1. Leseabschnitt: Beginn bis Seite 96

Eulenhaus

Aktives Mitglied
13. Juni 2022
329
1.552
44
In einem Interview der Literatur Lounge erzählt Filipenko, dass seinem Roman Verhörprotokolle der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ zugrunde liegen.
Die Geliebte Vera ist eine frei erfundene Figur. Die Tagebücher sind fiktiv, aber nach dem recherchierten Material erstellt. In Russland wird das Buch von Kriegsgegnern sehr gelobt, von den anderen wird er als Verräter bezeichnet.
 

Eulenhaus

Aktives Mitglied
13. Juni 2022
329
1.552
44
Der Krematoriumsdirektor Nesterenko wird im Juni 1941 - Deutschland hat Russland den Krieg erklärt - 55jährig verhaftet. Der Moskauer Ermittler muss so viele Verhöre abarbeiten, dass er eher lustlos zu Werke geht. Der kluge ironische Witz Nesterenkos, den der Autor in kurzem schnellem Schlagabtausch darstellt, machen uns die Hauptfigur sehr sympathisch.
In den Jahren der stalinistischen Säuberungen brennt der Ofen tags und nachts. Die Henker betäuben sich mit Alkohol. Der Kremulator berichtet von übereinander gestapelten Leichen und zahlenden Zuschauern bei der Verbrennung, um die Kremation einer breiteren Öffentlichkeit näher zu bringen. Man gruselt sich beim Lesen ob des irrsinnigen Vorgehens des russischen Machtapparates.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Ich habe zunächst einmal Schwierigkeiten mit dem Erzählton gehabt, fühlte mich an einen Schelmenroman erinnert (die ich bekannterweise gar nicht leiden kann). Der Erzähler packt alles in Ironie und Sarkasmus. Er versucht Sachverhalte zu schildern und im Sinne des Systems auszudeuten, um sich nicht schuldig zu machen. Das ist zweifellos ein Eiertanz, weil das Urteil eigentlich schon feststeht. Die Ermittler brauchen nur noch Fakten, das Urteil steht bereits fest. Man weiß, dass man es mit dem Stalinistischen Willkürregime zu tun hat. Kleinste Verfehlungen ziehen die Todesstrafe nach sich.

Im zweiten Verhör habe ich die Sprache nicht mehr ganz so sarkastisch empfunden (Gewöhnung?). Nesterenko muss von seiner Vergangenheit im Ersten Weltkrieg berichten. Er findet sehr drastische, verkürzte Bilder und Metaphern für das Grauen an der Front. Manche sind auch etwas schräg, dann wird er zur Ordnung gerufen. Einfache Soldaten sind Material,nur die gefallenen Offiziere werden öffentlich erwähnt. Ehrenmäler für die Gefallenen sucht man in der SU vergeblich.

Der Erzähler wurde (wie viele andere auch) zur Tapferkeit, zum Heldenmut erzogen. Immer wieder unglaublich, wie groß die Angst der Väter ist, dass ihnen die Söhne Schande machen. Das Nasenbluten? Ist es ein Symbol für Schwäche?

Ich habe den Eindruck, dass das gesamte Buch Aufzeichnungen sind adressiert an die Liebste Vera, die immer wieder auch persönlich angesprochen wird.

Thematisch finde ich das Buch interessant, zumal die Parallelen zwischen heute und damals ziemlich deutlich sind: Krieg ist Krieg, und Diktatur ist Diktatur. Der Erzählstil lässt bei mir noch keine Leselust aufkommen. Ich hadere. Ich kann den Erzähler nicht richtig ernst nehmen. Er nimmt sich selbst nicht ernst. Würde man in einer solchen Situation witzeln oder blöde Rückfragen stellen? Nur, wenn einem das Leben nichts mehr wert ist, behaupte ich.

N. hat sich Gefühle weitgehend abgewöhnt. In seiner Tätigkeit als Kremulator hat er Stalin bei der Vernichtung seiner Opfer unterstützt. Die meisten Figuren hat es tatsächlich gegeben, worauf auch der Voraustext hinweist. Ernstes Thema mit Bezug zum Ukraine-Krieg. Mal schauen, wie es weiter geht.

Auch wenn ich hadere, stelle ich fest, dass Filipenko offenbar in jedem seiner Bücher einen völlig anderen Ton findet. Das kann auch nicht jeder.
 

Federfee

Bekanntes Mitglied
13. Januar 2023
2.167
8.984
49
Die Erzählweise

Leider gefällt es mir bis jetzt überhaupt nicht und ich versuche gerade herauszufinden, woran es liegt. Daher ist es gut, innezuhalten bevor ich weiter lese.

Alles, was wir erfahren, ergibt sich aus dem, was Nesterenko aufschreibt (für seine Liebste Vera?) und aus den Verhören, in denen er über sein bewegtes Leben erzählen soll, von dem wir häppchenweise und nicht chronologisch erfahren. Aber das ist es nicht, was mir nicht gefällt.

Mich nervt, wie der Ermittler einerseits ständig unterbricht und mich andererseits langweilt, wenn er sich Lebensabschnitte ausführlich erzählen lässt, wo ich nicht verstehe, was es für die Spionagevorwürfe für eine Bedeutung hat. Da kommt es mir so vor, als ob Filipenko das Material, das er von Memorial erhalten hat, hier hineinflickt.

Dazu kommt, dass er mit einigen Namen um sich wirft, die nicht jeder kennen wird. Da wäre ein Glossar erforderlich gewesen oder eine kurze Anmerkung. Ich musste z.B. nachgucken, wer Majakowski ist (Dichter) und nur durch Zufall (aus dem 'Brilka'-Buch von Haratischwili) weiß ich, wer Berija ist, ein nicht unwichtiger Mann, der eng mit Stalin verbunden war.​

Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.

Das ist es wohl, was mich stört: diese mir uneinheitlich vorkommende Art, über die Schrecken der damaligen Zeit zu berichten, mal dieses Nebenbei-Erwähnen von Personen, mal detaillierte Schilderungen, was man sieht, wenn jemand verbrannt wird z.B. (S. 43) und andere Schrecklichkeiten.​

Nesterenko

Er scheint mit dem Leben abgeschlossen und vor dem Tod keine Angst zu haben. Er wirkt aber keineswegs resigniert, sondern sarkastisch-zynisch. Die Zustände während der Haft nimmt er mit Gleichmut hin (das schreckliche 'Essen' in Saratow, S.17). Erstaunlich. Unglaubwürdig?​

Seine Ironie gefällt mir, wie er ständig Kritik übt und sich über den jungen 'Genossen Ermittler' lustig macht , dieses Bürschchen, diesen Wonneproppen, 'ein Adlerküken in einem noch fremden Nest' (20) – oh, 'verzeihen sie gnädigst' (22)

Auch sonst legt Filipenko ihm lauter kritische Anmerkungen in den Mund, nur zwei paar Beispiele:​

'Du kennst ja den Eifer unserer Behörden, wenn es um Vernichtung geht.' (9) -'das neue Quasirechtswesen' (13)​

Viele Zitate über den Krieg habe ich mir markiert; sie sind aber nicht neu:

'Es gibt Spielregeln, die im Frieden gelten, und im Krieg sind es andere. Man muss darauf achten, sich rechtzeitig umzustellen...' - 'Der Krieg folgt keiner Logik...' (14)
'Jede Diktatur, Bürger Ermittler, hält sich durch Korruption aufrecht.' (33)​

'Das Schlimmste am Krieg ist, dass er dich gegen deinen Willen zum Töten zwingt. (48)​

Dieser letzte Satz bietet Diskussionspotenzial...​
 

Federfee

Bekanntes Mitglied
13. Januar 2023
2.167
8.984
49
In Russland wird das Buch von Kriegsgegnern sehr gelobt, von den anderen wird er als Verräter bezeichnet.
Klar, Filipenko lebt nicht umsonst im Exil. In Belarus oder Russland kann er sich vorerst nicht mehr blicken lassen.
Ich habe zunächst einmal Schwierigkeiten mit dem Erzählton gehabt, fühlte mich an einen Schelmenroman erinnert (die ich bekannterweise gar nicht leiden kann). Der Erzähler packt alles in Ironie und Sarkasmus.
Also noch jemand, dem die Erzählweise nicht so gut gefällt, mir nämlich auch nicht.
Ich habe den Eindruck, dass das gesamte Buch Aufzeichnungen sind adressiert an die Liebste Vera, die immer wieder auch persönlich angesprochen wird.
Ich glaube auch, dass das so ist, sein Tagebuch, aber an sie adressiert. Was mich auch gestört hat: er ist nach tagelangem Zögern und Warten auf Vera doch nach Charkow (Charkiw) geflüchtet. Und was ist mit ihr geworden? Aber vielleicht kommt das ja noch.
Der Erzählstil lässt bei mir noch keine Leselust aufkommen. Ich hadere. Ich kann den Erzähler nicht richtig ernst nehmen. Er nimmt sich selbst nicht ernst. Würde man in einer solchen Situation witzeln oder blöde Rückfragen stellen? Nur, wenn einem das Leben nichts mehr wert ist, behaupte ich.
Ich hadere auch und meine Lust zu lesen hält sich in Grenzen. Ob man in solch' einer Situation witzeln und sich so souverän verhalten würde wie Nesterenko wage ich zu bezweifeln. Aber wer weiß? Nach dem, was er alles gesehen und erlebt hat? Vielleicht ist eine mögliche Reaktion, zynisch zu werden.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Da wäre ein Glossar erforderlich gewesen oder eine kurze Anmerkung.
Das stimmt! Ich habe gegoogelt und mir Notizen gemacht. Ein Glossar wäre weit leserfreundlicher gewesen.
diese mir uneinheitlich vorkommende Art, über die Schrecken der damaligen Zeit zu berichten,
Uneinheitlich. Stimmt auch. Ein Lesefluss kommt nicht in Gang. Das Buch hat etwas von Arbeit. (Einen süffigen Roman habe ich allerdings nicht erwartet.) Mich stört primär der zynisch-sarkastische Ton, den ich einem Gefangenen in diesem System und unter den dargelegten Bedingungen nicht abkaufe. Das hat was vom Schelmenroman: der umtriebige Held, der überall durchkommt und weder sich noch andere ganz ernst nimmt.
Erstaunlich. Unglaubwürdig?
Genau. So geht es mir.
Da kommt es mir so vor, als ob Filipenko das Material, das er von Memorial erhalten hat, hier hineinflickt.
Das könnte die Ursache sein. Er hat ja die Protokolle bekommen. Das einfachste ist es, sie in dieselbe Form zu übertragen.

Nein. Ganz glücklich bin ich auch noch nicht mit dem Buch.
 

otegami

Bekanntes Mitglied
17. Dezember 2021
1.891
6.576
49
71
Ich bin noch mittendrin und bin heilfroh, dass ich davor 'Rote Sirenen' gelesen habe. Das erleichtert mir sehr dieses Buch! Dadurch habe ich auch Verständnis, warum N. (in unseren Augen) teilweise so 'flapsig' reagiert.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Dieser letzte Satz bietet Diskussionspotenzial...
Traurige Wahrheit. Es vergeht gerade kein Tag, an dem ich nicht an die vielen hoffnungsvollen jungen Männer denke, die gerade in der Ukraine getötet oder verkrüppelt werden...
Das Ausmaß wird erst hinterher bekannt werden. So sinnlos, dieses Töten! Ich hatte wirklich gedacht, dass gerade wir Kontinentaleuropäer (Russland inklusive) aus den beiden großen Kriegen gelernt hätten:sad
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Und warum? Weil es die einzige Art ist, wie er damit umgehen kann ohne unterzugehen?
Wenn das der Grund ist, bringt er mich kein Stück weiter. Das erinnert mich an Mo Yans "Frösche"- ein Buch, das ich ganz fürchterlich fand, weil der Erzähler die brutalsten Dinge im lustig- sarkastischen Plauderton erzählte...
Auf mich wirkt das komplett unglaubwürdig. Es verfängt nicht, ich bekomme keine Empathie zu den Figuren. Wie soll ich etwas ernst nehmen, worüber N. selbst Scherze macht? Damit meine ich nicht die Details der Leichenverbrennung. Das ist für ihn Routine, Leichen sind tote Masse.
 

Federfee

Bekanntes Mitglied
13. Januar 2023
2.167
8.984
49
Es vergeht gerade kein Tag, an dem ich nicht an die vielen hoffnungsvollen jungen Männer denke, die gerade in der Ukraine getötet oder verkrüppelt werden...
Das Ausmaß wird erst hinterher bekannt werden. So sinnlos, dieses Töten! Ich hatte wirklich gedacht, dass gerade wir Kontinentaleuropäer (Russland inklusive) aus den beiden großen Kriegen gelernt hätten
Ich denke auch jeden Tag daran, auch wenn ich versuche, mir keine Einzelheiten auszumalen. Aber manche Bilder muss ich mit Gewalt verdrängen.
Inzwischen zweifle ich daran, ob die Menschen jemals lernen :sad
Und was wir in West-Europa 'gelernt' haben, scheint ja falsch und naiv gewesen zu sein.
 

otegami

Bekanntes Mitglied
17. Dezember 2021
1.891
6.576
49
71
Kannst du uns das nicht schon mal vorab erklären:p?
Würde das Weiterlesen vielleicht erleichtern, ein bisschen Verständnis.
In 'Rote Sirenen' kann die Protagonistin/Autorin nach langer Recherche die Akte ihres Großonkels lesen (also nach 2014!), in der die Protokolle seiner Verhöre (1937!) stehen. Ich hatte schon in früheren Büchern gelesen, dass diese Verhöre brutal waren, aber in 'Rote Sirenen' stellten sich mir die Nackenhaare auf und ich konnte vieles nur noch in kleinen Happen verarbeiten. (Darum habe ich in meiner Rezi auch empfindsame Gemüter vor diesem Buch gewarnt!
Und warum? Weil es die einzige Art ist, wie er damit umgehen kann ohne unterzugehen?
Genau!!!!! Jeder Mensch geht mit einer Krise anders um! Und das ist die Art von N.! (Und ich kann sie nachvollziehen! ;) )
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Und das ist die Art von N.! (Und ich kann sie nachvollziehen! ;) )
Sei froh, dass du das kannst!
Aber hat nicht JEDER halbwegs gesunde Mensch Angst vor Folter? Würde man nicht versuchen, den Verhörer nicht unnötig zu verärgern? N.s Glück ist, dass jener ebenso abgestumpft ist wie er selbst. Bis jetzt bellt er nur und beißt noch nicht.
(Bei Mo Yan habe ich es mir damit erklärt, dass er die Brutalität der Kulturrevolution in sanftes Licht getaucht hat, um nicht in Ungnade zu fallen. Filipenko lebt bereits in der Schweiz. Ihm kann es egal sein.)
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Da sich dieser "Punkt" aber an mich selbst richtet (es interessiert nicht mein Verhalten, sondern das des Protas) , kann er nach außen kaum überheblich wirken. Hoffe ich wenigstens.
 
  • Like
Reaktionen: Renie und Emswashed