Wie Großvater den Krieg verlor

Buchseite und Rezensionen zu 'Wie Großvater den Krieg verlor' von Gerdt Fehrle
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Wie Großvater den Krieg verlor"

Ein 5-jähriger Knabe, seine Großväter, lange gemeinsame Spaziergänge: Detailliert schildern die beiden Ottos dem Nachkömmling ihre Erinnerungen. An die eigene Kindheit und Jugend, die Familie, an Mama und Papa, die damals noch klein waren. Und an den Krieg. Diese Erinnerungen zum Teil belustigend, zum Teil grausam brennen sich in das Gehirn des Knaben. Und verwandeln sich dort in ein ganz eigenes, kinoformatiges Epos. Wie Großvater den Krieg verlor beschreibt aus ganz persönlicher Perspektive den Kosmos einer deutschen Großfamilie aus Schwaben vom Beginn des letzten Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre hinein. Authentisch, mitreißend und tragikomisch lenkt Gerdt Fehrle den Blick dabei auf die Verzweiflung und Verwundbarkeit, aber auch auf den Mut, den Humor und den Überlebenswillen all jener, die in der guten alten Zeit gelebt und die Grauen des Krieges miterlebt haben. Und selbst im Extremen dem Leben noch ein Stückchen Würde und Menschlichkeit abtrotzten. Fehrle zeigt deutlich, wie der Krieg das Leben von Menschen und Familien über Generationen hinweg verändert auch das der Kriegsenkel. Bis heute.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:356
Verlag: Louisoder
EAN:9783944153421

Rezensionen zu "Wie Großvater den Krieg verlor"

  1. 4
    02. Feb 2018 

    Familiengeschichten aus Deutschland

    Der Geschichtsunterricht in meiner Schulzeit war laaaangweilig. Mein Lehrer konnte mich leider nicht für Geschichte begeistern. Das macht sich jetzt, Jahre später, bemerkbar. Ich habe mit einigen geschichtlichen Wissenslücken zu kämpfen. Das ist mit ein Grund, warum ich gern zeitgeschichtliche Romane lese. Das, was mein Lehrer nicht geschafft hat, schafft so mancher Autor mit seinem Buch - wie auch Gerdt Fehrle mit seinem Roman "Wie Großvater den Krieg verlor".

    "Sie hießen beide Otto."

    Mit diesem Satz beginnt der Roman. Und die beiden Ottos sind die Großväter eines kleinen Jungen, dem sie Geschichten aus ihrem Leben erzählen - Geschichten, die die Familie betreffen und Geschichten, die Deutschland betreffen. Verheiratet sind die beiden Ottos mit zwei Gertruds, die ebenfalls ihren Beitrag zu den Geschichten für den Jungen leisten. Damit man die beiden Großelternpaare auseinanderhalten kann, gibt der Autor Gerdt Fehrle den Opas die Namen "Otto Nullacht" und "Otto Elf". Ihrem Namen nach sind die beiden 1908 bzw. 1911 auf die Welt gekommen. Doch die Geschichten, die die beiden ihrem Enkel erzählen, setzen bereits 1870 ein. Somit ergibt sich anhand der Erzählungen ein schillerndes Porträt von der damaligen Zeit bis hin in die 60er Jahre, inklusive zweier Weltkriege. Es sind in der Regel Familiengeschichten, also Geschichten, die über mehrere Generationen überliefert worden sind.

    "Das tat er am allerliebsten. Den Erwachsenen lauschen. Egal, was er zu hören bekam. Erinnerungen, Märchen, Lieder, Worte. Den tiefen, pastoralen Bass von Otto Nullacht, das hohe Fisteln von Otto Elf, den Spott, den beide Gertruds pflegten, auch sie so unterschiedlich, wie zwei Frauen ihrer Zeit nur unterschiedlich sein konnten, und doch in vielem ähnlich. Alles Gesprochene begeisterte den Knaben. Worte entführten ihn, trösteten ihn, halfen ihm. Die Geschichten der Großeltern öffenten ihm ein Fenster, unterbrachen die Stille, in der das Kind lebte, ohne es zu ahnen, füllten einen leeren Raum." (S. 20)

    Auch wenn es sich zunächst so anhört, ist dieser Roman jedoch keine reine Ansammlung von Erzählungen. Zwischen den Erzählungen findet Familienleben statt. Der Roman ist aus der Sicht des Jungen erzählt. Und der Leser bekommt eine Ahnung davon, welches Miteinander in dieser deutschen Familie herrschte.
    Der Junge verbringt scheinbar viel Zeit mit seinen Großeltern. Das Verhältnis scheint eher von Respekt als von Nähe und Zuneigung geprägt zu sein. Doch dieser Umstand scheint ein Merkmal für viele der Kriegsgenerationen zu sein. Gefühle wurden nicht gezeigt und waren ein Zeichen von Schwäche, was im Nachhinein den Eindruck der Gefühlskälte erweckt. Doch es sind die kleinen Dinge, die darauf hindeuten, dass zwischen Großeltern und Enkel doch eine enge Bindung vorhanden ist: das ist das Bonbon, das der Opa dem Jungen zusteckt, oder die Freude an gemeinsamen Spaziergängen, bei denen der Junge einen Großteil der Geschichten erzählt bekommt.
    Der Junge ist um die 5 Jahre alt. Wie die meisten Jungen seines Alters hat er viel Fantasie, so dass die Geschichten bei ihm bleibenden Eindruck hinterlassen und ihn beschäftigen. Teilweise kann er die Geschichten nicht verarbeiten, insbesondere wenn es Erzählungen sind, die für einen 5-Jährigen in gewissem Maße blutrünstig sind.

    "Der Knabe begriff nichts. Er verstand weder die Bedeutung des Wortes Jude noch die Aufregung, die die Erwachsenen ergriff, wenn davon die Rede war, noch, wie man von etwas sprechen und Geschichten erzählen konnte, wovon man doch eigentlich überhaupt nichts wusste. Das alles war seltsam, und da die Geschichten, die mit diesem Wort zu tun hatten, immer traurig waren oder verkrampft klangen, und weil alle Menschen um ihn herum schlechte Laune, rote Köpfe und diesen komischen Blick bekamen, wenn von diesem Wort die Rede war, mochte er sie gar nicht hören." (S. 236)

    Der Junge hat keinen Namen. Gerdt Fehrle bezeichnet ihn als den "Knaben", was den Anschein von Anonymität erweckt. Doch betrachtet man die gesamten Charaktere dieses Romans mit ihren Allerweltsnamen wie Otto und Gertrud, stellt man fest, dass die Familie stellvertretend für viele andere Familien in Deutschland steht. In jeder Familie werden Geschichten überliefert. Und ich gestehe, auch wenn nicht alle Geschichten in diesem Roman schön sind, haben ich beim Lesen doch ein gewisses Maß an Geborgenheit empfunden, fühlte ich mich doch sehr an meine eigene Kindheit und meine Großeltern erinnert (die aber weder Otto noch Gertrud hießen ;-)). Auch wenn meine Großeltern schon vor vielen Jahren gestorben sind, sind mir ihre Geschichten immer noch präsent, und ich ertappe mich immer wieder gern dabei, dass ich diese Geschichten meinem Sohn weitererzähle.

    Der Sprachstil:
    Mir hat der poetische Sprachstil von Gerdt Fehrle sehr gut gefallen. Denn die Sprache vermittelt in diesem Roman sowohl Ruhe als auch Seelenwärme, zwei angenehme Begriffe, die man mit Geschichten, die Großeltern ihren Enkeln erzählen, gern verbindet.

    Leichte Schwierigkeiten hatte ich jedoch mit einem anderen Aspekt des Sprachstils.
    Gerdt Fehrle wurde in Stuttgart geboren und hat sein Leben - genau wie die Familie in seinem Roman - südlich des Weißwurstäquators verbracht, womit ich die Mainlinie meine. Das merkt man dem Sprachstil stellenweise unweigerlich an. Denn Gerdt Fehrle lässt die Großeltern in ihrem Dialekt reden. Dadurch bin ich häufig an die Grenzen meiner fremdspachlichen Fähigkeiten gelangt. Für mich, die nördlich des Weißwurstäquators lebt, ist Schwäbisch (ich glaube, dass es Schwäbisch ist) eine echte Herausforderung. Netterweise wird bei einigen wörtlichen Reden die Übersetzung im Nachsatz gleich mitgeliefert. Das ist jedoch nicht der Regelfall.
    Letztendlich jammere ich jedoch auf hohem Niveau, denn die Sätze im Dialekt beeinträchtigen das Gesamtverständnis für den Roman in keiner Weise.

    "'Oddo hair uff', bat sie. Denn ihr reichte es ohnehin. In ihr stieg wieder diese blanke Wut auf, die sie immer verspürte, wenn Otto zu großspurig wurde, zu laut, zu selbstgefällig, diese stumme Wut, die sie von innen heraus vergiftete, ihr Herz angriff und sie eines Tages töten würde." (S. 83)

    Fazit:
    Ein beeindruckender Roman über deutsche Geschichte und die großen und kleinen Dramen in einer Großfamilie, der viele Leser an die eigenen Familiengeschichten erinnern wird. Leseempfehlung!

    © Renie