Fräulein Nettes kurzer Sommer: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Fräulein Nettes kurzer Sommer: Roman' von Karen Duve
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Fräulein Nettes kurzer Sommer: Roman"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:592
EAN:9783462054187

Rezensionen zu "Fräulein Nettes kurzer Sommer: Roman"

  1. 5
    23. Feb 2023 

    Strickstrumpf, Gebetbuch, vornehme Bescheidenheit

    Mit Karen Duves Roman “Fräulein Nettes kurzer Sommer“ tauchen wir ein in das Leben einer adligen Familie in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts und bewegen uns mit den Mitgliedern dieser Familie und deren Freunden durch das ländliche Westfalen und in die „Großstädte“ Göttingen und Kassel.
    Karen Duve versucht in diesem Buch, den Geist dieser Zeit sehr genau einzufangen und in seinen Auswirkungen auf die Mitglieder der Familie darzustellen. Für die Männer heißt das vor allem: sich den männlichen Vergnügungen von sich Betrinken, Rauchen und Burschenschaftsregeln hinzugeben, bevor dann irgendwann die Pflicht ansteht, einer Familie und einem Besitztum vorzustehen. Für die Frauen heißt das vor allem: ein Verharren in der Damenwelt, im Zurückstehen, im Nicht-Einmischen in die Herrenwelt, d.h. am besten: keine Meinung zu irgendetwas haben, und wenn doch, dann am besten diese niemals äußern, vor allem nicht in Anwesenheit von Männern, die sich von einer Frauenmeinung einfach nur in die Ecke gedrängt fühlen würden. Dabei gibt es im Frauenleben nur ein wirklich wichtiges Ziel: die Heirat mit einem standesgemäßen Mann, auf den man aber einfach zu warten hat, ohne selbst in irgendeiner Form das Heft des Handelns in die Hand nehmen zu dürfen.
    Diese nicht nur für uns heutige Leser unglaublichen Frauen- und Männerrollen sind Grundlage dieser Gesellschaft, die so nicht wirklich überlebenstauglich erscheinen kann.
    Unglaublich ist diese Rollenverteilung auch für Fräulein Nette, die als Teil der adligen Familie sozusagen das „schwarze Schaf“ ist, das allüberall aneckt und treffsicher gegen all die Regeln verstößt. Fräulein Nette ist aber nicht irgendwer, sondern die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, die ihre dichterischen Ambitionen gegen die Gesellschaft, Familie und das in ihnen vorherrschende Frauenbild durchsetzen muss und die auf der Suche nach ihrem Platz in der Familie und Gesellschaft nur allzu oft das Heft des Handelns selbst in die Hand nimmt und sich damit als heiratsfähige Frau komplett ins Abseits bugsiert. Auch ihre große Liebe, der Dichter Straube, weiß letztlich nicht mit ihrem Handeln umzugehen und lässt die Chancen auf eine menschliche und dichterisch stimmige Beziehung deshalb verstreichen.
    Karen Duve berichtet von den Begegnungen der Familie auf anstrengenden Reisen durch die westfälische Landschaft und Treffen in den Herrenhäusern der Familie auf eine etwas sperrige Art und Weise, die die Lektüre nicht immer leicht und flüssig macht, die aber genau abgestimmt scheint zu den sperrigen Gesellschaftsregeln dieser Menschen. Oftmals hätte ich fast laut aufgeschrien bei der Lektüre über die Art, welchen Vorurteilen und Regeln Frauen sich gegenüber gestellt sahen. Da wird gehadert darüber, „wieviel Geist bei einer Frau noch akzeptabel“ sei. Und doch ist da ein Aufflammen, ein Zweifeln, ob das reine Frauenbild denn wirklich das sein könne, was für Männer das richtige ist. Annette, die Außenseiterin, die Rebellin in dieser Familie, gibt dazu immer wieder Anlass und bringt so alle Gewissheiten und Klarheiten ins Wanken
    „ Auch Ludowine verstand die Welt nicht mehr. Strickstrumpf, Gebetbuch, vornehme Bescheidenheit und ein angenehmes Äußeres – das waren die unabdingbaren Voraussetzungen, um einen Mann an sich zu binden. Und Nette machte alles falsch, eckte überall an (…..) Und trotzdem …“
    So schildert Karen Duve eine Welt, aus der man/frau eigentlich nur weglaufen möchte. Und verbindet das mit einem großartigen Schriftstellerinnenportrait über Annette von Droste-Hülshoff, zu der die Anerkennung der Leser angesichts ihres Werkes durch die Lektüre nur deutlich wachsen kann, wenn man erkennen muss, unter welchen Bedingungen, mit welchem Hintergrund sie ihr Werk geschaffen hat.
    Bei der Lektüre stößt der Leser oftmals an die Grenzen von Wut und vollkommenem Unverständnis. Aber das macht auch den Sog und den Reiz des Buches aus! Es fordert den Leser heraus und verlangt ihm Stellung- und Anteilnahme ab, wo der Text bewusst sachlich, oftmals distanziert und geradezu unterkühlt daherkommt. Das ist schriftstellerisch meisterhaft gemacht und verdient für dieses Leseerlebnis 5 Sterne.

    Teilen