Vertraute Welt: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Vertraute Welt: Roman' von Hwang Sok-yong
4.5
4.5 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Vertraute Welt: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:208
Verlag:
EAN:9783958903036

Rezensionen zu "Vertraute Welt: Roman"

  1. Aussortiert und Weggeworfen

    Hwang Sok-Yongs Romanhandlung lässt sich zu weiten Teilen auf der sogenannten Blumeninsel am Rande der südkoreanischen Metropole Seoul verorten. Nur der Name erinnert an die dort einst intakte Natur. In den 1980er Jahren, als der 13-jährige Glubschaug mit seiner Mutter dort hinzieht, hat sich die Blumeninsel längst in eine gigantische, stinkende Mülldeponie verwandelt. Der Autor zeigt das Alltagsleben der Menschen, die auf der Müllhalde in notdürftig erbauten Baracken leben und jeden Tag den neu angelieferten Müll nach brauchbaren Materialien und Essen durchsuchen. Hwang Sok-Yong gewährt einen Einblick in die Organisation der Arbeitsabläufe und in ein System aus Lizenzen, das genau vorgibt wer welchen Müll zuerst durchsuchen darf. Ich konnte sehr schnell in diese fremde Welt eintauchen. Die beschriebenen Verhältnisse, unter denen die Müllsucher leben, sind sehr hart. Die Kritik daran, dass Menschen und auch Tiere genauso aussortiert werden wie Nahrungsmittel und alles andere, was nicht mehr gebraucht wird, ist deutlich formuliert. Allerdings lenkt der Autor seinen Blick auf die Menschen, für die die Blumeninsel gefährlicher Wohn- und Arbeitsort zugleich ist, und vor allem auf die Freundschaft, die Glubschaug mit dem drei Jahre jüngeren Glatzfleck eingeht, der ebenfalls auf der Deponie lebt. Mir gefällt der unprätentiöse Blick auf die Menschen, für die das Leben dort die Normalität - die vertraute Welt ist - und die das beste aus ihrer Situation zu machen versuchen. Hwang Sok-Yong gibt diesen Abgehängten, den aus der Gesellschaft Aussortierten an diesem trostlosen Ort durch seine Art zu schreiben Würde zurück - jedenfalls vermittelte sich mir dieses Gefühl beim Lesen. Glubschaug und Glatzfleck unterstützen die Erwachsenen immer mal wieder beim Sortieren des Mülls; sie haben aber auch viel Zeit durch die Gegend zu streifen und das eine oder andere Abenteuer zu erleben. Diese Freundschaft steht im Mittelpunkt des Romans und hat mir viele schöne, aber auch traurige Momente beschert. In „Vertraute Welt“ bestehen drei Lebensbereiche nebeneinander, die nur auf den ersten Blick getrennt voneinander existieren: 1. Die Menschen, die Teil einer Wegwerfgesellschaft sind und gigantische Mengen an Müll produzieren. 2. die Menschen, die den Müll nach Brauchbarem durchsuchen und so ihr Überleben sichern. 3. Eine Geisterwelt, die den Leser*innen einen Einblick in die Vergangenheit gewährt als auf der Blumeninsel noch Erdnüsse angebaut wurden und Blumen blühten. Die Geisterwelt nimmt im Roman einen größeren Raum ein - auch sie leidet unter der Umweltverschmutzung und darunter, dass für den „modernen“ Menschen schamanistische und shintoistische Traditionen an Bedeutung verlieren.

    „Vertraute Welt“ hat mir sehr gut gefallen. Der Roman lädt zum kritischen Reflektieren des eigenen Konsumverhaltens ein, benennt ohne erhobenen Zeigefinger Probleme, die mit Wirtschaftswachstum einhergehen, hält der Gesellschaft einen Spiegel vor, zeigt die Kehrseite des Konsums und die Verantwortung, die jeder einzelne hat. „Vergiss nicht, dass alles auf der Welt - jedes Lebewesen und jedes Ding - mit dir verbunden ist wie in einem Netz (…) man will dich nur auf Leistung dressieren und sonst nichts (…) Aber weißt du (…) du kannst aussteigen.“ (S. 186-187).

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  1. Am Ende der Gesellschaft

    Klappentext:

    „Am Rand der südkoreanischen Metropole Seoul liegt die „Blumeninsel“, eine gigantische Müllhalde, Lebensgrundlage und Wohnstätte einer Kolonie von Ausgestoßenen. Hier landet der Held des Romans, der 14-jährige „Glupschaug“, zusammen mit seiner Mutter, für die sich ein in der Hackordnung weit oben stehender Müllhaldenbewohner interessiert. Dieser „Baron“ ist für den Helden eine verhasste Stiefvaterfigur. Mit „Glatzfleck“, dem Sohn des Barons, freundet sich „Glupschaug“ jedoch an und lernt von ihm alles, was man zum Überleben wissen muss.“

    „Vertraute Welt“ - welch Titel für so eine Geschichte und ist sie doch so treffend und berührend zugleich. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll, hier etwas niederzuschreiben, denn die Geschichte ist gewaltig, obwohl sie mit nur 208 Seiten bedacht wurde. Diese Geschichte strotz nur so vor Metaphern, vor dem eigentlichen Detail zwischen den Zeilen (und hier gibt es unzählige davon!). Einerseits werden wir Leser beim lesen der Geschichte auf die moderne Wegwerfgesellschaft aufmerksam gemacht, wir werden hier mit der Nase wahrlich auf unseren stinkenden Unrat darauf gestoßen, was mit diesem so alles passiert und was er für andere Menschen wiederum noch für eine Existenzgrundlage bildet - von Menschen, die vom Müll leben, da sie selbst der letzte Rest der Gesellschaftskette sind und dem Müll gleichzusetzen sind. Danach kommt nichts mehr als nur noch der Tod. Wenn man da unten angekommen ist, kann einem nichts mehr schocken und aus der Bahn werfen…

    Der Hauptprotagonist hier ist Glupschaug (nicht über den Namen wundern! Alles hat hier sehr bedacht seine Bedeutung!) und dieser eröffnet uns die stinkende Welt, aber es ist seine Welt, seine vertraute Welt. Aber nicht nur das. Auch seine Mutter wird uns gekonnt näher gebracht und zeigt uns auf, dass eben diese vertraute Welt der beiden auch in gewisser Weise lebenswert ist - auch wenn wir uns das nicht vorstellen können. Hier geht es einfach um Gesellschaftsklassen, Politik, Rangordnungen und dem eigentlichen Sinn des Lebens. Glatzfleck kommt ebenfalls noch mit ins Spiel und es ist wahrlich schön anzusehen, wie die beiden eine Art Freundschaft entwickeln und sich sogar auf der Müllhalde beschützen….auch vor bösen, blauen Geistern. Keine Angst, hier wird es zwar ab und an etwas mystisch aber hier erfährt der intensive Leser durch die Blume auch warum und weshalb. Aufmerksames lesen ist hier Pflicht!

    Man hofft mit den Jungs mit, aus diesem Elend zu entschwinden und es gibt tatsächlich Lichtblicke. Nur was ist, wenn man aus dieser vertrauten Welt herausgerissen wird? Man kennt doch nichts anderes!? Man vermisst doch dadurch eigentlich nichts? Sie merken schon, hier ist das Denkpotential nach beenden der Geschichte enorm. Wir sehen die Vermüllung unserer Erde, an der jeder von uns mit drehen kann und wir sehen eine äußerst gesellschaftskritische Sichtweise eines Landes…

    Dieses Buch hallt nicht nur nach, es knallt regelrecht und wir denken schlussendlich über jedes Teil, welches wir wegwerfen, nochmal genauer nach. Ich vergebe hier sehr gern 5 von 5 Sterne, denn die Wortwahl und der Ausdruck haben mir äußerst gut gefallen. Absolute Leseempfehlung!

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  1. Die dunklen Seiten Südkoreas

    Als der 13-jährige Glupschaug zusammen mit seiner Mutter die Slums in der Nähe Seouls verlässt, um sich zur "Blumeninsel" aufzumachen, weiß er noch nicht, was die beiden dort erwartet: eine überdimensionierte Müllkippe, auf der sie fortan als Arbeiter unter der Anleitung des "Barons" eingesetzt werden. Eine unerträgliche Situation, die für Glupschaug vor allem dadurch leichter wird, dass er sich mit Glatzfleck, dem zehnjährigen Sohn des Barons anfreundet. Gemeinsam müssen sich die beiden beweisen, in dieser von Erwachsenen dominierten Welt des Schmutzes...

    Hwang Sok-Yong zeichnet in "Vertraute Welt", im koreanischen Original bereits 2011 erschienen, das düstere Bild einer Wegwerfgesellschaft zu Beginn der 1980er-Jahre, das noch immer erschreckend aktuell wirkt. In knappen, lakonischen Sätzen, lässt Hwang von Beginn an keinen Zweifel daran, wem seine Sympathien gelten: den Armen und Schwachen, den von der Gesellschaft Ausgestoßenen und Weggeworfenen. Und natürlich den Kindern, denn Protagonist Glupschaug ist mit großem Abstand die wichtigste Figur. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es keine einzige Szene, die ohne ihn auskommt.

    Ganz wunderbar gelingt es dem Autoren, die Empathie für Glupschaug und Glatzfleck auf die Leser:innen zu übertragen. Das führte so weit, dass ich in ständiger Sorge um den kleinen Glatzfleck war und überall Gefahren witterte, wo häufig gar keine waren. Der Schreibstil wirkt dabei ein wenig aus der Zeit gefallen, vielleicht gar altmodisch, was mich aber nicht störte. Gerade in den Dialogen der Kinder fühlte ich mich manchmal an diese alten wunderbaren DEFA-Filme erinnert, wo die jungen Darsteller ihre Beiträge auch häufig einmal mit dem Ausruf "Mensch..." einleiteten.

    Insbesondere das erste Drittel des Romans hat mir in diesem Zusammenhang sehr gut gefallen. Sensibel und mit dem nötigen Ernst schildert Hwang die sich leise anbahnende Freundschaft zwischen Glupschaug und Glatzfleck, die später und aufgrund des Verhältnisses zwischen Glatzflecks Vater, dem Baron, und Glupschaugs Mutter sogar zu einer brüderlichen Beziehung wird.

    Leider kann der Roman diese Intensität nicht über die vollen gut 200 Seiten bewahren. Gerade mit der Zunahme von metaphysischen Erscheinungen und geisterhaften Gestalten kam ich nicht so gut zurecht, da der Roman zu Beginn doch auf eine harte Realität setzt. Das mag aber auch mit der fernöstlichen Literatur allgemein zusammenhängen, wo Geisterwesen wohl des Öfteren eine größere Rolle spielen.

    Auch das Ende überzeugte mich nicht vollends. Ohne zu viel zu verraten, passiert etwas so Drastisches, über das in meinen Augen einfach zu schnell hinweg gegangen wird. Auch innere Konflikte werden in der Folge dieses Ereignisses nicht austariert.

    Leichte Kritikpunkte an einem insgesamt aber überzeugenden Roman über die dunklen Seiten Südkoreas, der gleichermaßen aufrüttelt wie berührt.

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  1. Ein knappes aber wichtiges Buch

    Als Inhaber eines Second Hand-Shops mit integriertem Buchladen, war mir dieses Buch ein besonderes Anliegen. Ein kritischer Blick auf unsere Wegwerfgesellschaft kann nie schaden.

    Mittlerweile kennt wohl jeder die Bilder von gigantischen Müllhalden, auf denen sich Menschen Behausungen gebaut haben, und in von der Restbevölkerung vergessenen Kolonien die frischen Abfälle durchkämmen um überleben zu können. Kolonien von der Gesellschaft Ausgestoßener.

    Als Leser begleiten wir den 13-jährigen „Glupschaug“ und seine alleinerziehende Mutter in ihrem neuen Zuhause mit dem wundervollen Namen „Blumeninsel“. Die Blumeninsel ist eine riesige Müllhalde auf der die Bewohner vom Sortieren bzw. Verkauf von Müll leben. Auch als Bewohner von Müllhalden muss man sich einer gewissen Hackordnung unterwerfen. Chef der Kolonie ist „Der Baron“. Der Baron wird zum Unverständnis von Glupschaug zum Geliebten seiner Mutter, sein leiblicher Vater fristet sein Leben in diversen Gefängnissen bzw. Umerziehungslagern. Doch die Liaison seiner Mutter mit dem Chef der Kolonie bringt Glupschaug auch Vorteile. Freie Zeiteinteilung ist beispielsweise solch ein Vorteil. Gemeinsam mit seinem Freund „Glatzfleck“, dem Sohn des Barons, verbringt er seine freie Zeit und erkundet die Welt der Blumeninsel.

    Ein Roman der in vielen Dingen zu harmlos wirkt. Die sonderbaren Namen der Bewohner der Müllhalde sorgen für einen gedanklichen Abstand zur Realität. Die Namen entschärfen den Alltag auf der Müllhalde, der durch ein Leben mit Dreck, Ungeziefer und verdorbenen Essen geprägt ist.

    Ein Roman auf den man sich einlassen muss. Man muss sich die Zeit nehmen und selbst in die Haut der Bewohner schlupfen, nur dann ist es einem möglich einen Eindruck über die unfassbaren Lebensbedingungen zu schaffen. Wem dies gelingt, wird durch einen atmosphärisch dichten Roman belohnt.

    Die Geschichte spielt in einem Berghang-Slum in der Millionenstadt Seoul, könnte aber mittlerweile in vielen, vielen anderen Ländern dieser Erde spielen. Der Autor hat sich für einen trockenen Erzählstil entschieden, der aber absolut passend zu der Geschichte ist.

    Ein mit 200 Seiten recht knappes Buch für solch ein weltumfassendes Thema, aber ein unheimlich wichtiges. Ein Buch, dass den eigenen Horizont erweitert.

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