Fazit zu "Serge"

Circlestones Books Blog

Bekanntes Mitglied
28. Oktober 2018
1.431
4.535
49
72
Wienerin auf Rügen
www.circlestonesbooks.blog
Für mich der Roman einer Familie, mehrere Generationen und die damit verbundenen Themen, Konflikte, Probleme. Ein modener Roman über Beziehungen und unterschiedliche Familiengefüge unserer Zeit. Es sind Episoden und Erinnerungen, Gegenwart, nahe Zukunft und Vergangenheit. Es beginnt mit dem Tod der Mutter, die bisher die Familie zusammengehalten hat, was machen ihre drei längst erwachsenen Kinder daraus. Ändert der Besuch in Auschwitz irgend etwas? Meiner Meinung nach nicht. Zum Streit wäre es wohl irgendwann, vielleicht später, auf jeden Fall gekommen, zu lange wurde über zu viele Dinge geschwiegen. Ist es ein Roman einer jüdischen Familie, ja, weil die Autorin dies so festgelegt hat, gibt es Unterschiede zu anderen modernen Romanen dieser Art, für mich nicht. Oder will sie in dieser Suche nach dem eigenen Leben, besonders von Serge und auch seiner Tochter Josephine, von Jeans Bindungsängsten, aber gleichzeitig Sehnsucht nach Familie, will sie in diesen Konflikten eine Verbindung zur Geschichte der Familie Popper herstellen, ich sehe keine. Im Mai 2021 habe ich "Viktor“ von Judith Fanto gelesen, der sich tatsächlich auch mit der Frage beschäftigt, wie die Jugend mit dem verheimlichten Schicksal ihrer Eltern und Großeltern umgeht, hier finde ich nichts davon. Die Kritik an der Vermarktung des Gedenkens am Beispiel Auschwitz teile ich mit der Autorin, da stimme ich zu.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
2.273
10.719
49
Thüringen
Für mich war der Roman, nach hohen Erwartungen durch Vorabberichte bei Kulturzeit oder Interview in DIE ZEIT, eher eine Enttäuschung. Für mich stellten die Sequenzen in Auschwitz und Birkenau die Stärksten des Romans dar. Die Bloßstellung der Touristenströme in die ehemaligen KZs ist sehr gut gelungen und die Gedanken von Jean währenddessen finde ich gut umgesetzt. "There's no business like shoah business."
Die Kritik an dem Tourismus finde ich gut, dem Gedankengang, dass nun, da die letzten Überlebenden wegsterben, diese Gedankstätten obsolet werden, kann ich nicht teilen. Dass an dieser Stelle meine Meinung und die der Autorin auseinander geht, wirkt sich aber tatsächlich nicht auf meine Gesamteinschätzung des Romans aus. Man kann unterschiedlicher Meinung sein und trotzdem ein gutes/sehr gutes Werk abliefern.
Meines Erachtens ist das der Autorin hier nicht gelungen. Zu wirr wurden die Familien- und persönlichen Befindlichkeiten dargestellt. Das darunter liegende Thema des Todes von Familienmitgliedern verliert für mein Dafürhalten dadurch noch mehr. Die Dialoge finde ich einfach nur nervig und nicht wirklich humorvoll.
Schade, so ist dies ein Roman von 2 Sternen für mich geworden, obwohl ich sehr optimistisch vor der Lektüre war. Die beiden Zitate in meinem Kommentar aus dem letzten Leseabschnitt fassen das Buch und die Figuren recht gut für mich zusammen.
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.640
4.803
49
62
Essen
Ich musste ja leider verspätet das Buch lesen und fasse jetzt hier für das Fazit meine Eindrücke zusammen:
Nach einer unglücklichen Eingangsszene - da bin ich ganz Eurer Meinung - hatte ich das Buch erstmal recht schnell durch Sätze und Sequenzen, die mich tief berührt haben. Diese "Kuddelmuddelkiste" Familie, da wurde für mich ein Feld aufgemacht, das mich wirklich interessierte. Geschwister im Erwachsenenalter, ein Thema, das - meines Wissens nach, literarisch eher unterbelichtet ist. Hier wurde das Thema (anscheinend) aufgemacht, um etwas Erhellendes dazu zu liefern.
"Ich weiß gar nicht mehr, wie wir Geschwister es geschafft haben, diese ursprüngliche Komplizenschaft zu bewahren, wir waren uns nie besonders ähnlich oder besonders nah. Geschwisterbeziehungen zerfasern, leben sich auseinander, hängen nur noch am seidenen Faden von Sentimentalität oder Konvention."
Ich war gespannt! Dann wurde das ganze auch noch verbunden mit der für mich immer schwelenden Frage nach der Kenntnis über die Geschichte der Eltern - in meiner Generation und noch dazu in einem Alter, in dem die Eltern als Zeugen immer seltener zur Verfügung stehen, ein Dauerbrenner:
"Unsere Eltern sind dahingegangen und haben uns nicht mehr hinterlassen als Fragmente, womöglich erdichtete biografische Restbestände, man kann kaum behaupten, dass wir uns für ihre Saga interessiert hätten."
Die ersten ca. 40 Seiten also schürten meine Spannung auf das Buch und hoben meine Lesestimmung ungemein. Doch was dann kam, wurde für mich dieser aufgebauten Erwartung in keiner Weise gerecht. Die Schilderung des Lebens der Geschwister und ihres Anhangs und der Familien in Paris und Umgebung leider ohne Spannungsbogen, ohne sprachliche Highlights und für mich auch ohne Lachen hervorbringender Humor. Dann die therapeutische Familienreise nach Auschwitz, der ich noch etwas abgewinnen konnte, denn das vollkommene Ausbleiben des Schreckens angesichts des Ortes bei den handelnden Figuren - das ist schon ein Wagnis der Autorin.
"Ich denke nicht an die Tausende von Deportierten, die in einem anderen Jahrhundert auf absurde Weise dort hingeschafft wurden, sondern an den gealterten Körper meiner Schwester."
Diese unerhörte Stimmung und Haltung hätte ich gern in dem Roman näher ausgeführt bekommen, doch schon rast der Roman weiter und kommt wieder im Alltagseinerlei in Paris und Umgebung an. Und da wird es für mich wieder beliebig und eher nichtssagend. Ja, Serge scheitert mit seiner egomanischen Hilfsaktion für seinen Neffen beim schweizerischen Sternekoch. Und ja, Maurice stirbt allein und Serge erfährt vom nagenden Krebs in ihm. Doch das alles geht irgendwie unter in einer "Kuddelmuddelkiste", die tiefere Eindrücke unmöglich machen. Schade! Ich hatte mich auf interessante Einblicke der Geschwisterbeziehungen gefreut und auf eine besondere jüdische Haltung zum modernen jüdischen Leben mit seiner Verarbeitung der Vergangenheit.
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.324
19.042
49
48
Ich musste ja leider verspätet das Buch lesen und fasse jetzt hier für das Fazit meine Eindrücke zusammen:
Nach einer unglücklichen Eingangsszene - da bin ich ganz Eurer Meinung - hatte ich das Buch erstmal recht schnell durch Sätze und Sequenzen, die mich tief berührt haben. Diese "Kuddelmuddelkiste" Familie, da wurde für mich ein Feld aufgemacht, das mich wirklich interessierte. Geschwister im Erwachsenenalter, ein Thema, das - meines Wissens nach, literarisch eher unterbelichtet ist. Hier wurde das Thema (anscheinend) aufgemacht, um etwas Erhellendes dazu zu liefern.
"Ich weiß gar nicht mehr, wie wir Geschwister es geschafft haben, diese ursprüngliche Komplizenschaft zu bewahren, wir waren uns nie besonders ähnlich oder besonders nah. Geschwisterbeziehungen zerfasern, leben sich auseinander, hängen nur noch am seidenen Faden von Sentimentalität oder Konvention."
Ich war gespannt! Dann wurde das ganze auch noch verbunden mit der für mich immer schwelenden Frage nach der Kenntnis über die Geschichte der Eltern - in meiner Generation und noch dazu in einem Alter, in dem die Eltern als Zeugen immer seltener zur Verfügung stehen, ein Dauerbrenner:
"Unsere Eltern sind dahingegangen und haben uns nicht mehr hinterlassen als Fragmente, womöglich erdichtete biografische Restbestände, man kann kaum behaupten, dass wir uns für ihre Saga interessiert hätten."
Die ersten ca. 40 Seiten also schürten meine Spannung auf das Buch und hoben meine Lesestimmung ungemein. Doch was dann kam, wurde für mich dieser aufgebauten Erwartung in keiner Weise gerecht. Die Schilderung des Lebens der Geschwister und ihres Anhangs und der Familien in Paris und Umgebung leider ohne Spannungsbogen, ohne sprachliche Highlights und für mich auch ohne Lachen hervorbringender Humor. Dann die therapeutische Familienreise nach Auschwitz, der ich noch etwas abgewinnen konnte, denn das vollkommene Ausbleiben des Schreckens angesichts des Ortes bei den handelnden Figuren - das ist schon ein Wagnis der Autorin.
"Ich denke nicht an die Tausende von Deportierten, die in einem anderen Jahrhundert auf absurde Weise dort hingeschafft wurden, sondern an den gealterten Körper meiner Schwester."
Diese unerhörte Stimmung und Haltung hätte ich gern in dem Roman näher ausgeführt bekommen, doch schon rast der Roman weiter und kommt wieder im Alltagseinerlei in Paris und Umgebung an. Und da wird es für mich wieder beliebig und eher nichtssagend. Ja, Serge scheitert mit seiner egomanischen Hilfsaktion für seinen Neffen beim schweizerischen Sternekoch. Und ja, Maurice stirbt allein und Serge erfährt vom nagenden Krebs in ihm. Doch das alles geht irgendwie unter in einer "Kuddelmuddelkiste", die tiefere Eindrücke unmöglich machen. Schade! Ich hatte mich auf interessante Einblicke der Geschwisterbeziehungen gefreut und auf eine besondere jüdische Haltung zum modernen jüdischen Leben mit seiner Verarbeitung der Vergangenheit.
Großartige Zusammenfassung! :cool:
 

Barbara62

Bekanntes Mitglied
19. März 2020
3.901
14.942
49
Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich habe den Roman gern gelesen und weiß immer noch nicht genau, warum. Die Szenen, die euch so banal erschienen, sind für mich ein Abbild einer Familie, das Streiten und doch Zusammenhalten fand ich gut und nachvollziehbar dargestellt. Die Differenzen in der Elterngeneration um Israel und die Wohltätigkeit für jüdische Organisationen fand ich sehr interessant und neu für mich.
Von mir wird es voraussichtlich 4 Sterne geben für einen guten Roman, der bei mir durchaus Spuren hinterlässt. Der Humor in den ersten drei Teilen hat mich sehr gut unterhalten.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.566
24.709
49
66
Auch mir hat der Roman gut gefallen. Yasmina Reza schreibt pointiert, ihre Dialoge sind entlarvend und die Themen, die sie aufgreift, sind elementar. Familie, Krankheit, Tod, gescheiterte Leben, die Frage nach der Identität.
Im Zentrum steht der Auschwitz- Besuch. Was Yasmina Reza hier anprangert, ist nachvollziehbar, auch wenn ich ihre Schlussfolgerung, dass solche Erinnerungsorte unnötig werden, nicht teile.
Zwischen scheinbar banalen Dingen finden sich viele nachdenkenswerte Sätze. „ Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos.“ So eine Feststellung teile ich , denn ich glaube nicht, dass uns das Erinnern an solche Gräuel davon abhalten, nicht wieder Ähnliches zu tun. Der Mensch lernt nichts aus der Geschichte. Da bin ich so pessimistisch wie Yasmina Reza.
Der Roman kommt unterhaltsam daher, doch er ist keineswegs seicht und banal.
Bei mir werden es vier Punkte werden.
Ich hoffe, dass ich Ende der Woche Zeit finde, die Rezension zu schreiben ( vorher komme ich auf keinen Fall dazu).
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.906
12.653
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Auf den ersten Blick erscheint der Roman chaotisch. Yasmina Reza spricht die unterschiedlichsten Themen an, die ein Familienleben betreffen, kratzt dabei die Frage nach der jüdischen Identität an, die am Ende aber nur eine sehr geringe Rolle in diesem Roman spielt - wie im Übrigen auch für die Familie Popper. Die Auschwitz-Reise bietet ihr die Gelegenheit, mal eben Kritik an dem Auschwitz-Tourismus unterzubringen und damit den Sinn von Gedenkstätten in Frage zu stellen. Man wird als Leser auf Trab gehalten, denn in ihrer Erzählung vermischt sie Humor, Slapstick, banale Momente und tiefsinnige Gedanken, wobei diese Gedanken gar nicht so sehr von ihr kommen, sondern beim Leser hervorgerufen werden.
Trotz allem Chaos, einem unangenehmen Protagonisten und Themen-Durcheinander habe ich den Roman sehr gern gelesen. Denn der Humor in diesem Buch hat mich bei Laune gehalten. Für mich war es eher ein Familienroman als ein Roman über die Frage nach jüdischer Identität. Bemerkenswert ist für mich, dass trotz aller Komik der Tiefsinn nicht auf der Strecke bleibt.
 

luisa_loves-literature

Aktives Mitglied
9. Januar 2022
848
3.402
44
Mein ganz ungefilterter und spontaner Eindruck - ich schwanke zwischen ein und zwei Sternen. Ich habe mich über so viel Langweile, Episodenhaftigkeit und Banalität wirklich geärgert. Auschwitz, Krebs und Tod machen dann allein noch keinen tiefsinnigen, unvergesslichen Roman. Der Humor ist leider auch nicht meins und verrückte Familie hat ja eigentlich jeder schon selbst genug. An der Länge des Romans kann es nicht liegen, es gibt ja Bücher wie "Vater und ich"von Dilek Güngör, die auf ca. 100 Seiten tiefste Familiengefühle ausleuchten können. Mir fehlten vor allem auch Nuancen in der Figurenzeichnung und Gestaltungsmomente in der Sprache. Sei's drum - mir muss es nicht gefallen: für Platz 1 DER SPIEGEL-Bestseller-Liste reicht es auch ohne mich :)
 
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Reaktionen: GAIA und kingofmusic

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.273
10.719
49
Thüringen
An der Länge des Romans kann es nicht liegen, es gibt ja Bücher wie "Vater und ich"von Dilek Güngör, die auf ca. 100 Seiten tiefste Familiengefühle ausleuchten können.
Das Cover ist mir schon häufiger über den Weg gelaufen, bisher habe ich mich aber noch nicht mit dem Inhalt und der Bewertung des Romans beschäftigt. Da du ihn hier extra erwähnst als lobenswertes Beispiel, werde ich mir den Titel doch noch einmal genauer ansehen. Vielen Dank dafür!
Ansonsten kann ich dir in deinem Fazit wirklich zustimmen.
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.324
19.042
49
48
Tja, ich glaube es ist schon in den einzelnen Abschnitten deutlich geworden, dass ich von dem Buch mehr enttäuscht als begeistert bin. Für mich waren die familiären Banalitäten der Geschwister Popper nicht in Einklang zu bringen mit dem Besuch in Auschwitz. Und jüdische Identität habe ich auch nicht wirklich entdecken können. Auch den vielgerühmten Humor von Yasmina Reza musste ich trotz vorhandener Sehhilfe mit der Lupe suchen; an einer Stelle hab ich ihn tatsächlich entdeckt.
Aber die Vielseitigkeit der Meinungen macht ein Buch erst interessant. Ich gebe 2,5 bzw. 3*; mehr dazu in meiner Rezension.
Danke an meine Mitleserinnen für die Diskussion - hat Spaß gemacht! :cool: