Mehr als das

Buchseite und Rezensionen zu 'Mehr als das' von Patrick Ness
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mehr als das"

München (cbt), 2014, geb. m. SU, 509 S.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:512
Verlag: cbt
EAN:9783570162736

Rezensionen zu "Mehr als das"

  1. Jenseits der Genre-Grenzen

    Am Anfang steht das, was normalerweise das Ende wäre: der schonungslos geschilderte Tod des Protagonisten. Seth ertrinkt, doch bevor ihn Atemnot und Kälte töten können, zerschmettert das Meer seinen Körper an einem Felsen. Er stirbt. Er wacht wieder auf. An einem Ort, den er kennt und doch nicht kennt, vertraut und fremdartig zugleich. Denn er ist alleine. Ganz alleine. Keine Menschen, keine Tiere.

    Es fiel mir zunächst sehr schwer, das Buch einzuschätzen: Was lese ich hier überhaupt? Fantasy, Dystopie, Science Fiction, Drama? Die Antwort überrascht. Sie überschreitet Genregrenzen, auf Pfaden abseits jeder Vorhersehbarkeit, und wirft dabei eine Vielzahl von philosophischen Fragen auf. Worin liegt der Wert des Lebens, wie gehen wir mit unserer eigenen Vergänglichkeit um? Wo endet Verantwortung und beginnt Schuld? Und immer wieder: war das schon alles – oder gibt es doch noch mehr als das?

    Nach meiner anfänglichen Verwirrung war ich schnell fasziniert und vollkommen gefangen genommen von dieser originellen, außergewöhnlichen Geschichte. Ich teilte Seths Verwirrung und Ratlosigkeit in diesem albtraumhaften Szenarium und wollte unbedingt wissen, wie sich das alles auflösen würde. Die Art der Spannung wandelt sich im Laufe des Buches, denn es gibt bestürzende, grandiose, unerwartete Wendungen, die immer wieder alles verändern, der Spannungsbogen bleibt jedoch immer hoch.

    Seth ist intelligent, hat wenig Selbstwertgefühl und trägt viel mit sich herum: Vor neun Jahren ist seinem kleinen Bruder Owen etwas Schreckliches geschehen, was ihn für immer verändert hat und wofür die Eltern Seth die Schuld geben. Er ist schwul, sein Comingout war allerdings so unfreiwillig wie katastrophal. Er ist ängstlich, andererseits irgendwie auch mutig, wenn es darauf ankommt. Vor allem ist er glaubhaft und echt.

    Regine ist oft ruppig – aber auch mutig und entschlossen, für die Menschen, die ihr wichtig sind, bis zum Letzten zu kämpfen. So wie Seth nicht auf seine Homosexualität reduziert wird, wird Regine nicht auf ihre Hautfarbe reduziert: Seth ist schwul, Regine ist schwarz und beide sind auch noch viel mehr als das.

    Ihnen schließt sich der kleine altkluge Tomasz an, der die wildesten Geschichten erzählt, aber so fix um die Ecke denken kann, dass er die anderen mehr als einmal rettet. Er ist zutiefst emotional und dabei so loyal und liebenswert, dass es manchmal wehtut.

    Bevor Seth ertrank, hatte er einen Jungen, der für ihn das "mehr" in seinem Leben war. Ich möchte hier noch nicht verraten, wer es ist, aber ich fand die Liebesgeschichte unglaublich bewegend, gerade weil sie nicht unproblematisch ist.
    Der Schreibstil ist in meinen Augen phänomenal. Patrick Ness hat eine sehr prägnante literarische Stimme – mal beinahe poetisch, mal eher schlicht, aber immer ungewöhnlich und schwer zu beschreiben. Er folgt den Gedanken von Seth oft sehr direkt: Pausen, abbrechende Sätze, und was er selber zu verdrängen versucht, in Klammern gesetzt.

    Zitat:
    "Er läuft, so schnell ihn seine müden Füße tragen, taumelt den Flur entlang, wirbelt Staubwolken auf und strebt dem Sonnenschein zu wie–
    (wie ein Ertrinkender der Luft–)"
    Undeutlich hört er sich schreien vor Angst, noch immer wortlos, noch immer unartikuliert.
    Aber er weiß es.
    Er weiß es, er weiß es, er weiß es."

    Das Buch endet an einem Punkt, bei dem sich viele Leser fragen werden: war es das jetzt, oder kommt da doch noch mehr als das? (Das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen.) Ich habe mir sagen lassen, es sei typisch für die Bücher von Patrick Ness, dass die Enden mehr Denkanstoß sind als der Wahrheit letzter Schluss. Nachdem ich es jetzt etwas habe sacken lassen, bin ich mit dem Ende dann doch zufrieden: es lässt vielleicht vieles offen, aber jeder der drei Hauptcharaktere hat ein enormes inneres Wachstum durchlebt und mit einem wichtigen persönlichen Thema abgeschlossen.

    Allerdings hätte ich mir schon gewünscht, dass manche Dinge irgendwo zwischen Anfang und Ende erklärt worden wären, denn sie erschienen mir nicht vollkommen glaubhaft und schlüssig. Es gibt für meinen Geschmack auch zu viele Rettungen in allerletzter Sekunde!

    Fazit:
    Ein Junge stirbt. Aber irgendwie auch nicht. Oder vielleicht doch? Er findet sich wieder in etwas, das er mal für das Fegefeuer hält, mal für eine zweite Chance und dann wieder für eine Geschichte, die sich irgendjemand ausgedacht hat. Was ihn antreibt, ist die vage Hoffnung, dass es vielleicht noch mehr gibt als das.

    Das Buch war komplett anders, als ich es erwartet hätte, und ich tappte einen Großteil der Geschichte vollkommen im Dunkeln, wie sich irgendetwas davon aufklären lassen würde. Lange war mir nicht mal klar, ob ich jetzt gerade Fantasy oder eine Dystopie oder etwas ganz anderes lese! Aber das war in Ordnung, denn ich fand es einzigartig und bewegend und unvorstellbar gut geschrieben. Das Ende versinnbildlicht perfekt den Titel und wird die Gemüter spalten: es ist nichts für Leser, die ohne ein eindeutiges, klares, endgültiges Ende nicht glücklich sind.

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