Rezension Rezension (5/5*) zu Am Seil: Eine Heldengeschichte von Erich Hackl.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Am Seil von Erich Hackl
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Ethisches Handeln in unmenschlichen Zeiten

Den kleinen Roman „Am Seil“ von Erich Hackl konnte ich im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin lesen. Mein großer Dank an den Diogenes-Verlag und das Organisatorenteam!
Für den Roman hat Erich Hackl intensive Recherchearbeit bei den realen handelnden Personen betrieben und schildert uns, wie der Kunsthandwerker Reinhold Duschka im Wien des 1940er Jahre eine jüdische Mutter Regina und ihre Tochter Lucia 4 Jahre lang versteckt und so vor dem nationalsozialistischen Terror retten kann.
Die Interviews mit seinen Protagonisten haben ihm dabei eine ganz subjektiv gefärbte, nicht immer komplette und an manchen Stellen sogar nicht immer ganz wahre Sicht der Dinge vermittelt. Und genau diese Sicht gibt der Autor an seine Leser weiter und schafft dadurch eine Atmosphäre der Authentizität und der großen Betroffenheit.
Im ersten Teil des Buches führt er den Leser in den Freundeskreis ein, aus dem heraus die Rettung für Lucia und ihre Mutter letztlich gelingen wird. Mit fast stakkatohaften Erinnerungsfetzen an diese Zeit der Freundschaft in einer noch heilen Welt führt uns Hackl so eine Gruppe von ganz normalen Menschen vor Augen, für die alle der Einbruch des Nationalsozialismus und des Krieges ihr bisheriges Leben in gänzlich neue Bahnen reist. Die Freundesgruppe auf jeden Fall wird so unwiederbringlich auseinandergerissen und hat keinen Bestand mehr.
Aber sie hat ihren Wert auch in der Zeit des Nationalsozialismus! Denn Regina findet in ihr wie selbstverständlich den rettenden Anker in ihrem bedrohten jüdischen Leben, nachdem sie mit Lucia der Deportation ins Lager nur sehr knapp und rein zufällig entgehen konnten: Reinhold nimmt sie in seiner Werkstatt auf, wo sie beide für 4 Jahre lang ein unsichtbares Leben führen können, in dem sie wie an ein Seil miteinander verbunden sind und so mit Glück und dank des gegenseitigen Vertrauens und dem selbstverständlichen Beistand von Reinhold überleben können.
Dieser zweite Teil des Romans – das Versteck – wird von Hackl vor allem aus der Sicht des Mädchens Lucia geschildert. Ihre Sichtweise ist dabei kindlich eingeschränkt und in der Regel rein beobachtend ohne Einblick in die wirkliche Bedeutung, Bedrohung und Tragweite, die hinter den Alltagserlebnissen stehen. Diese frische und durchaus etwas naive Perspektive gibt dem Roman dabei die besondere Wirkung auf den Leser.
Der dritte Teil führt uns in die Zeit nach dem Krieg/nach der Befreiung und zurück ins normale Leben. Der Fokus des Erzählten schwingt in Richtung Reinhold. Lucia sorgt dafür, dass er in Yad Vashem geehrt wird und damit in eine Reihe gestellt wird mit Schindler und anderen bekannten Judenrettern. Aber er fühlt sich da so gar nicht passend.
Und hier steckt für mich die eigentliche Botschaft des Romans: Es waren ganz normale Menschen, die da handelten. Genauso wie Lucia kein "Übermensch" ist wie Anne Frank, genauso wenig ist es Reinhold. Sie und er sind Menschen mit Fehlern, Fehlentscheidungen, Schwächen. Und konnten trotzdem zu Helden werden.
Hackl sagt uns damit schonungslos: Du entscheidest selber, was für ein A.... du bist oder wirst.
Und das gilt für Hackl ganz bewusst auch für die Gegenwart, in die hinein im Text nicht von ungefähr eine Brücke gebaut wird:
S. 101:"Es war für dich selbstverständlich und gar nicht erwähnenswert, dass du in einer Zeit der Unmenschlichkeit Deinen Anspruch als Mensch gelebt hast. Und dafür möchte ich dir gerade jetzt, wo sich die Geschichte zu wiederholen droht, ganz besonders danken."

Fazit
Ethisches Handeln in unmenschlichen Zeiten. Das große Thema dieses kleinen Romans, das Hackl auf sehr authentische und dadurch bewegende Weise übermitteln kann. Journalistische Recherchearbeit liegt dem Buch zugrunde. Das scheint immer wieder durch. Durch viele Gespräche mit den handelnden Personen hat sich Hackl die Geschichte erarbeitet. Und einen wichtigen Zusatz zu unserer Geschichtsanschauung geschaffen. Anne Frank, das jüdische Mädchen im Versteck, das uns allen zuerst einfällt, wenn wir an das Schicksal von im Versteck lebenden Juden (wie Lucia) denken, ist rezipiert worden als Mädchen, das durch Intelligenz, Ausdrucksvermögen, Weltsicht sehr weit herausragt aus der Schar normaler Kinder. Das ist bei Lucia nicht der Fall! Ein durch und durch normales Kind gerät ganz ohne eigenes Verschulden und eigenes Verständnis in diese prekäre Lage und richtet sich darin irgendwie ein. Sie hat dabei - durch Reinhold als Retter - Glück im Unglück. Soviel Glück wie der Großteil der Juden damals leider nicht hatte.
Reinhold ist der Retter, aber keinesfalls ein Supermann und auch kein Superheld. Er ist einfach ein Mensch, der wie selbstverständlich Verantwortung für den Anderen spürt und übernimmt. Das führt ihn als Bergsteiger in Teams auf die Berge und das bringt ihn ganz selbstverständlich dazu, Lucia und Regina ein Versteck zu bieten. Dafür braucht es keine Superintelligenz, keinen besonderen Reichtum, keine besonderen Fähigkeiten, sondern einfach nur Moral, Herz und ethisches Verständnis.
Du bestimmst selbst, ob du ein A.... bist oder nicht.
Das galt in der Geschichte. Das gilt heute. Diese anspruchsvolle Botschaft, die heute wieder besonders aktuell und wichtig erscheint, steht vor uns nach Lektüre des Buches. Ein wichtiger und richtiger Roman von
Erich Hackl in dieser Zeit!

 

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