Das Schweigen in mir

Krieg, Flucht oder Migration sind Themen, die sich schon lange nicht mehr aus unserer Gesellschaft wegdenken lassen und denen sich Layla AlAmmar in ihrem Roman „Das Schweigen in mir“ auf sehr eindringliche Weise widmet.
Protagonistin dieses Romans ist eine junge Syrerin, Anfang bis Mitte 20, geflohen vor dem Krieg in ihrer Heimat. Die Familie ist in Syrien geblieben, was aus ihr geworden ist, bleibt ungeklärt.
Vor ein paar Wochen ist die junge Frau in England angekommen, nun lebt sie allein und zurückgezogen in irgendeinem Appartement, in irgendeiner englischen Stadt. Ihre Bleibe gehört zu einem Wohnkomplex, der aus vier dicht beieinanderstehenden Hochhäusern besteht. Von ihrem Appartement aus kann die junge Frau in die Wohnungen der anderen Bewohner sehen und ihnen beim Leben zuschauen, genauso wie die junge Frau von den anderen Mietern beobachtet wird. Die Bewohner des Wohnkomplexes sind eine bunte Mischung aus der englischen Mittelschicht: Singles, Paare, Familien, Menschen aller Altersklassen, mit und ohne Migrationshintergrund. Einziger Kriegsflüchtling ist die junge Frau. Durch ihre Erlebnisse im Krieg und während ihrer wochenlangen Flucht, die sie quer über den Kontinent geführt haben, ist sie schwer traumatisiert. Eine Folge ihres Traumas ist der Verlust der Sprache, so dass ihre Möglichkeiten zur Kommunikation auf das Schreiben beschränkt sind.
Für ein Online-Magazin schreibt sie als „die Sprachlose" Essays und Erzählungen über jene Themen, welche bisher ihr Leben bestimmt haben: Migration, Islam, Krieg und Flucht.
Ihre Geschichten treffen dabei einen Nerv der Gesellschaft, wie viele divergierende Leserkommentare als Reaktion auf ihre Veröffentlichungen beweisen. Die Protagonistin durchläuft dabei eine beachtliche Entwicklung, Die anfängliche Isolation, die sie sich einerseits bewusst zum Selbstschutz auferlegt hat, andererseits aber auch durch ihre Unfähigkeit zu sprechen, zwangsläufig entstanden ist, lockert sich nach und nach. Eher unfreiwillig wird sie in das Leben der Anderen um sie herum hineingezogen. Ihre Empathie trägt dazu bei, dass sie ihre Augen nicht vor dem verschließen kann, was um sie herum geschieht. Sie nimmt an ihrem Zufluchtsort, also ihrer direkten Nachbarschaft, Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und Gewalt gegen Frauen sowie Menschen mit Migrationshintergrund wahr. Diese Beobachtungen lassen die Angst, die sie seit ihrer Flucht unterdrückt, immer wieder hochkommen. Ihr wird bewusst, dass diese Angst immer und überall vorhanden sein wird. Ihre seelischen Wunden werden daher niemals verheilen, aber sie wird lernen, damit zu leben.
Der Sprachstil dieses Romans ist ein Highlight: kraftvoll und poetisch, mit vielen Metaphern und Bildern, die über die erlebten Qualen dieser Frau einen Schleier legen und daher deren Vorstellung für den Leser halbwegs erträglich machen. Die junge Frau durchlebt immer wieder Momente der Panik und Angst, die sich auf den Leser übertragen und fast körperlich spürbar sind. Unterbrochen wird diese Abfolge seelischer Höhen und Tiefen immer wieder von essayistischen Gedankengängen der jungen Frau. Der Leser wird zum „Gedankenleser“ und schlüpft somit in die Rolle ihres einzigen Zuhörers. Die junge Frau sinniert über ihr persönliches Schicksal und jene Themen, die Einfluss auf ihr bisheriges Leben genommen haben. Geprägt durch ihre persönlichen Erfahrungen eröffnen sich Sichtweisen, die der Leser kaum ohne das Zutun der Protagonistin in Erwägung gezogen hätte. Das macht diesen Roman unglaublich interessant und bereichernd in der Diskussion über Themen, die in unserer Gesellschaft relevant sind, allen voran Islam und Islamismus, oder Migration, Assimilation und Integration.
Fazit
Ein sehr intensives Leseerlebnis über topaktuelle und gesellschaftsrelevante Themen, auf sprachlich sehr hohem Niveau! Leseempfehlung!

© Renie