»Haben Sie Kinder?«, wird der Vater gefragt. »Nein, ich habe zwei Mädchen«, antwortet er. – Diese Szene ist eine der ersten Erinnerungen einer Frau, die um 1960 in gutbürgerlichen Verhältnissen in Rouen aufwächst. Was folgt, ist ein Leben, wie es exemplarisch scheint für ihre Generation: Laurence befreit sich aus der Enge des Elternhauses, erlebt sexuelle Freiheit, aber auch Gewalt, sie verliert einen Sohn bei der Geburt und bringt eine Tochter zur Welt. Und mit dieser Tochter, die sich allen Rollenzuschreibungen entzieht, öffnet sich etwas – auch für Laurence und ihr Leben als Frau. Aus dem Besonderen eines Frauenschicksals leitet dieser klug konstruierte Roman ab, was im Allgemeinen folgt, nachdem es heißt: »Es ist ein Mädchen.«Kaufen
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Dies ist die Geschichte von Laurence, geboren 1959 in Frankreich als Tochter eines konservativen Arztes und seiner nicht erwerbstätigen Ehefrau. Beide wünschten sich sehnlichst einen Sohn, stattdessen kommt eine zweite Tochter zur Welt. Mit diesem Makel, nicht gewollt, minderwertig und ein Kind zweiter Klasse zu sein, wächst Laurence auf. Der Vater lässt kaum eine Chance aus, ihr das zu verstehen zu geben. Auch im Kindergarten, in der Schule, in der Nachbarschaft nehmen die Diskriminierungen kein Ende und gipfeln in einem sexuellen Missbrauch an der 10-Jährigen – verübt von einem Großonkel und gedeckt von der übrigen Verwandtschaft. Das macht fassungslos!
Ständig wird dem Mädchen Unterordnung und Anpassung abverlangt, sie soll sich nicht „interessant machen“. Das alles hinterlässt Spuren an der Seele des Kindes. Laurence kann als Folge der erlittenen Verletzungen ihre Sexualität, ihr Frausein, ihr sexuelles Erwachen nicht unbeschwert genießen, es ist sogar gestört und vergiftet. Wir begleiten Laurence über rund 50 Jahre, bis ihre eigene Tochter eine junge Erwachsene ist und ihre sexuelle Identität auslotet. Davon erzählt dieses Buch.
Laurence erscheint dabei als der Prototyp einer Frauengeneration. Ihr widerfährt mehr, als einer einzelnen Frau widerfahren kann. Durch diesen Kunstgriff soll die omnipräsente Misogynie in der Gesellschaft an den Pranger gestellt werden, die um die Missstände weiß und zuschaut, aber nichts unternimmt, um sie zu verändern. Manches hat sich seit damals verbessert, aber längst nicht alles.
Der Einstieg in den Roman ist fulminant gelungen: In der „Du“-Perspektive fühlt man sich sofort direkt angesprochen. Spitz und provokant im Ton wird ins Thema eingeführt, was es bedeutet ein Mädchen zu sein. Nach dem ersten Kapitel wird geschickt auf die Ich-Erzählerin umgeleitet, die nun ihre Erlebnisse aus eigener Anschauung berichtet. Manche Begebenheit ist ungeheuer schmerzhaft, manches schier unglaublich. Das Mädchen (und später die Frau) muss mit vielem alleine zurecht kommen, weil manche Themen einfach tabu sind.
Die Fülle an erlittenem Leid wurde mir persönlich insgesamt zu viel. Im Zuge der Lektüre stumpfte ich ab, die anfangs so packenden Schilderungen konnten mich emotional nicht mehr durchgängig erreichen. Zu konstruiert kam mir der Ablauf vor, zu stereotyp insbesondere die männlichen Figuren. Kein Klischee wird ausgelassen, die Autorin arbeitet zudem mit Unterstellungen und Redundanzen, die die benachteiligte Rolle der Frau verdeutlichen sollen. Das führte bei mir zu einem Glaubwürdigkeitsverlust an der Erzählerin selbst. Manche Szene konnte ich nicht zuordnen, manches kam mir unrealistisch vor. So schleichen sich seltsame Unterwerfungsfantasien in Laurences Träume. Romantik und Liebe sind Fremdworte für sie. Alles wird auf Triebbefriedigung reduziert. Das mag psychologisch schlüssig sein, hinterlässt bei mir aber Fragezeichen und Unverständnis.
Allerdings greift die Autorin auch sehr viel Zeitgeist der 1960er Jahre auf: Ältere Leserinnen werden sich an ihre eigene Jugend erinnern, als frauenverunglimpfende Witze salonfähig waren, als man über weibliche Sexualität (z.B. die Menstruation) höchstens verklausuliert sprach, als Jungfräulichkeitsmythen omnipräsent waren und Meinungen vorherrschten, nach denen Frauen ihren Männern Sex „schuldeten“... Da kann einem zweifellos noch heute die Galle hochkommen!
Laurence indessen wird als willenloses, unreflektiertes, schwaches Opfer stilisiert, die sich noch im Erwachsenenalter von ihrem Vater blauäugig manipulieren lässt und rein gar nichts kritisch hinterfragt. Zum Glück lässt sich ihre eigene Tochter Alice nicht in dieses althergebrachte weibliche Korsett zwängen. Sie begehrt auf, sucht sich ihren eigenen Weg. Leider wirkt auch dieser Twist auf mich überfrachtet. Zu viele zeitgemäße Genderthemen sollen untergebracht werden. Daher erscheint auch Alice wie ein Prototyp, wie das Gegenteil ihrer Mutter, das die Fesseln sprengt, dadurch aber neue Impulse setzt und auch der Älteren Wege in die Emanzipation aufzeigt.
Der Roman ist rhetorisch vielseitig und ansprechend geschrieben. Der Ton ist provokant, krass und rebellisch gehalten – zum Inhalt passend. Der bildhafte, direkte Ausdruck und die abwechslungsreichen Perspektivwechsel haben mir sehr gut gefallen. Das Thema dieses Romans, die latente Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft, ist zweifellos von großer Brisanz. Es kann nicht oft genug darauf aufmerksam gemacht werden, welchen Benachteiligungen, sexuellen Übergriffen und Erniedrigungen Mädchen und Frauen auch heute noch ausgesetzt sind. Ein Roman wie dieser kann dafür sensibilisieren und Aufmerksamkeit einfordern. Allerdings tut er das dermaßen überzeichnet und polarisierend, dass er möglicherweise nur eine kleine, feministische Zielgruppe erreicht. Das wäre schade, weil das Grundanliegen sehr berechtigt ist.
Für mich ist es also ein Roman mit Licht und Schatten, der zweifellos großes Diskussionspotential bietet. Ich bereue keinesfalls, dieses Buch gelesen zu haben. Es weitet den Horizont, führt aus der eigenen Wahrnehmungsblase heraus. Ein bisschen weniger wäre hier allerdings meines Erachtens mehr gewesen.
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