FAZIT und Nachwort zu "Bartleby,..."

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie hat euch die Erzählung gefallen? Inwiefern war das Nachwort (S. 83 bis 101) hilfreich für das Verständnis? Bitte schreibt euer spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Über Bartleby kann man trefflich nachgrübeln. Was sind seine Intentionen? Warum erhält er sich nicht anders? Er erweckt nicht den Anschein, als ob es ihm gefällt, wie er sich verhält. Dann könnte man das ja noch verstehen. Müßiggang - so wie heute zum Beispiel: ein Buch, herrliches Wetter, leckeres Essen - ein Tag zum Genießen und morgen kommt noch einer. Aber Bartleby stellt sich mit dem Gesicht zur Wand und sagt nichts anderes als dass er das nicht möchte.
Das Nachwort ist gibt da nicht viel Auskunft, interessant fand ich, dass der Satz "I would prefer not to" unterschiedlich übersetzt wird und beim Suchen nach unserer Ausgabe waren sogar unterschiedliche Titel zu finden sind.
Ich kannte vorher nur Moby Dick und war überrascht von dieser Geschichte. Sie kommt mir zeitlos vor und damit sehr modern. Bartlebys sperriger Charakter wirft mehr Fragen als Antworten auf, dadurch bleibt er in Gedanken.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Mich hat die Erzählung insgesamt überrascht und begeistert. Die Entwicklung von einer feinsinnig-humoristisch erzählten Bürogemeinschaft hin zu einer tragischen Groteske halte ich für ebenso gelungen wie den einnehmenden und kurzweiligen Schreibstil.

Die Figur Bartleby ist rätselhaft, ihre Motive und ihr fehlender Antrieb laden trefflich zum Nachdenken ein. Die Erzählung ist für mich wie für @wal.li zeitlos und von hoher Aktualität. Heute würde sie in fast noch extremerer Art funktionieren, indem die Figur Gegenstand in den (sozialen) Medien werden und dort gefeiert und verteufelt werden könnte.

Das Nachwort fand ich im Hinblick auf den historischen Kontext und die verschiedenen Deutungen der Erzählung wertvoll.
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
In der Melville-Biographie von Andrew Delbanco, die mir vorliegt, heißt es zu der Geschichte: "Melvilles Darstellung des Anwalts (gemeint ist der Erzähler) in seiner Ratlosigkeit, wie er auf diese beschädigte Seele reagieren soll, ist (...) auch eine Betrachtung über eine bedeutende moralische Frage, die in den Jahren vor dem Bürgerkrieg in Amerika heftig diskutiert wurde: Wie kann man kollektive Verantwortung definieren in einer Zeit, in der das alte, auf Einzelfälle ausgerichtete Wohlfahrtssystem der Kirchen und anderer Organisationen nicht mehr mit der zunehmenden Zahl von Arbeitern und Familien fertig wird, die durch das Auf und Ab der industriellen Konjunktur in ausweglose Not geraten?" (....) "In <Bartleby, the Scrivener> verband Melville die radikale Erkenntnis, dass die bestehende gesellschaftliche Ordnung moralisch empörend und daher abzulehnen ist, mit der konservativen Einsicht, dass Sitten und Gebräuche etwas Kostbares und Zerbrechliches und daher zu bewahren sind."
Ich finde, die erfolglosen Hilfsangebote des Anwalts gehen sehr weit, etwa verglichen mit dem, was wir heute zu leisten für angemessen halten. Die meisten Menschen würden es nicht ablehnen, einem Bettler etwas in den Hut zu werfen, es aber von sich weisen, ihn mit nach Hause zu nehmen. Man soll das ja nicht mal machen - derzeit sind überall Warnungen zu lesen, man solle sich dreimal überlegen, ehe man etwa Flüchtlingen privat Obdach bietet. Es gibt da richtige Checklisten, die man abhaken soll, ehe man diesen Schritt tut. "Die Unterbringung von Flüchtlingen ist Sache des Staates" heißt es. Es ist politisch erwünscht, dass Verantwortungsgefühl quasi vergesellschaftet wird, was dem Einzelnen zwar die Last von den Schultern nimmt, gleichzeitig aber auf Kosten des natürlichen Gemeinschaftsgefühls geht.

Delbanco resümiert: "Die radikale Stimme in Melville sagt: Rette ihn, hilf ihm, nimm ihn als Kind Gottes in die Arme - und seine konservative Stimme sagt: Mehr kann ich nicht für ihn tun, und wenn ich ihm mein ganzes Leben widme, was wird dann aus den anderen, die auf mich angewiesen sind?"

Wie man sieht, setzt sich Delbanco mehr mit dem Erzähler auseinander als mit Bartleby selbst. Als ich die Erzählung vor vielen Jahren das erste Mal las, damals noch ohne jede Interpretationshilfe und literaturgeschichtliche Einordnung, fand ich Bartleby unglaublich "modern". Dieser passive Widerstand erinnert an Leute, die sich heute auf die Autobahn kleben. Heute glaube ich eher, dass dieser Widerstand keinem "Willen" entspringt, wie wir das aus der politischen Szene kennen, sondern einer zunehmenden Handlungsunfähigkeit. Vielleicht ist Bartleby depressiv und mit den Leuten vergleichbar, die es irgendwann nicht mal mehr aus dem Bett schaffen, weil die ganze Welt grau und suppig geworden ist. Melville hatte kein leichtes Leben, weil sowohl seine Frau als auch seine Herkunftsfamilie ständig mit neuen Ansprüchen an ihm hingen wie Blutegel. vielleicht hätte er sich manchmal gern ein wenig von Bartleby gewünscht und "Ich möchte lieber nicht!" gerufen.

Das Nachwort hat mir noch einmal einige Erkenntnis gebracht. Ich gestehe, dass Pessoa noch ungelesen hier liegt, sollte ich mir wohl endlich mal vornehmen.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Mir hat das Nachwort kaum neue Ideen gebracht, aber das macht nichts, da dieses kleine Büchlein in mir sehr viele verschiedene Denk und Sichtweisen hervorgerufen hat. Ich musste ständig überlegen warum Bartleby sich so verhält.
Ich denke, Melville wollte bewusst nicht nur eine Interpretation des ganzen, ihm war wahrscheinlich durchaus bewusst, dass jeder Mensch mit seinen eigenen Erfahrungen, Sorgen, Ängsten eine eigene Interpretation hervorbringt. Wobei der Grundkern, das der Schreibgehilfe überfordert war, sicher jedem einleuchtet, um die Feinheiten dürften unterschiedlich wahrgenommen und eingeschätzt werden.

Gerne mehr solcher Klassiker. Ich freue mich zwar immer einen zu lesen, doch oft bin ich am Ende frustriert, weil ich mit dem gelesenen doch nichts anfangen kann. Hier war es komplett anders.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Diese Leserunde hat mir eine kleine Perle der Weltliteratur eröffnet. Dank dafür! Wir lernen hier einen Charakter kennen, den man vielleicht nicht verstehen muss/kann, der aber eine Weltsicht repräsentiert, die in unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Intentionen heraus eine vollkommene Verweigerungshaltung abbildet und damit einen Charakter zeichnet, über den man verzweifeln mag, der aber gleichwohl nicht zu übersehen ist. Zu Melvilles Zeiten wohl genauso wenig wie zu unseren. Was macht man mit diesen Charakteren? Ja, dazu liefert Melville auch keine Antwort. Da ist er, da sind wir genauso hilflos wie es letztlich der Erzähler in "Bartleby" ist. Und dabei eine reichlich schlechte Figur abgibt.
Diese Erzählung war es wirklich wert, wieder mehr Aufmerksamkeit zu erhalten! Eine gute Wahl für die "Penguin Edition"!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie schön, dass ich durch die erfrischend gelbe Ausgabe der Penguin Edition in den Genuss dieser klassischen Erzählung gekommen bin. Sie beginnt relativ humorig, bekommt dann durch das Auftreten Bartlebys immer mehr Tiefe und Nachdenklichkeit. Sein stoisches "Ich möchte lieber nicht", wirkt auf höfliche Weise grotesk. Der arbeitgebende Erzähler wird diesem Mann nicht Herr, verzweifelt zunehmend, sucht Lösungen und entscheidet sich schließlich für die Flucht. Doch auch die misslingt. Bartleby lässt ihn nicht los...

Das Nachwort mit Einordnung und Skizzierung einiger Interpretationsansätze hat mich sehr bereichert. Ich halte es für gelungen.

Gerne hätte ich natürlich eine Auflösung erfahren, die Motive Bartlebys bleiben im Dunklen, er nimmt sie mit in den einsamen Tod.
Trotzdem kann man einer so gekonnt strukturierten und formulierten Erzählung nur 5 Sterne geben. Wie schade, daß Melville selbst ihren Erfolg nicht mehr erleben konnte!