser Land, das sich über einen Streit der Hautfarben entzweit hat, droht…noch weiter zurückzufallen. Es steht am Abgrund, also lasst es uns mit vereinten Kräften retten, indem wir auslöschen, was es schwächt: Armut, Unwissenheit, Dreck…“

Was wissen wir schon über Haiti? Für mich war die Essenz des Buches, den Blick über den eigenen europäischen Tellerrand heben zu können und in eigentümlicher literarischer Form, Einblick in dieses ferne Land und seine Geschichte zu erhalten.


 
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