In der Melville-Biographie von Andrew Delbanco, die mir vorliegt, heißt es zu der Geschichte: "Melvilles Darstellung des Anwalts (gemeint ist der Erzähler) in seiner Ratlosigkeit, wie er auf diese beschädigte Seele reagieren soll, ist (...) auch eine Betrachtung über eine bedeutende moralische Frage, die in den Jahren vor dem Bürgerkrieg in Amerika heftig diskutiert wurde: Wie kann man kollektive Verantwortung definieren in einer Zeit, in der das alte, auf Einzelfälle ausgerichtete Wohlfahrtssystem der Kirchen und anderer Organisationen nicht mehr mit der zunehmenden Zahl von Arbeitern und Familien fertig wird, die durch das Auf und Ab der industriellen Konjunktur in ausweglose Not geraten?" (....) "In <Bartleby, the Scrivener> verband Melville die radikale Erkenntnis, dass die bestehende gesellschaftliche Ordnung moralisch empörend und daher abzulehnen ist, mit der konservativen Einsicht, dass Sitten und Gebräuche etwas Kostbares und Zerbrechliches und daher zu bewahren sind."
Ich finde, die erfolglosen Hilfsangebote des Anwalts gehen sehr weit, etwa verglichen mit dem, was wir heute zu leisten für angemessen halten. Die meisten Menschen würden es nicht ablehnen, einem Bettler etwas in den Hut zu werfen, es aber von sich weisen, ihn mit nach Hause zu nehmen. Man soll das ja nicht mal machen - derzeit sind überall Warnungen zu lesen, man solle sich dreimal überlegen, ehe man etwa Flüchtlingen privat Obdach bietet. Es gibt da richtige Checklisten, die man abhaken soll, ehe man diesen Schritt tut. "Die Unterbringung von Flüchtlingen ist Sache des Staates" heißt es. Es ist politisch erwünscht, dass Verantwortungsgefühl quasi vergesellschaftet wird, was dem Einzelnen zwar die Last von den Schultern nimmt, gleichzeitig aber auf Kosten des natürlichen Gemeinschaftsgefühls geht.
Delbanco resümiert: "Die radikale Stimme in Melville sagt: Rette ihn, hilf ihm, nimm ihn als Kind Gottes in die Arme - und seine konservative Stimme sagt: Mehr kann ich nicht für ihn tun, und wenn ich ihm mein ganzes Leben widme, was wird dann aus den anderen, die auf mich angewiesen sind?"
Wie man sieht, setzt sich Delbanco mehr mit dem Erzähler auseinander als mit Bartleby selbst. Als ich die Erzählung vor vielen Jahren das erste Mal las, damals noch ohne jede Interpretationshilfe und literaturgeschichtliche Einordnung, fand ich Bartleby unglaublich "modern". Dieser passive Widerstand erinnert an Leute, die sich heute auf die Autobahn kleben. Heute glaube ich eher, dass dieser Widerstand keinem "Willen" entspringt, wie wir das aus der politischen Szene kennen, sondern einer zunehmenden Handlungsunfähigkeit. Vielleicht ist Bartleby depressiv und mit den Leuten vergleichbar, die es irgendwann nicht mal mehr aus dem Bett schaffen, weil die ganze Welt grau und suppig geworden ist. Melville hatte kein leichtes Leben, weil sowohl seine Frau als auch seine Herkunftsfamilie ständig mit neuen Ansprüchen an ihm hingen wie Blutegel. vielleicht hätte er sich manchmal gern ein wenig von Bartleby gewünscht und "Ich möchte lieber nicht!" gerufen.
Das Nachwort hat mir noch einmal einige Erkenntnis gebracht. Ich gestehe, dass Pessoa noch ungelesen hier liegt, sollte ich mir wohl endlich mal vornehmen.