Raubfischen: Roman

Rezensionen zu "Raubfischen: Roman"

  1. Abschied

    "Kein Mensch ist vor den Momenten sicher, in denen sich alles von Grund auf ändert und das eigene Leben plötzlich in anderen Bahnen verläuft als erhofft." (Matthias Jügler: Die Verlassenen. Penguin 2021, S. 27)

    Dieses Zitat aus dem zweiten Roman von Matthias Jügler, "Die Verlassenen", passt ebenso gut zu "Raubfischen", seinem Debüt aus dem Jahr 2015. Es trifft auf den Ich-Erzähler Daniel und seine Familie zu, als er an seinem 16. Geburtstag von der Diagnose seines Großvaters Hannes erfährt: ALS, eine schwere, unheilbare Erkrankung des motorischen Nervensystems, bei der die Patienten schubweise die Kontrolle über ihren Körper verlieren und nach wenigen Jahren versterben:

    "An diesem Tag beginnen wir mit den Lügen. Keine Angst. Es wird wieder gut werden." (S. 15)

    Eine besondere Großvater-Enkel-Beziehung
    Schon bevor die Merseburger Großeltern 1993 eine Hütte in der schwedischen Provinz Västergötland unweit von Gislaved am Tostaholmen kauften, nahm der Großvater den kleinen Daniel zum Angeln mit, eine Leidenschaft, die die beiden bald verband. Es folgten gemeinsame Angelurlaube in Schweden, jäh unterbrochen, als Daniel das strikte, für ihn unverständliche Redeverbot mit den Nachbarn Åke Mortensson und seinem Sohn Henrik brach:

    "Ich müsste Erklärungen einfordern. Der Tag auf dem Eis. Das Redeverbot, das ich seitdem strikt befolge. Warum soll ich mit niemandem hier mehr reden?" (S. 23)

    Die besondere Verbindung zwischen Großvater und Enkel scheint zerstört – bis zu jenem 16. Geburtstag. Doch nun tritt etwas Neues in die Beziehung, heimliches Beobachten, die Suche nach Krankheitszeichen, Sanftheit, kostbare Tage, Hoffnung, Angst, schließlich Ernüchterung:

    "Ich habe das Vertrauen verloren. Das Vertrauen darin, dass er dieser Krankheit die kalte Schulter zeigt." (S. 68)

    Aufgeben aber will und kann Daniel nicht. Während die Ehe seiner Eltern über der Krankheit zerbricht, möchte er den letzten Wunsch seines Großvaters erfüllen:

    "Als er noch mit dem Stift schreiben konnte, und später, als er auf dem Sprachcomputer schrieb, gab er mir zu verstehen, was er wollte: Nach Schweden fahren." (S. 119)

    Ein Autor mit eigenem Ton
    2021 habe ich "Die Verlassenen" eher zufällig, aber mit umso mehr Begeisterung gelesen, und war nun sehr gespannt auf das sechs Jahr zuvor erschienene Debüt von Matthias Jügler. Zu meiner großen Freude kam mir der Ton des Buches sofort vertraut vor. Die klare Sprache, die kurzen, auf das Notwendigste reduzierten Sätze, die skandinavisch anmutende Melancholie, die Andeutungen mit dem Spielraum für Fantasie und die überaus kunstvolle Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit sind auch hier vorzüglich gelungen. Man muss kein Angelenthusiast oder Spezialist für Hechte, Barsche, Karauschen und Plötzen sein, um diese bewegende, so ruhig und sensibel erzählte Geschichte mit der besonderen Großvater-Enkel-Verbundenheit, der traurigen Krankheitschronologie, dem Geheimnis um ein altes Zerwürfnis und der Liebe zu einem schwedischen See großartig zu finden.

    Bei aller Trauer über den bevorstehenden Abschied stimmt der Blick in die Zukunft auch hoffnungsvoll:

    "Henrik sagt etwas. […] dass er glaube, wir zwei, wir könnten später, wenn mir die Hütte tatsächlich mal gehöre, gute Nachbarn werden. »Ja«, rufe ich, «ja, warum nicht.«" (S. 203)

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