Monster wie wir: Roman

Rezensionen zu "Monster wie wir: Roman"

  1. 5
    05. Sep 2020 

    Die Kunst des Weglassens

    Die, für ihre Lyrik bekannte Autorin Ulrike Almut Sandig kann mit Worten und das in unterschiedlicher Ausprägung. Sie schreibt Gedichte und Erzählungen, von denen bereits einige veröffentlicht und verfilmt wurden. Sie ist Mitglied der Poetry-Band "Landschaft", mit der sie ein Musikalbum veröffentlicht hat. Hörspiele gibt es ebenfalls von ihr. Für ihr bisheriges Werk ist sie bereits mehrfach ausgezeichnet worden.
    In ihren vor Kurzem erschienenen Roman "Monster wie wir" lässt sie ihre Fähigkeiten als Lyrikerin einfließen. Das Ergebnis ist ein Buch, das es in sich hat - sowohl inhaltlich als auch stilistisch.
    Es behandelt ein Thema, das so entsetzlich ist, dass manch einer zögern wird, dieses Buch zur Hand zu nehmen: sexueller Missbrauch von Kindern.
    Die Protagonisten dieses Romans sind Ruth und Viktor, zwei Menschen, die ihre Kindheit in den 80er/90er Jahren in der ehemaligen DDR verbracht haben.
    Sie sind die hauptsächlichen Opfer in diesem Roman. Beide wurden als Kinder von Menschen aus ihrem familiären Umfeld über mehrere Jahre missbraucht.

    Der Einstieg in dieses Buch ist rätselhaft. Den Auftakt des Romans bildet eine Szene in der Gegenwart: die erwachsene Ruth, die Musikerin geworden ist und kurz vor einem ihrer Auftritte hinter dem Vorhang steht und das Publikum betrachtet. Sie scheint jemanden im Publikum zu suchen. Sie spricht in Gedanken mit einer Person, die zunächst nicht zuzuordnen ist. Dabei macht sie verwirrende Andeutungen, die auf eine Geschichte hinweisen, die man eigentlich nicht hören möchte. Das hat etwas Tieftrauriges, aber auch Bedrohliches. Es ist jedoch nicht so, dass Ruth uns nicht gewarnt hätte, vor dem, was sie erzählen wird.

    "Also falls du mitwillst, zu diesem unwirtlichen Stück Land, auf dem ich mich befinde, dann komm."

    Und schon taucht sie in ihre Kindheitserinnerungen ein, die den ersten Abschnitt dieses Buches bilden. Auf den ersten Blick hatte sie eine unbeschwerte Kindheit in einem intellektuellen Elternhaus. Der Vater war Pfarrer. Er, der schon vorher Schwierigkeiten hatte, sich dem sozialistischen System anzupassen, träumte von der Freiheit und engagierte sich entsprechend mit anderen Gleichgesinnten. Wir wissen, wie sich die Wende in der DDR vollzogen hat. Daher lassen sich die Erinnerungen an Ruths Kindheit nicht von denen des politischen Umschwungs und der Maueröffnung trennen. Nun sollte man annehmen, dass das Aufwachsen in einem intellektuellen und moralisch integrem Elternhaus die besten Voraussetzungen für einen Start ins Leben bietet. Intellektuell gesehen vielleicht schon. Doch hinter der Fassade von Bildung und Freidenkertum schien nicht alles gold zu sein, was glänzte. Die Ehe der Eltern kriselte und der Vater legte manchmal eigenwillige Verhaltensweisen im Umgang mit seiner Familie an den Tag.
    Ruth wurde von einem engen Verwandten missbraucht. Alles deutet darauf hin, dass mindestens einer in ihrer Familie wusste, was mit ihr passierte, aber dennoch die Augen vor dem verschloss, was Ruth widerfuhr.
    Ihr Schulfreund, Viktor, mit dem sie viel Zeit verbrachte, spürte ihre tiefe Traurigkeit, auch wenn sie sich ihm gegenüber nicht öffnen konnte. Die beiden Kinder waren Leidensgenossen. Denn auch Viktor wurde das Opfer sexuellen Missbrauchs. Und auch er war kaum in der Lage, das Unfassbare in Worte zu fassen.

    "Wir lachten, weinten, verstanden nichts und aßen Eis, wir verstanden alles und vergaßen es wieder."

    Jahre später erleben wir einen fast erwachsenen Viktor, den es kurz nach der Schule ins Ausland zog. In Südfrankreich arbeitete er bei einer wohlhabenden Familie als Aupair und hütete die Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Und hier machte er die Erfahrung, dass das, was ihm in seiner Kindheit widerfahren ist, leider in den besten Familien vorkommt. Dieser Part bildet den 2. Abschnitt dieses Buches.
    Der letzte Teil dieses Buches führt uns wieder zur Szene des Romananfangs zurück: wir befinden uns immer noch hinter der Bühne des Konzertsaals. Erneut folgen wir Ruths Gedanken vor ihrem Auftritt. Und langsam zeichnet sich ab, wen Ruth im Zuschauerraum sucht. So viel sei gesagt: so niederschmetternd die Erinnerungen von Ruth und Viktor sind, umso positiver ist das Ende dieses Romans. Denn Ruth zeigt, dass sie auf dem besten Wege ist, die Opferrolle abzulegen.

    Der Aufbau dieses Romans ist sehr besonders. Indem die Autorin jedem ihrer Protagonisten einen eigenen Abschnitt widmet, stellt sie die Individualität des Einzelnen in den Vordergrund und reduziert sie nicht auf ein Opfer sexuellen Missbrauchs. Daher könnten diese beiden Abschnitte losgelöst voneinander betrachtet werden, was sich auch in den unterschiedlichen Erzählweisen der Autorin, bemerkbar macht.
    Diese Abschnitte werden dabei vom Anfang und Ende dieses Romans schützend umschlossen. Es scheint, als ob die Autorin ihren Protagonisten dadurch genügend Distanz zur Leserschaft ermöglicht, um ihre schmerzhaften Erinnerungen überhaupt wieder aufleben lassen zu können.
    Bemerkenswert ist, dass die Protagonisten dem Leser nicht als Opfer in Erinnerung bleiben werden. Am Ende sehen wir Viktor und Ruth (insbesondere) als Menschen, deren persönliche Entwicklung zwar von ihren traumatischen Erlebnissen geprägt wurde, die aber auf dem besten Weg sind, sich mit dieser seelischen Last zu arrangieren und nach vorn zu blicken.

    "Alles ist gleichzeitig da, Vergangenheit und Gegenwart, das wiegt schon einiges. Und wir sind auch immer noch da. Also gibt es keinen Grund, es nicht zu wagen."

    Wie ich eingangs erwähnte ist Ulrike Almut Sandig eine Lyrikerin. Wer gute Lyrik schreibt, beherrscht die Kunst des Weglassens. Denn mit wenigen Worten, beschränkt auf Verse und Strophen, werden Bilder im Kopf des Lyriklesers geschaffen, die sich zu komplexen Szenarien verdichten. Die Fantasie des Lesers muss mitspielen, sonst berührt Lyrik nicht. Die Autorin beherrscht diese Kunst des Weglassens par Excellence. Auch in "Monster wie wir" weckt sie die Vorstellungskraft des Lesers, indem sie Dinge verschweigt oder zwischen den Zeilen versteckt. Und nennt sie die Dinge beim Namen, geschieht das sehr subtil. Gerade deshalb entstehen ungeheuerliche Bilder im Kopf des Lesers, die sich an der Grenze zur Erträglichkeit abspielen und daher sehr schmerzhaft sind.

    "Danach war er wieder mein Großvater, der im Sessel saß und Nachrichten hörte. Seine Wangen leicht gerötet, als hätte er einen Spaziergang im Garten gemacht, die Augen geschlossen. Aber ich war immer noch eine Puppe und stakste mit steifen Beinen aus der Stube. Die Radiowellen rollten durch die Stubenluft und erschwerten das Vorankommen."

    Mein Fazit:
    "Monster wie wir" - Auch wenn die Geschichte aufgrund der Thematik wehtut, bin ich von diesem Roman restlos begeistert. Die Entwicklung der Protagonisten vom Opfer zum Individuum sowie der bewundernswerte Erzählstil der Autorin haben dazu beigetragen. Leseempfehlung!

    © Renie

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