FAZIT zu "Nachleben"

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Bitte gebt uns ein Fazit in ein paar spontanen Sätzen.
 

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.273
10.719
49
Thüringen
Ich musste den Roman noch etwas sacken lassen, bevor ich mich an ein Fazit wage. Das finde ich hier besonders schwierig, da ich mit Fingerspitzengefühl an die Thematik herangehen möchte. Denn eindeutig ist es verdammt wichtig, dass Autoren und Bücher von Autoren in den Blickpunkt gerückt werden, die aus der Sichtweise der Koloniesierten erzählen. Durch "Nachleben" habe ich definitiv etwas über die zunächst deutsche und später britische Besatzungsmacht in Ost-Afrika gelernt. Aber das Gelesene fühlte sich nicht so tief und eindringlich für mich an, wie ich das aus anderen aktuellen Veröffentlichungen besonders jüngerer afrikanischer Autor:innen kenne. Viele Passagen wirkten sehr nüchtern, lehrbuchhaft. Die im Roman erzählte Geschichte war keine schlechte, aber konnte mich erzählerisch auch nie so richtig berühren. Der Schreibstil ist recht einfach gehalten und passte für mich nicht. Wie schon im ersten LA erwähnt, würde für mich persönlich ein Autor, der den Nobelpreis erhalten hat, das Kriterium erfüllen, dass er mit seinen Büchern eine Symbiose aus gekonnter literarischer Form und wichtigem Inhalt schafft. Das wichtige historische Thema erkenne ich hier definitiv an, aber die literarische Form fehlt mir zu sehr.
Worüber ich noch nachdenken musste und was mir ganz gut gefällt ist der Titel des Buches. Ich bleibe mal beim englischen Original: "Afterlives". Da steckt das vielschichtige Wort für das Leben nach dem Tod drin. Hier wandelt der Autor das aber ab und es geht - meines Erachtens - um das Leben nach dem Krieg. Sowohl für Hamza als auch Ilyas, von dem wir über weite Strecken im Roman nichts erfahren. Diese Idee finde ich gekonnt durch den Titel illustriert. Nur leider gefiel es mir einfach nicht sonderlich gut, dass uns das "Nachleben" von Ilyas zum Schluss so vor die Füße geworfen wurde. Ein hypothetisches Buch, was sein "Nachleben" detailierter erzählt würde mich durchaus interessieren.

Insgesamt kommte ich auf 3,5 Sterne. Da wir ja durch die diversen Internetseiten angehalten werden, volle Sterne zu vergeben, muss ich hier aber dann leider abrunden. Mein Lektüreerlebnis war dafür zu wenig mitreißend und das Buch "fühlt" sich eher wie ein solides 3-Sterne-Buch an.
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.326
5.540
49
53
Mir hat der Roman über weite Teile sehr gut gefallen. Die Distanz, die ich anfänglich sowohl zu den Protagonist:innen als auch zum Geschehen verspürte, wich immer mehr. Die Figuren haben Tiefe, sind sehr lebendig (selbst die Nebenfiguren wie z.B. der alte Tischler). Ich habe nach der Lektüre eine gute Vorstellung über die damalige Zeit und was Akarisein bedeutete. Ich nehme zahlreiche lebendige Bilder über das Alltagsleben in Ostafrika mit.
Lediglich das Ende war mir zu gehetzt erzählt - und so genau weiß ich noch nicht, wie ich diesen abrupten Abschnitt über Ilyas den 1. einordnen soll.
Vermutlich werden es bei mir solide 4 Sterne. Falls mich jemand vom Sinn des Endes überzeugen kann, ist vielleicht noch ein weiterer Stern möglich ;)
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.326
5.540
49
53
Falls mich jemand vom Sinn des Endes überzeugen kann, ist vielleicht noch ein weiterer Stern möglich ;)
Inzwischen bin ich sehr froh darüber, dass es auch diesen letzten Abschnitt über beide Ilyas in Deutschland gibt. Das ist von Gurnah klug konstruiert, bereichert durch einen weiteren Blickwinkel und bringt etwas völlig Unvorhersehbares in den Roman. Trotzdem hätte ich mir dieses Ende weniger protokolarisch erzählt gewünscht, ebenso den Beginn. Deshalb bleibe ich bei guten vier Sternen.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.363
10.687
49
49
Inzwischen bin ich sehr froh darüber, dass es auch diesen letzten Abschnitt über beide Ilyas in Deutschland gibt. Das ist von Gurnah klug konstruiert, bereichert durch einen weiteren Blickwinkel und bringt etwas völlig Unvorhersehbares in den Roman. Trotzdem hätte ich mir dieses Ende weniger protokolarisch erzählt gewünscht, ebenso den Beginn. Deshalb bleibe ich bei guten vier Sternen.
Ich empfinde es gut so wie es war, denn am Ende wäre es in meinen Augen doch zu ausufernd geworden, wenn es ähnlich nah an den Charakteren gewesen wäre wie im Mittelteil. Es ist gut, dass wir erfahren haben, was mit dem älteren Ilya geschehen ist, ein Treffen oder eine Aussprache war ja leider gar nicht mehr möglich, nein, für mich passte es.
Aber da sieht man es mal wieder wie unterschiedlich die Wahrnehmung ist
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Nachtrag: Ich profitiere gerade noch sehr von euren Diskussionsbeiträgen in der LR und bin geneigt, doch eher aufzurunden statt abzurunden. Die Rezi steht als nächstes an; ich warte mal noch ein wenig die Diskussion ab. :helo
Finde ich prima, dass du die Diskussion abgewartet hast. Das ist der Vorteil an Leserunden: man lernt andere Sichten kennen, die die eigene Wahrnehmung ergänzen - mal zum Positiven, mal zum Negativen...
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.326
5.540
49
53
Finde ich prima, dass du die Diskussion abgewartet hast. Das ist der Vorteil an Leserunden: man lernt andere Sichten kennen, die die eigene Wahrnehmung ergänzen - mal zum Positiven, mal zum Negativen...
Stimmt. Je länger der Roman in mir gärt und je mehr ich eure Beiträge verfolge, umso beeindruckender finde ich, wie Gurnah uns diese Geschichte präsentiert und was alles darin steckt. Ich bin schon fast bei fünf Sternen.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.497
50.143
49
Ich bin sehr angetan von diesem Roman, der mich von Anfang bis Ende in seinen Bann gezogen hat. Gurnah besticht nicht durch einen super literarischen Stil, dafür aber durch eine wohl durchdachte Ausgewogenheit sowie eine gekonnte, vielschichtige Figurenzeichnung bis in die Nebencharaktere. Er verbindet das epische Geschichtenerzählen mit den harten Fakten. Das habe ich so noch nicht gelesen.

Auch das Ende ist für mich stimmig. Wie hätte man die Jahre von Ilyas' Abwesenheit anders skizzieren können, ohne ein neues Buch zu schreiben? Die gefundenen Daten bilden einen Zeitraffer ab. Meinem Leserseelchen hat es zudem gefallen, dass Hamza und Aliya ein erfülltes Leben miteinander haben durften. Noch mehr Schicksalsschläge brauchten die beiden nicht.

Positiv bewerte ich auch die fehlende Ausschmückung der Kriegsgreuel. Das Grauen, die Brutalität wurden nüchtern geschildert, ohne das "Blut zu zeigen". Dennoch war es trottdem fühlbar - ich denke, ihr versteht, was ich meine.

Ich werde mit ein bisschen Aufrunden auf 5 Sterne kommen. Ich finde das Thema enorm wichtig und die Umsetzung sehr gelungen. Ich hatte von diesem Roman weniger erwartet, weil "Das verlorene Paradies" bei einigen hier nicht so gut ankam.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.566
24.709
49
66
Mein Fazit fällt sehr positiv aus. Ohne Zögern vergebe ich hier 5 Sterne.
Mich hat das persönliche Schicksal der Protagonisten, das ich stellvertretend empfand für viele Afrikaner, sehr berührt, die eher sachlich vorgetragenen Informationen zur politischen und gesellschaftlichen Situation haben mein Historiker- Herz angesprochen ( hier brauche ich keine Emotionen, die Fakten sind erschreckend genug).
Ich fand auch den Wechsel im Erzähltempo angenehm und passend. Einzelne Episoden wurden herausgegriffen, episch erzählt, andere im Zeitraffer.
Gerade durch das überraschende Ende gewinnt der Roman eine weitere Dimension.
Ich möchte demnächst auch den dritten auf Deutsch erschienen Roman von Gurnah lesen. Eine Teilnehmerin meines Lesekreises hat ihn sehr gelobt.

 

Lesehorizont

Bekanntes Mitglied
29. März 2022
2.581
9.756
49
53
Mainz
Klarer 5 Sterne Fall ohne Wenn und Aber.
Ich halte den Roman für einen immens wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung auch von deutscher Kolonialgeschichte und den Dynamiken innerer Kolonialisierung in den kolonialisierten Ländern. Für mich ein absolut verdienter Nobelpreisträger. Ich fühle mich nun etwas versöhnt, dass O 'Thiongo, Anwärter seit einigen Jahren, bisher leer ausging. Die politischen Anliegen sind ähnlich, O 'Thiongo ist aber etwas "sperriger".
Ich bin froh, Gurnah nun endlich mal gelesen zu haben und es folgen ganz sicher weitere Werke aus seiner Feder.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.566
24.709
49
66

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.326
5.540
49
53
Hier ein sehr interessanter Beitrag zum Roman, mit Originalphotos und Aussagen des Autors.
Sehr interessant! In unserer LR kam auch die Frage nach den Quellen auf. Gurnah kannte tatsächlich noch Zeitzeugen und die Figur des Ilyas ist angelehnt an eine historische Persönlichkeit.
 

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
5.869
7.759
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Ich habe während der LR hier gelernt, dass auch ein Nobelpreisträger verständlich und klar schreiben kann ohne literarische Kapriolen, dass der Aufbau des Romans trotzdem etwas Besonderes hat (wechselnde Tempi, Verquickung der Kolonialgeschichte Ostafrikas und der Zeit danach mit einer Familiengeschichte, facettenreiche Figurenzeichnung, sachliche Darstellung der Fakten ohne Wertung). Die Chronik eines Weltgeschehens, das durchaus auch etwas Allgemeingültiges hat (Entwurzlung, Identitätssuche). Passagenweise empfand ich den Roman fast schon als spröde-sachlich, dennoch hat er mich schwer beeindruckt.
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.640
4.803
49
62
Essen
Die Lektüre des Romans war ein bisschen eine Achterbahnfahrt. Sprachlich auf der ganzen Strecke nicht das wirklich große Highlight, inhaltlich über einige Strecken verwirrend, da ich durch den Klappentext irritiert und auf eine falsche Spur gelenkt wurde. Von der Konstruktion her dann aber nur ein "sehr gut" verdienend. Wie die Geschichte von Ilyas "II." sich so plötzlich aber glaubwürdig aus der langen Familiensaga herausschält und den Bogen spannt zwischen Afrika und Europa, das fand ich einfach klasse und das hat die Lektüre zu einem Erlebnis gemacht.
Ich vermisse nur, dass der Verlag sich nicht etwas mehr Mühe gegeben hat, um uns die fremden Welten, in die wir hier im kolonialen Afrika eintauchen, etwas näher zu bringen. Sowohl ein Glossar als auch eine Karte der Gegenden, in denen wir uns hier bewegen, hätte das Leseerlebnis deutlich abgerundet.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.566
24.709
49
66
Sowohl ein Glossar als auch eine Karte der Gegenden, in denen wir uns hier bewegen, hätte das Leseerlebnis deutlich abgerundet.
Anstelle des Hinweises, dass im Text diskriminierende und stereotype Ausdrücke vorkommen.
Dem Verlag liegt daran, so sehe ich das, sehr schnell die Romane des Literaturnobelträgers zu veröffentlichen, bevor die Aufmerksamkeit wieder abgezogen wird. So wurde bei der Veröffentlichung des Romanes „ Das verlorene Paradies“ die Kritik laut, dass die alte Übersetzung einer Korrektur bedarft hätte vor seiner erneuten Veröffentlichung.
Ein Glossar und eine Karte verursachen zusätzliche Arbeit und Kosten.