Rezension Rezension (3/5*) zu Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
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49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Bonjour Tristesse...

Erster Satz: "Der Frühling war fast vorbei." (S. 15)


Wenn man jung ist, liegt die Zukunft noch vor einem. Auch Franzisk, genannt Zisk, geht so durchs Leben. Frisch verliebt hat er andere Dinge im Kopf als die, die die Erwachsenen von ihm fordern. Er soll Cello üben, am besten Tag und Nacht, damit er die Prüfung an seiner Schule besteht und in die nächste Klasse versetzt wird. Schließlich soll er, so die Pläne von Zisks Großmutter, das Lyzeum für Musik einmal erfolgreich absolviert haben und dann als anerkannter Cellist im Präsidentenorchester spielen.


„Geben Sie doch zu, dass Sie keine Musiker ausbilden, sondern Türsteher und Hausmeister der Kunst (…) Lauter Kader für das Präsidentenorchester, das zum Empfang von Botschaftern aus Dritte-Welt-Ländern aufspielt.“ (S. 47 f.)


Doch bald schon spielt es keine Rolle mehr, ob Zisk in die nächste Klasse versetzt oder aber ausgemustert wird, denn durch ein tragisches Ereignis fällt er ins Koma, aus dem er nicht mehr erwacht. Die Ärzte und auch seine Mutter sind der Meinung, dass man sich nicht mehr um ihn bemühen sollte, er sei nur noch „Gemüse“. Die Großmutter dagegen glaubt fest an ihren Enkel und an sein Aufwachen. Und so setzt sie alles daran, dass es ihm im Krankenhaus an nichts fehlt und kümmert sich tagein tagaus um ihn. Und schließlich behält sie Recht: Zisk erwacht. Zehn Jahre sind seither vergangen, einiges hat sich zwangsläufig verändert – doch gerade gesellschaftlich-politisch ist vieles wie erstarrt. Wie kann nun die Zukunft des Erwachten aussehen?

Bereits das Vorwort des Autors weist darauf hin, wie aktuell dieser zeitkritische Roman ist, der sich mit den Zuständen in Weißrussland befasst. Das unmenschliche und repressive Lukaschenko-Regime in Belarus sorgt für genau die Missstände, die Sasha Filipenko hier in seinem Debütroman aus dem Jahr 2014 anprangert. Dabei bedient er sich neben zahllosen Anspielungen und Metaphern sowie der Erwähnung tatsächlich stattgefundener Ereignisse zum einen des Stilmittels von häufigen Monologen (die Besucher, die an das Bett des im Koma liegenden Zisk treten, nehmen kein Blatt vor den Mund – denn wer sollte unter diesen Umständen ihre allzu offenen Worte schon kritisieren) und zum anderen steht Franzisks Schicksal als Sinnbild für den Zustand von Weißrussland selbst. Kein Wunder also, dass dieser Roman vom Regime in Belarus nicht gut gelitten ist.


„In den meisten Minsker Buchläden ist „Der ehemalige Sohn“ zwar erhältlich, aber nur unter der Hand, er steht nicht in den Regalen. Und der belarussischen Nationalbibliothek wurde dringend empfohlen, das Buch nicht in den Katalog aufzunehmen.“ (S. 10)


Im Grunde geht es hier tatsächlich nur vordergründig um Zisks als Person, vielmehr aber wie bei einer Parabel um die hintergründigen Informationen - hier: zum desolaten Staat mit all den negativen Auswüchsen, die hier Erwähnung finden: Wahlbetrug, politische und polizeiliche Willkür, Verfolgung von Oppositionellen und Kritikern, Einschüchterungen und Verhaftungen, Geschichtsfälschung, Verbot der Muttersprache u.v.m. Die eher plakative Zeichnung der Charaktere in dem Roman erscheint daher irgendwie auch passend, ebenso wie die teilweise doch recht unwahrscheinlichen Wendungen. Was für ein düsteres Bild, welch eine Hoffnungslosigkeit, die ein ganzes Land durchzieht. Das eine Koma gegen das nächste getauscht, und die Aussicht auf ein Erwachen gibt es nicht. So grau und trist wie die Zustände da in Weißrussland waren/sind, so deprimierend empfand ich auch die Lektüre. Was zählt schon das Leben eines Einzelnen, was zählt das Individuum? Nichts, wenn man dem Roman Glauben schenken darf. Was bleibt als Ausweg? Hinnehmen und resignieren? Tod oder Flucht? Bonjour Tristesse…


„Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten. Hier ändert sich absolut nichts. Egal, wie lang sie im Koma liegen. Monatelang, jahrelang, ewig.“ (S. 196)


Zusammen mit den Vorwort des Autors und dem Nachwort der Übersetzerin ergibt der Roman ein rundes, wenn auch beklemmendes Bild. Bleibt nur zu hoffen, dass die vehementen Proteste der Bürger Weißrusslands seit 2020 dem komaähnlichen Zustand des Landes ein Ende setzen und die letzte Diktatur Europas aufweichen können. Bei dem wiederholten Säbelrasseln des russischen Ministerpräsidenten Putin („Einladung zur Wiedervereinigung“) allerdings bleibt die weitere Entwicklung wohl abzuwarten. Doch lassen wir dem Autor das letzte Wort:


„Meine inständige Hoffnung ist, dass dieses Buch in meinem Land eines Tages nicht mehr aktuell sein wird…“ (S. 11)


© Parden

 

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