Rezension Rezension (4/5*) zu Das wirkliche Leben: Roman von Dieudonné, Adeline.

Literaturhexle

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2. April 2017
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50.142
49
Ein beeindruckendes Debüt, aber nichts für schwache Nerven

Dieses Buch ist besonders. Allein der außergewöhnlich gestaltete Einband erweckt Aufmerksamkeit, es ist grell, macht neugierig.
Die Geschichte wird retrospektiv aus der Ich-Perspektive erzählt. Dabei wird versucht, die kindliche Gedankenwelt in Worte zu fassen und nachvollziehbar zu machen. Man hat es absolut nicht mit „kindlichem Geplapper“ zu tun (eine Befürchtung, die ich zunächst hatte), sondern mit einer ausdrucksstarken, vielseitigen Sprache.

Die Kindheit der namenlosen Ich-Erzählerin ist grausam. Der Vater ist ein herzloser Tyrann: „Mein Vater war ein Koloss. Er hatte breite Schultern wie ein Abdecker. Und Hände wie ein Riese. Hände, die den Kopf eines Kükens ebenso leicht abschlagen konnten wie den Kronkorken einer Flasche Cola.“ (S. 8) Die Mutter ist das Opfer seiner Launen, seine Attacken verlaufen meist brutal und blutig. Die Tochter vergleicht die Mutter mit einer Amöbe. Der kleine Bruder Gilles ist vier Jahre jünger als die Erzählerin und ihr ganzes Glück: „Meine Liebe zu ihm war die reinste Form der Liebe, die es auf dieser Welt gibt. Wie Mutterliebe. Eine Liebe, die keine Gegenleistung erwartet und durch nichts zerstört werden kann.“ (S. 13) Die Kinder werden regelmäßig Zeugen von Gewalt gegen die Mutter, die resigniert hat und ihrem Mann nichts entgegen setzen kann und will. Ihre Aufgabe liegt in der Zubereitung eintöniger Mahlzeiten. Darüber hinaus gilt ihr liebevolles Interesse ihren Ziegen – ein verstörendes Verhalten.

Als die Erzählerin 10 Jahre alt ist, geschieht etwas Schreckliches: sie und ihr Bruder werden Zeugen eines tragischen Unglücksfalles, der ein Menschenleben kostet. Ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr so, wie es war. Insbesondere Gilles ist fortan traumatisiert, zieht sich in sich zurück und spricht nicht mehr. Die Eltern scheinen das veränderte Verhalten des Sohnes nicht zu merken, die Erzählerin beschäftigt es umso mehr. Sie tut alles, um ihrem Bruder sein einmaliges Lachen zurückzugeben und gegen „das Geschmeiß“ in seinem Kopf, das von ihm Besitz ergriffen hat, vorzugehen. Es ist tragisch zu beobachten, wie verzweifelt das Mädchen nach Lösungen sucht. Sie flüchtet sich in eine phantastische Welt, träumt davon, zurück in die Vergangenheit reisen zu können, um den Unfall ungeschehen zu machen, der zur tiefen Spaltung der Geschwister geführt hat. Sie möchte ihren Bruder zurück. Gilles wendet sich indessen immer mehr dem Vater zu, er geht mit ihm jagen und wird immer gemeiner. Kein Wunder, dass die Erzählerin entsetzlich leidet.

Die Situation wird immer unerträglicher, spitzt sich zu. Das Mädchen lässt sich nicht brechen, sie ist kein Opfer. Was sie nicht ändern kann, erträgt sie und sucht sich Rettungsinseln außerhalb der Familie: „Denn das Leben war nun einmal eine Ladung Fruchtpüree in einem Mixer und man musste aufpassen, in dem Strudel nicht von den Klingen nach unten gezogen und zerkleinert zu werden.“ (S. 74) Die Erzählerin entwickelt sich weiter. Sie lernt fleißig, nimmt Jobs zum Babysitten an. Wir begleiten sie über einen Zeitraum von fünf Jahren.

Die Ambivalenz der Gedankenwelt des Mädchens fasziniert: Auf der einen Seite kindliche, naive Phantasien, auf der anderen Seite Reife, Vorausplanung und Abgeklärtheit. Der Gewalttätigkeit des Vaters, die den Leser zutiefst schockiert, begegnet sie mit Routine und Selbstverständlichkeit.

Das Buch ist nichts für zarte Nerven. Wiederholt gibt es blutige Szenen. Schreibstil und Handlung sind faszinierend. Die Autorin flechtet bewusst märchenhaft anmutende Motive in ihren Roman hinein. Gut und Böse sind scharf voneinander getrennt. Sie präsentiert eine kraftvolle, tapfere Heldin, die ihrem schwierigen Umfeld trotzt, aber auch fast verzweifelt auf der Suche nach Liebe ist. Die Handlung entwickelt eine unglaubliche Spannung bis hin zu einem großen Showdown am Schluss.
Es werden deutliche Worte und eine extrem bildhafte Sprache verwendet, in die zahlreiche Metaphern einfließen. Ich gestehe, dass mir einige davon besonders im ersten Viertel des Romans zu wuchtig, zu gewollt erschienen. Später wurde es für mein Empfinden besser, das mag aber auch daran liegen, dass mich die Handlung regelrecht mitgerissen hat.

„Das wirkliche Leben“ ist ein beeindruckendes Debüt über familiäre Gewalt, dessen Protagonistin an keiner Stelle die Hoffnung verliert. Das Ende passt zur Geschichte, beantwortet nicht alle Fragen und war für mich stimmig. Insofern empfehle ich das Buch von Herzen für Leser/innen ab circa 16 Jahren. Man kann es hervorragend in aufgeschlossenen Lesekreisen diskutieren.


 
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Ein beeindruckendes Debüt, aber nichts für schwache Nerven


Dieses Buch ist besonders. Allein der außergewöhnlich gestaltete Einband erweckt Aufmerksamkeit, es ist grell, macht neugierig.
Die Geschichte wird retrospektiv aus der Ich-Perspektive erzählt. Dabei wird versucht, die kindliche Gedankenwelt in Worte zu fassen und nachvollziehbar zu machen. Man hat es absolut nicht mit „kindlichem Geplapper“ zu tun (eine Befürchtung, die ich zunächst hatte), sondern mit einer ausdrucksstarken, vielseitigen Sprache.

Die Kindheit der namenlosen Ich-Erzählerin ist grausam. Der Vater ist ein herzloser Tyrann: „Mein Vater war ein Koloss. Er hatte breite Schultern wie ein Abdecker. Und Hände wie ein Riese. Hände, die den Kopf eines Kükens ebenso leicht abschlagen konnten wie den Kronkorken einer Flasche Cola.“ (S. 8) Die Mutter ist das Opfer seiner Launen, seine Attacken verlaufen meist brutal und blutig. Die Tochter vergleicht die Mutter mit einer Amöbe. Der kleine Bruder Gilles ist vier Jahre jünger als die Erzählerin und ihr ganzes Glück: „Meine Liebe zu ihm war die reinste Form der Liebe, die es auf dieser Welt gibt. Wie Mutterliebe. Eine Liebe, die keine Gegenleistung erwartet und durch nichts zerstört werden kann.“ (S. 13) Die Kinder werden regelmäßig Zeugen von Gewalt gegen die Mutter, die resigniert hat und ihrem Mann nichts entgegen setzen kann und will. Ihre Aufgabe liegt in der Zubereitung eintöniger Mahlzeiten. Darüber hinaus gilt ihr liebevolles Interesse ihren Ziegen – ein verstörendes Verhalten.

Als die Erzählerin 10 Jahre alt ist, geschieht etwas Schreckliches: sie und ihr Bruder werden Zeugen eines tragischen Unglücksfalles, der ein Menschenleben kostet. Ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr so, wie es war. Insbesondere Gilles ist fortan traumatisiert, zieht sich in sich zurück und spricht nicht mehr. Die Eltern scheinen das veränderte Verhalten des Sohnes nicht zu merken, die Erzählerin beschäftigt es umso mehr. Sie tut alles, um ihrem Bruder sein einmaliges Lachen zurückzugeben und gegen „das Geschmeiß“ in seinem Kopf, das von ihm Besitz ergriffen hat, vorzugehen. Es ist tragisch zu beobachten, wie verzweifelt das Mädchen nach Lösungen sucht. Sie flüchtet sich in eine phantastische Welt, träumt davon, zurück in die Vergangenheit reisen zu können, um den Unfall ungeschehen zu machen, der zur tiefen Spaltung der Geschwister geführt hat. Sie möchte ihren Bruder zurück. Gilles wendet sich indessen immer mehr dem Vater zu, er geht mit ihm jagen und wird immer gemeiner. Kein Wunder, dass die Erzählerin entsetzlich leidet.

Die Situation wird immer unerträglicher, spitzt sich zu. Das Mädchen lässt sich nicht brechen, sie ist kein Opfer. Was sie nicht ändern kann, erträgt sie und sucht sich Rettungsinseln außerhalb der Familie: „Denn das Leben war nun einmal eine Ladung Fruchtpüree in einem Mixer und man musste aufpassen, in dem Strudel nicht von den Klingen nach unten gezogen und zerkleinert zu werden.“ (S. 74) Die Erzählerin entwickelt sich weiter. Sie lernt fleißig, nimmt Jobs zum Babysitten an. Wir begleiten sie über einen Zeitraum von fünf Jahren.

Die Ambivalenz der Gedankenwelt des Mädchens fasziniert: Auf der einen Seite kindliche, naive Phantasien, auf der anderen Seite Reife, Vorausplanung und Abgeklärtheit. Der Gewalttätigkeit des Vaters, die den Leser zutiefst schockiert, begegnet sie mit Routine und Selbstverständlichkeit.

Das Buch ist nichts für zarte Nerven. Wiederholt gibt es blutige Szenen. Schreibstil und Handlung sind faszinierend. Die Autorin flechtet bewusst märchenhaft anmutende Motive in ihren Roman hinein. Gut und Böse sind scharf voneinander getrennt. Sie präsentiert eine kraftvolle, tapfere Heldin, die ihrem schwierigen Umfeld trotzt, aber auch fast verzweifelt auf der Suche nach Liebe ist. Die Handlung entwickelt eine unglaubliche Spannung bis hin zu einem großen Showdown am Schluss.
Es werden deutliche Worte und eine extrem bildhafte Sprache verwendet, in die zahlreiche Metaphern einfließen. Ich gestehe, dass mir einige davon besonders im ersten Viertel des Romans zu wuchtig, zu gewollt erschienen. Später wurde es für mein Empfinden besser, das mag aber auch daran liegen, dass mich die Handlung regelrecht mitgerissen hat.

„Das wirkliche Leben“ ist ein beeindruckendes Debüt über familiäre Gewalt, dessen Protagonistin an keiner Stelle die Hoffnung verliert. Das Ende passt zur Geschichte, beantwortet nicht alle Fragen und war für mich stimmig. Insofern empfehle ich das Buch von Herzen für Leser/innen ab circa 16 Jahren. Man kann es hervorragend in aufgeschlossenen Lesekreisen diskutieren.



...tolle, aussagekräftige Rezension!
Muss ich wohl auch mal lesen...
 
  • Haha
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