Ein perfekt unperfekter Sturm der Leidenschaft
In einem Dorf der Haute-Provence zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt die junge Marie im Kreise ihrer Familie. In ihrer täglichen Arbeit hilft sie beim Sammeln von Oliven und Mandeln und bei der Herstellung von Öl. Zuhause kümmert sie sich liebevoll um ihre kleineren Geschwister. Als sie den Müllersgehilfen Olivier Roure kennenlernt, spürt sie sofort eine besondere Verbindung zwischen sich und dem jungen Mann. Bei einem gemeinsamen Ausflug kommen sich die beiden näher. Doch, was Marie nicht weiß: Olivier ist bereits einer anderen versprochen...
Als die Übersetzerin Amelie Thoma bei einem Sommerurlaub in der Provence eher zufällig auf Maria Borrélys (1890 - 1963) kleinen Roman "Sous le vent" aus dem Jahre 1929 stieß, machte sie sich "auf eine ländlich-pittoreske Erzählung gefasst". So erfahren wir es im ausführlichen und informativen Nachwort des jüngst im Kanon Verlag als deutsche Neuübersetzung erschienenen "Mistral". Doch, was sie entdeckte, war "ein echtes literarisches Kleinod", das ausgerechnet in jenem Dorf spielte, in dem sie sich gerade befand. Ein Glücksgriff, auch für die deutsche Leserschaft. Denn "Mistral" ist tatsächlich in jeder Hinsicht eine Überraschung.
Ein unglücklich verliebtes junges Mädchen, ein Wetterphänomen im Titel und eine Frau als Urheberin. Wer jetzt an Emily Brontës "Sturmhöhe" denken mag, liegt nicht ganz falsch, da es durchaus Parallelen zwischen den Beziehungen Cathy/Heathcliff und Marie/Olivier gibt. Allerdings ist Olivier eher eine Art Anti-Heathcliff. Denn während der emotionale "Sturmhöhe"-Bösewicht selbst wie ein Orkan durch die Wuthering Heights fegte, entpuppt sich Olivier als laues Lüftchen, der die Liebesbotschaft seiner Verehrerin kurzerhand zerreißt. Die Naturbeschreibungen Maria Borrélys übertreffen diejenigen Emily Brontës hingegen sogar noch um ein Vielfaches. Womit wir auch schon bei der großen Stärke von "Mistral" angekommen sind. Tatsächlich entpuppt sich der Roman als regelrechte Sprachgewalt. Ob nun der Titelheld oder seine Schwester, die Montagnère, ob die Hitze des Sommers oder die eiskalten Fallwinde - Maria Borrély ist eine Meisterin des Nature Writing, das es damals so allerdings noch gar nicht gab. Auf nahezu jeder Seite zischt und grollt es und man ist als Leser geneigt, zu überprüfen, ob der Hut noch sitzt. Wenn man denn beim Lesen einen trägt. Allein diese Beschreibungen machen aus "Mistral" ein überwältigendes Ereignis, das ich in dieser Art noch nicht kennengelernt habe. Allenfalls Lafcadio Hearns "Chita" mag diesbezüglich in seinem eindringlichen ersten Teil mithalten können, oder ansatzweise Irene Solàs "Singe ich, tanzen die Berge". Wobei Maria Borrély im Vergleich zur Katalanin glücklicherweise auf zu viel Lautmalerei verzichtet.
Eine weitere Qualität von "Mistral" ist die völlig unkonventionelle Erzählstruktur. Wahrscheinlich würden heutzutage jedes Lektorat und jedes Korrektorat die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Denn Maria Borrély scheint sich um literarische Konventionen überhaupt nicht zu scheren. Da wird in den Zeiten hin- und hergewirbelt, als hätte hier der Mistral selbst seine Hände im Spiel. Vom Präsens ins Präteritum und wieder zurück, manchmal innerhalb eines Absatzes. Eine kleine Brise Perfekt darf natürlich auch nicht fehlen. Das ist einerseits gerade zu Beginn anstrengend, doch andererseits auch herrlich erfrischend und eben anders. "Eigentümlich", wie es Literatur-Nobelpreisträger André Gide formulierte, der übrigens einen erheblichen Anteil daran hatte, dass "Sous le vent" 1930 bei Gallimard erscheinen durfte. "Merkwürdig und seltsam" würde sicherlich auch passen. Oder auch perfekt unperfekt und dabei voller Leidenschaft.
Wenn man "Mistral" kritisieren möchte, bietet der Roman durchaus Angriffspunkte. Die Figuren bleiben mit einer noch zu erwähnenden Ausnahme eher blass. Die poetischen Vergleiche Borrélys passen nicht immer, sie gleiten manchmal ins Schwülstige ab und werden zu häufig eingesetzt. Auf der Handlungsebene passiert über weite Strecken verhältnismäßig wenig. Nur störte mich all dies mit zunehmender Dauer überhaupt nicht mehr, da es "Mistral" irgendwann und klammheimlich gelang, mich komplett für das Werk und die Autorin einzunehmen. Fast so, als hätte ein besonders gewaltiger Sturm irgendwann eine nicht mehr zu durchdringende Staubschicht auf diese Kritikpunkte gelegt.
Neben der wirklich wundervollen - und sicherlich nicht einfachen - Übersetzung von Amelie Thoma möchte ich abschließend noch die wohl stärkste Figur des Romans vorstellen. Es handelt sich dabei um den fast 80-jährigen Moisson, Maries Großonkel, dem zwar nur wenige Auftritte gestattet werden, die dafür aber umso erstaunlicher sind. Denn dieser Moisson spricht nicht nur wie ein biblischer Prophet, er scheint auch einer zu sein. Moisson klagt in einer kurzen Zornesrede die Menschheit an, zu wenig für den Umweltschutz und das Tierwohl zu tun. In einem Roman, der fast 100 Jahre alt ist. Das ist nahezu unglaublich und genial, denn seine Ausführungen sind von so erschreckender Aktualität, dass ich mich erst einmal vergewissern musste, ob sich beim Jahr der Erstveröffentlichung nicht doch irgendwo ein Zahlendreher eingeschlichen hat...
"Man kann nicht über die Gefühle sprechen wie über das Wetter oder die Mandeln", schreibt Borrély auf Seite 92 und dieser kurze Satz ist vielleicht derjenige, der "Mistral" eindrücklich und am besten zusammenfasst. Dem Kanon Verlag und Amelie Thoma wünsche ich, dass "Mistral" so viel Aufmerksamkeit bekommt, wie es der Roman verdient. Damit auch die deutschsprachige Leserschaft vielleicht noch in den Genuss weiterer Werke von Maria Borrély kommt.
In einem Dorf der Haute-Provence zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt die junge Marie im Kreise ihrer Familie. In ihrer täglichen Arbeit hilft sie beim Sammeln von Oliven und Mandeln und bei der Herstellung von Öl. Zuhause kümmert sie sich liebevoll um ihre kleineren Geschwister. Als sie den Müllersgehilfen Olivier Roure kennenlernt, spürt sie sofort eine besondere Verbindung zwischen sich und dem jungen Mann. Bei einem gemeinsamen Ausflug kommen sich die beiden näher. Doch, was Marie nicht weiß: Olivier ist bereits einer anderen versprochen...
Als die Übersetzerin Amelie Thoma bei einem Sommerurlaub in der Provence eher zufällig auf Maria Borrélys (1890 - 1963) kleinen Roman "Sous le vent" aus dem Jahre 1929 stieß, machte sie sich "auf eine ländlich-pittoreske Erzählung gefasst". So erfahren wir es im ausführlichen und informativen Nachwort des jüngst im Kanon Verlag als deutsche Neuübersetzung erschienenen "Mistral". Doch, was sie entdeckte, war "ein echtes literarisches Kleinod", das ausgerechnet in jenem Dorf spielte, in dem sie sich gerade befand. Ein Glücksgriff, auch für die deutsche Leserschaft. Denn "Mistral" ist tatsächlich in jeder Hinsicht eine Überraschung.
Ein unglücklich verliebtes junges Mädchen, ein Wetterphänomen im Titel und eine Frau als Urheberin. Wer jetzt an Emily Brontës "Sturmhöhe" denken mag, liegt nicht ganz falsch, da es durchaus Parallelen zwischen den Beziehungen Cathy/Heathcliff und Marie/Olivier gibt. Allerdings ist Olivier eher eine Art Anti-Heathcliff. Denn während der emotionale "Sturmhöhe"-Bösewicht selbst wie ein Orkan durch die Wuthering Heights fegte, entpuppt sich Olivier als laues Lüftchen, der die Liebesbotschaft seiner Verehrerin kurzerhand zerreißt. Die Naturbeschreibungen Maria Borrélys übertreffen diejenigen Emily Brontës hingegen sogar noch um ein Vielfaches. Womit wir auch schon bei der großen Stärke von "Mistral" angekommen sind. Tatsächlich entpuppt sich der Roman als regelrechte Sprachgewalt. Ob nun der Titelheld oder seine Schwester, die Montagnère, ob die Hitze des Sommers oder die eiskalten Fallwinde - Maria Borrély ist eine Meisterin des Nature Writing, das es damals so allerdings noch gar nicht gab. Auf nahezu jeder Seite zischt und grollt es und man ist als Leser geneigt, zu überprüfen, ob der Hut noch sitzt. Wenn man denn beim Lesen einen trägt. Allein diese Beschreibungen machen aus "Mistral" ein überwältigendes Ereignis, das ich in dieser Art noch nicht kennengelernt habe. Allenfalls Lafcadio Hearns "Chita" mag diesbezüglich in seinem eindringlichen ersten Teil mithalten können, oder ansatzweise Irene Solàs "Singe ich, tanzen die Berge". Wobei Maria Borrély im Vergleich zur Katalanin glücklicherweise auf zu viel Lautmalerei verzichtet.
Eine weitere Qualität von "Mistral" ist die völlig unkonventionelle Erzählstruktur. Wahrscheinlich würden heutzutage jedes Lektorat und jedes Korrektorat die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Denn Maria Borrély scheint sich um literarische Konventionen überhaupt nicht zu scheren. Da wird in den Zeiten hin- und hergewirbelt, als hätte hier der Mistral selbst seine Hände im Spiel. Vom Präsens ins Präteritum und wieder zurück, manchmal innerhalb eines Absatzes. Eine kleine Brise Perfekt darf natürlich auch nicht fehlen. Das ist einerseits gerade zu Beginn anstrengend, doch andererseits auch herrlich erfrischend und eben anders. "Eigentümlich", wie es Literatur-Nobelpreisträger André Gide formulierte, der übrigens einen erheblichen Anteil daran hatte, dass "Sous le vent" 1930 bei Gallimard erscheinen durfte. "Merkwürdig und seltsam" würde sicherlich auch passen. Oder auch perfekt unperfekt und dabei voller Leidenschaft.
Wenn man "Mistral" kritisieren möchte, bietet der Roman durchaus Angriffspunkte. Die Figuren bleiben mit einer noch zu erwähnenden Ausnahme eher blass. Die poetischen Vergleiche Borrélys passen nicht immer, sie gleiten manchmal ins Schwülstige ab und werden zu häufig eingesetzt. Auf der Handlungsebene passiert über weite Strecken verhältnismäßig wenig. Nur störte mich all dies mit zunehmender Dauer überhaupt nicht mehr, da es "Mistral" irgendwann und klammheimlich gelang, mich komplett für das Werk und die Autorin einzunehmen. Fast so, als hätte ein besonders gewaltiger Sturm irgendwann eine nicht mehr zu durchdringende Staubschicht auf diese Kritikpunkte gelegt.
Neben der wirklich wundervollen - und sicherlich nicht einfachen - Übersetzung von Amelie Thoma möchte ich abschließend noch die wohl stärkste Figur des Romans vorstellen. Es handelt sich dabei um den fast 80-jährigen Moisson, Maries Großonkel, dem zwar nur wenige Auftritte gestattet werden, die dafür aber umso erstaunlicher sind. Denn dieser Moisson spricht nicht nur wie ein biblischer Prophet, er scheint auch einer zu sein. Moisson klagt in einer kurzen Zornesrede die Menschheit an, zu wenig für den Umweltschutz und das Tierwohl zu tun. In einem Roman, der fast 100 Jahre alt ist. Das ist nahezu unglaublich und genial, denn seine Ausführungen sind von so erschreckender Aktualität, dass ich mich erst einmal vergewissern musste, ob sich beim Jahr der Erstveröffentlichung nicht doch irgendwo ein Zahlendreher eingeschlichen hat...
"Man kann nicht über die Gefühle sprechen wie über das Wetter oder die Mandeln", schreibt Borrély auf Seite 92 und dieser kurze Satz ist vielleicht derjenige, der "Mistral" eindrücklich und am besten zusammenfasst. Dem Kanon Verlag und Amelie Thoma wünsche ich, dass "Mistral" so viel Aufmerksamkeit bekommt, wie es der Roman verdient. Damit auch die deutschsprachige Leserschaft vielleicht noch in den Genuss weiterer Werke von Maria Borrély kommt.