Lesen ist doof

Delphine de Vigan hat in meinen Augen einen recht eigenwilligen Schreibstil, der äußerst interessant daherkommt und auch sehr veränderlich wirkt, der jeweiligen beschriebenen Situation sehr angepasst. Manchmal hatte ich fast den Eindruck es sprechen verschiedene Personen zu mir. Absolut interessant, aber manchmal auch etwas schwer zu fassen. Wobei sie es dem Leser auch durch die in ihren Romanen verwandten Thematiken schwer macht. Chapeau vor dieser Frau für diese Art über doch recht schwierigen Dinge zu sprechen, da es ja immer biographische Züge gibt, die es der Autorin nicht leicht machen. Aber genau das ist ja auch eine Intention der Frau de Vigan.
Nun zu diesem Buch. Es geht um einen Blick auf die eigene Mutter. Einerseits ist dieser Roman eine Auflistung der Geschehnisse im Leben der Lucile. Andererseits ist es aber auch eine Anklage in meinen Augen. Eine Anklage an alle Mensen, die eine gewalttätige Ader haben. Ein Blick auf ein Leben, das unter der Last des Erlebten irgendwann zerbröselt. Und gleichzeitig auch ein Blick auf die Folgen des Ganzen. Ein Blick auf die Kinder. Ein Blick darauf, was eine Traumatisierte ihren Kindern weitergibt/weitergeben kann. Und der Blick auf die eigene Mutter ist in nachvollziehbarer Weise verfärbt. Allerdings fand ich diesen Blick auf die Person der Lucile auch etwas einseitig, klar hat das Handeln der Mutter Folgen bei den Kindern, aber die Härte der Betrachtung ist doch etwas unangebracht, dieses Zurückziehen vor Gefühlen von Seiten der Mutter hat ja Gründe. Aber es spricht hier ja auch eine kleine verletzte Seele. Aber wir haben in der Person der Lucile auch jemanden, der kämpft, der trotz der eigenen Erfahrungen auch Stärke besitzt, sich immer wieder aufrappelt, bis es einfach irgendwann reicht. Es geht auch um die Kraft von familiären Bindungen, nicht nur das Zerstörerische in diesen, sondern auch die positiven Seiten menschlicher Nähe werden seziert. Und genau dieses Sezieren menschlicher Eigenschaften beherrscht die Vigan in einer ganz eigenen Art, und in einer ungeheuren Tiefe.
Den Blick auf einen Menschen mit einer bipolarer Störung empfand ich etwas einseitig, aber es ist für den Betroffenen und für die nahe Umgebung auch sehr schwer. Trotzdem ist dieses Buch für mich auch ein gelungener Versuch einer Skizzierung einer psychischen Erkrankung und des Lebens damit.
Und es ist ein Blick auf den Suizid. Ein Blick auf das Warum. Und genauso ein Blick auf die Folgen, ein Blick auf die Hinterbliebenen.
Insgesamt ist es ein Buch was wehtut und sehr stark beschäftigt und man sollte bereit dafür sein. Und in der Intensität des Buches und der Art des Geschriebenen liegt für mich auch die Begründung meiner gegebenen 5 Punkte!
"Rien ne s'oppose à la nuit", so lautet der französische Titel des Buches - und gleichzeitig ist dies eine Liedzeile aus einem Chanson, der die Autorin während der ganzen Zeit begleitet hat, in der dieses Buch entstand. Eine düstere und mutige Schönheit empfand Delphine de Vigan beim Hören des Chansons - Attribute, die sich in diesem Roman widerspiegeln. Doch ist es überhaupt ein Roman?
"Das Lächeln meiner Mutter" ist im Grunde eine Hommage der Autorin an ihre Mutter Lucile, die mit nur 61 Jahren Selbstmord beging - eine Spurensuche, das Zusammensetzen zahlreicher Mosaiksteinchen und Erinnerungsfragmete, aus denen schließlich das Bild einer widersprüchlichen und geheimnisvollen Frau entsteht. Delphine ist es schließlich, die ihre Mutter tot auffindet...
"Ich sah sie sofort auf ihrem Bett liegen, die Schlafzimmertür war offen, Lucile kehrte mir den Rücken zu (...), sie schläft, sagte ich mir, ich nahm alle Kraft zusammen, um mir das zu sagen, ich ging in ihr Schlafzimmer (...), ich kauerte mich neben sie, ich schüttelte sie, sanft, dann heftiger (...) Der Gedanke konnte mich nicht erreichen, es war nicht akzeptabel, es war unmöglich, das kam nicht in Frage, nein." (S. 367)
Einen Teppich der Erinnerungen webt de Vigan hier, geknüpft aus Aufzeichnungen von Gesprächen mit den zahlreichen Mitgliedern der Familie, aus Notizen, Tagebucheintragungen, Briefen, Fotos, Filmen, Dokumenten... Vielschichtig das Porträt, das so nach und nach vor den Augen des Lesers entsteht - und auch und vor allem vor den Augen der Autorin. Denn es war ein schwieriger, langwieriger, kräftezehrender Prozess, in dem dieses Buch entstand, geprägt von Zweifeln, die de Vigan nicht müde wird zu betonen. Die Chronologie des Lebens ihrer Mutter, immer wieder unterbrochen durch Einblicke in den Schaffensprozess des Romans, das ist es, was den Leser hier erwartet.
"Ich weiß nicht mehr, wann mir der Gedanke kam, über meine Mutter zu schreiben, um sie herum oder von ihr aus, doch ich weiß, wie sehr ich den Gedanken ablehnte, ihn möglichst lange auf Abstand hielt und mir dabei die Liste der unzähligen Autoren vor Augen führte, die im Laufe der Jahrhunderte bis in die jüngste Gegenwart über ihre Mutter geschrieben hatten, um mir zu beweisen, wie vermint das Gelände war und wie abgegriffen das Thema (...) Wahrscheinlich hatte ich den Wunsch, eine Hommage an Lucile zu schreiben, ihr einen Sarg aus Papier - denn mir scheint, das sind die schönsten aller Särge - zu schenken und ihr ein Leben als Figur zu geben." (S. 14 und 72)
Sie zieht einen sofort in ihren Bann, diese Familiengeschichte.
Denn es ist nicht nur die Geschichte ihrer Mutter, die Delphine de Vigan hier erzählt. Die Erzählung saugt den Leser in die Szenerie einer bürgerlichen Familie hinein, hinter deren wohlanständiger Fassade Schlachten geschlagen werden, wo Brüche unheilbare Wunden hinterlassen - bis hin zur Verzweiflung am Dasein. Vorsichtig, beihnach scheu tastet sich die Autorin an das Leben ihrer Mutter heran. Immer wieder hält sie inne, reflektiert sich und ihr Tun - und die möglichen Folgen ihrer Enthüllungen. Die Balance zwischen dem, was der Leser wissen darf und dem, was man nie erfahren
soll, wirkt dabei sehr geglückt.
"Bislang hatte sie sich nie eine Vorstellung von ihrer Zukunft machen, ihr Form und Farbe geben könen. Sie hatte sich nie in ein anderes Leben projizieren, neue Umgebungen erfinden können. Weshalb sie manchmal gedacht hatte, ihre Träume seien so groß, so maßlos, dass sie nicht einmal in ihren eigenen Kopf passten." (S. 143)
Dies ist ein Buch, das einen zunehmend fesselt. Es ist der Autorin gelungen, die Menschen, die darin vorkommen, in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu
zeichnen: als gut und schlecht, verzweifelt und glücklich, hoffnungsvoll
und zerstört. Ein liebevolles und schonungsloses Buch, das den Mythos
einer Familie zugleich ehrt - und dekonstruiert. Das Porträt einer zerrissenen Frau, gleichzeitig ein Ausschnitt der Chronik einer Großfamilie, eingebunden in das Zeitgeschehen vor allem der Pariser 50er und 60er Jahre.
Eine sehr persönliche Erzählung, empahtisch und klar geschrieben, aber zu keiner Zeit pathetisch oder melodramatisch - und dennoch ungemein berührend. Thematisch wie erzählerisch war dieses Buch für mich eine Entdeckung.
© Parden
Klappentext:
„Die große Essayistin Joan Didion erzählt von Leitfiguren des American Dream wie Howard Hughes und John Wayne, vom Glanz Hollywoods und der Einsamkeit von Alcatraz, von der Aufbruchsstimmung der Sechzigerjahre und der Ernüchterung, die ihr folgte. Mit der ihr einzigartigen Klarsicht gelingt es ihr die amerikanische Wirklichkeit in unvergesslichen Bildern zu fassen, die bis heute nichts von ihrer Wahrhaftigkeit verloren haben.“
Um die Vereinigten Staaten von Amerika zu verstehen, brauch es eigentlich nur Eine: Joan Didion. In ihrem aktuellen Buch steht eines ganz fest: sie weiß genau wie die Menschen dort ticken und warum. Wer das liest, erhält eine Art Biografie eines Landes das klar und schonungslos ehrlich dargestellt wird. Was hat es denn mit dem American Dream auf sich und woher stammt dieser Drang nach Freiheit und Macht? Didion wühlt hier ganz tief in der Geschichte und es wäre nicht „Didion“ wenn sie hier ihre eigenen Erkenntnisse und ihre Sichtweisen und Bebobachtungsergenisse mit einfließen lassen würde. In gewohnter Manier erklärt sich sachlich aber auch persönlich ihr Land und deckt Mythen auf, zeigt Errungenschaften und Schwachsinn gleichermaßen und wird dabei nie niveaulos oder abwertend - sie bleibt ihren Job treu.
Didion lässt aber zudem, und das kennen ihre Fans, auch psychologische Aspekte mit einfließen und so wird schnell klar was der Buchtitel uns sagen will: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“. Richtig! Denn Geschichte(n) verbinden Menschen und geben ihnen Wurzeln und diese Wurzeln und die Liebe zu ihrem Land merken wir gerade in den USA besonders stark. Diese Verbundenheit, diese Liebe zur Heimat ist enorm und kommt nicht von ungefähr.
Ein starkes und sehr spannendes Buch - wie immer von Joan Didion - das 5 von 5 Sterne verdient.
Das Lächeln meiner Mutter
Delphine de Vigan erzählt die Lebensgeschichte ihrer Mutter. Ausschlaggebend war der Selbstmord und wie sie ihre Mutter gefunden hatte. Durch dieses Buch wollte sie wahrscheinlich ihre Mutter mehr verstehen und sich ihr annähern, sie die als Mutter so oft unnahbar und weit weg war.
Es wird sehr gut beschrieben wie ihre Mutter der Realität immer mehr entgleitet und wie sie immer mehr den Wahn verfallen ist. Als ihre Mutter durch ihre Krankheit nackt in der Wohnung ihre Tochter ihre Augen akkupunktieren wollte, wurde sie in die Psychiatrie eingewiesen. Delphine und ihre Schwester Manon lebten seitdem bei ihrem Vater in der Normandie und kehrten dann mit 17/ 18 wieder zurück nach Paris, wo auch ihre Mutter lebt.
Ich habe mich beim Lesen immer wieder gefragt, wie man als Tochter diese Krankheit der Mutter verarbeiten kann. Kann man vertrauen? Wie erlebt man sich dann selbst als Mutter? Möchte man als Tochter später genau so sein wie die Mutter, als diese noch gesund war? Schafft man eine "gesunde" Interaktion mit den Kindern/ Freunden? Schwebt über allem ein domokles Schwert?
Mich hat das Buch sehr berührt. Es hatte teilweise sehr intensive Abschnitte, andere waren Wiederholungen. Doch teilweise habe ich mit einem Kloß im Hals dieses Buch gelesen. Es ist wirklich lesenswert, wenn man interessiert ist an psychische Erkrankungen und wie das soz. Umfeld damit versucht zu leben!
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