Blindfisch

Buchseite und Rezensionen zu 'Blindfisch' von Jim Knipfel
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Blindfisch"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:288
Verlag:
EAN:9783498035037

Rezensionen zu "Blindfisch"

  1. 4
    02. Jul 2021 

    Autobiografisches aus dem Leben eines langsam Erblindenden...

    Jim Knipfel ist der blinde Seher im modernen Gewand. Konfrontiert mit der unausweichlichen Wahrheit einer unheilbaren Krankheit, die ihm langsam das Augenlicht raubt, sieht er überall die Lüge. Die Lüge der einem blinden Gesundheitswahn verfallenden Gesellschaft, die der überforderten Eltern und Freunde, die der eloquenten, aber teilnahmslosen Therapeuten. Anstatt still zu leiden, reagiert Knipfel auf seine Weise. Er lacht über alles, schmeißt Ehe und Studium, zieht vom kleinbürgerlichen Wisconsin in einen Großstadtslum, treibt sich mit "Versagern" herum, stiehlt, säuft, schluckt Tabletten - ein junger Mann aus gutem Hause, auf der Überholspur ins Vergessen.

    Irgendwann erntdeckt er das Schreiben. Das Papier erträgt seine Wahrheiten; endlich kann er sie teilen. Mit schwarzem Humor, der von tiefster Sensibilität und Verletztlichkeit zeugt, aber keine Tabus respektiert, beschreibt er sein Leben, seine Angst, seine Hoffnung. "Blindfisch" ist das Gegenteil einer therapeutischen Krankengeschichte - es ist ein grotesker Aufschrei dessen, der hinter dem Schein, den er immer weniger zu sehen vermag, das wahre Sein erkennt...

    Erster Satz: "Meine Oma Myrt starb, als ich zwölf war." (S. 9)

    Ich kaufte das Buch seinerzeit, weil es in einer ihrer Literatursendungen von Elke Heidenreich empfohlen wurde. Und seitdem versauerte es bei mir sträflicherweise im Regal der ungelesenen Bücher, bis ein spontaner Entschluss mich nun endlich dazu greifen ließ. Elke Heidenreichs Tipps habe ich immer respektiert, jedoch oftmals auch festgestellt, dass ich die Begeisterung der bekannten Literaturkennerin nicht immer teilen konnte.

    Anfangs war ich auch bei diesem Buch skeptisch, denn autobiografische Selbsterfahrungsberichte von Menschen, die eine schwere Krankheit / ein hartes Schicksal zu meistern haben, können durchaus interessant sein, zeichnen sich oftmals aber auch durch ein gewisses Maß an Betroffenheitsäußerungen aus. Sicherlich verständlicherweise, aber mich schreckt das ehrlich gesagt oft eher ab.

    Doch Jim Knipfel ist anders. Seine langsame Erblindung (die unheilbare Erkrankung dahinter lautet Retinitis Pigmentosa und bewirkt eine zunehmende Zerstörung der Netzhautzellen) spielt im Laufe seines Lebens gezwungermaßen eine immer größere Rolle, ist aber nicht der alleinige Grund für seinen Hang zum Außenseitertum und Enfant Terrible.

    Episodenhaft und meist chronologisch schildert der Autor hier in Auszügen sein Leben von der Kindheit bis etwa zum 35. Lebensjahr, und rasch wird klar, dass neben regelmäßigen Augenarztbesuchen auch Aufenthalte in der Psychiatrie, Termine beim Neurologen, häufig wechselnde Aushilfsjobs, Alkohol und Zigaretten zu seinem Alltag gehören - Suizidversuche inklusive. Wer hier jetzt aber einen depressiven Sermon erwartet, der irrt.

    Schwarzer Humor, Situationskomik, Selbstironie, schonungslose Offenheit sich selbst gegenüber - aber auch gesellschaftskritische Anmerkungen (gerade im Hinblick auf die amerikanische Gesundheitspolitik) bilden hier das Grundgerüst für lesenswerte und durchaus auch unterhaltsame Einblicke in das Leben eines langsam Erblindenden, der sich eben nicht nur auf diese Erkrankung reduzieren lassen will.

    Jim Knipfel tut nicht viel dafür, von seiner Leserschaft gemocht zu werden. Hier ist vieles abstoßend und verstörend - seine Lebensweise, seine zeitweise Paranoia, die teilweisen grotesken Erlebnisse, sein Leben am Rande. Und doch blitzt immer wieder auch seine Sensibilität auf, hinter Sprüchen versteckt, seine Ängste lauern unter der Oberfläche, so dass der Mensch dahinter sichtbar wird, wenn auch oft nur angedeutet.

    Mit seinem ganz eigenen Humor lotst der Autor den Leser / die Leserin durch oftmals skurrile Episoden, die neben Sarkasmus auch auf Einsamkeit und Verzweiflung blicken lassen, dabei aber auch schwierige Ereignisse und Empfindungen meist recht stoisch schildern. Man muss nicht alles mögen, was man hier zu lesen bekommt - aber man lernt, den Menschen dahinter zu begreifen und letztlich auch zu respektieren.

    Ein überraschend anderes Buch mit einem liebenswert schrägen Sinn für Humor und einem scharfen Blick auf das eigene Schicksal wie auch auf die Gesellschaft. Fei von Sentimentalität und tiefschürfend zugleich...

    © Parden

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