Töchter Haitis

Buchseite und Rezensionen zu 'Töchter Haitis' von Marie Vieux-Chauvet
4.3
4.3 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Töchter Haitis"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:288
EAN:9783717525509
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Rezensionen zu "Töchter Haitis"

  1. Die emanzipatorische Kraft der Literatur

    Haiti war für mich bislang ein weitgehend weißer Fleck, auf der von mir literarisch bereisten Weltkarte. Leider muss ich zugeben, vor der Lektüre von Vieux-Chauvets Roman mit dem Titel "töchter Haitis" wenig über das Land gewusst zu haben. Dankenswerterweise gibt es den Manesse Verlag, der sich darauf spezialisiert hat, weitgehend unbekannte literarische Klassiker zu entdecken und aufzulegen. Der im französischen Orginal bereits 1954 erschienene Roman wurde in einer authentischen und mit viel Fingerspitzengefühl durchgeführten Übersetzung nun auch der deutschen Leserschaft zugängig gemacht. Ein umfangreicher Anmerkungsteil sowie das Nachwort von Kaiama L. Glover helfen dabei, den Kontext der haitianischen Kultur, inklusive den wichtigen Themen der Zeit, in der die Geschichte spielt, besser zu verstehen. Allein dafür lohnt sich die Lektüre bereits.

    Die Autorin selbst ist eine Mulattin, die die Bedrohung des schwelenden Konflikts der verschiedenen Bevölkerungsschichten zu Beginn des 20. Jahrhunderts sicher am eigenen Leib erfahren hat. Sie ging später ins Exil. Es ging ihr offensichtlich darum aufzuzeigen, dass Haiti zwar unabhängig geworden ist, aber nach wie vor durch eine hohe politische Instabilität charkterisiert ist, die sich aus Unruhen zwischen der schwarzen Bevölkerung und den 'gemischtrassigen' Mulatten ergeben. Sie zeigt die Nachwirkungen des Kolonialismus auf: die Wunden, die er hinterlasen hat und verknocherte (patriachale) Strukturen, die schwer zu überwinden sind. 

    Die junge Lotus verkörpert in ihrer Figur die zerrissene Identität, die mit Erfahrungen der Ausgrenzung, der Zerissenheit und der Entwurzelung einhergehen. Als Mulattin sitzt sie zwischen den Stühlen. Sie stammt von einem französischen Vater ab, der sich früh davon gemacht hat und dem sie ihre helle Haut verdankt. Ihre Mutter ist eine Schwarze, der sie nie verzeihen konnte, dass sie ihren Reichtum durch Prostituion erwarb. Für Lotus ergab sich ein Identitätskonflikt, der dadurch verschärft wird, dass sie zwar in der Villa ihrer Mutter lebt, aber von Bewohnern des angrenzenden Elendsviertels ausgegrenzt wird - mit Ausnahme vielleicht von Männern, die in ihr eine leichte Beute sehen. Sie ist also einerseits durchaus privilegiert, insofern sie der besser gestellten Mulattenschicht angehört und sich ein gutes Leben leisten kann. Andererseits aber hat sie durch die Berufstätigkeit ihrer Mutter eine gewisse nähe zum einfachen Volk - ein Widerspruch, mt dem Lotus zunächst nicht umzugehen weiß. Sie probiert sich aus und wirkt in vielem letztlich doch sehr unreif. Verstanden fühlt sie sich letztlich erst durch die Bekanntschaft mit dem Oppositionellen Georges, der ihr zum einen Schutz und Geborgenheit bietet, zum anderen aber auch vor Augen führt, wie viel Leit, Elend und Unterdrückung es im Land gibt. Lotus durchläuft eine harte Schule des Lebens, doch am Ende hat sie ihre Lektion gelernt...

    Die Autorin greift in ihrem Roman wichtige Themen auf. Es geht zentral um die Themen Unterdrückung, Rassentrennung und auch das Patriachat. Der größte Reiz des Romans besteht meines Erachtens darin, dass man durch die Lektüre, insbesondere den Anmerkungsapparat sowie das Nachwort, viel über die politische und kulturelle Situation Haitis im frühen 20. Jahrhundert lernen kann. Mit der Geschichte selbst habe ich mich hingegenen etwas schwer getan. Lotus habe ich als sehr wankelmütig und unreif erlebt. Sie reift erst gegen Ende des Romans. Das war teilweise anstrengend und enervierend zu lesen. Dabei ist der Schreibstil von Vieux-Chauvet durchaus sehr angenehm und flüssig zu lesen. Er hat mich letztlich auch bei der Stange gehalten. Das Ende ist recht hoffnungsfroh und verweist auf die emanzipatorische Kraft von Literatur. 

    In jedem Fall hat mich der Roman auf weitere Werke aus und über Haiti neugierig gemacht. Insofern freue mich mich, dass bereits im kommenden Jahr ein weiteres Werk der Autorin in deutscher Übersetzung erscheinen wird. Ich werde dem sicher eine Chance geben. 

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  1. 4
    13. Nov 2022 

    Einblicke und Entwicklung

    "Töchter Haitis" von Marie Vieux-Chauvet ist ein interessanter Blick nach Haiti in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ein Blick auf eine Welt, die mir bis dato noch recht unbekannt war.

    Mit einem etwas gewöhnungsbedürftigem Hauptcharakter, der jungen und naiven Lotus, die etwas hochnäsig und auch dilettantisch durch ihr aristokratisch-verwöhntes Leben schreitet. Dennoch darf man auch nicht vergessen, dass Lotus ohne Vater aufwächst, ihre Mutter früh verliert, dann von einer Angestellten aufgezogen wird und schließlich auch diese an den Tod verliert, dass Lotus also deutlich bindungsgestört ist. Und dass Lotus mit der Lebensführung der Mutter nicht einverstanden ist, sich deshalb frühzeitig von der Mutter abkapselt und es zu einem eklatanten Mutter-Tochter-Konflikt kommt. Der zu Lebzeiten der Mutter auch nicht mehr behoben werden kann. Der Hauptcharakter Lotus durchläuft in dem Roman "Töchter Haitis" eine Entwicklung, sie wird älter und lernt dazu, neue Bezugspersonen tauchen in ihrem Leben auf und auch wenn einiges in der Handlung als etwas Zuviel wahrgenommen werden kann, möchte ich dennoch sagen, ich habe das Buch "Töchter Haitis" als eine interessante Lektüre wahrgenommen. Die Autorin Marie Vieux-Chauvet lässt in ihrem Buch "Töchter Haitis" ebenso eine unbekannte Welt vor den Augen der Leserschaft entstehen, in der eine deutliche Gesellschaftskritik geschildert wird, in der die Folgen des Kolonialismus deutlich werden. Das Miteinander der verschiedenen Bevölkerungsschichten Haitis wird verdeutlicht, das Miteinander der Mulatten und der ärmeren und dunkelhäutigeren Bevölkerungsschichten, die Kluft zwischen ihnen wird gezeigt und dass eben diese Kluft politisch benutzt wird/politisch ausgenutzt wird. Über das Ausspielen beider Bevölkerungsschichten wird von bestimmten Kreisen des Landes versucht die Macht an sich zu reißen und sich selbst zu stärken. Gerade über das Nachwort wird viel über das politische Bestreben in Haiti erklärt und auch die Stellung der Autorin Marie Vieux-Chauvet in ihrem Land wird in diesem Nachwort deutlich. Ein immens lehrreiches Nachwort, welches diesen Roman deutlich aufwertet. Über die Anmerkungen im Buch erfährt die Leserschaft viel Wissenswertes über Haiti und auch diese Anmerkungen sind ein positiver Teil dieses interessanten Buches.

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  1. Was wissen wir schon über Haiti?

    Port-au-Prince, Haiti in den 1940er Jahren. Dort lebt Lotus Degrave. Dank ihres französischen Vaters hat sie helle Haut und gehört deswegen der elitären „mulattischen Gesellschaft“ an und wird dennoch gesellschaftlich nicht anerkannt, da ihre Mutter eine Edelprostituierte war. Nach dem frühen Tod der Mutter erbte Lotus zwei Häuser, ist somit finanziell unbelastet. Ihr unbeschwertes und flatterhaftes Leben ändert sich, als sie den politisch engagierten Georges Caprou kennen lernt. Durch ihn wird sie auf die Armut und das Elend im ganzen Land aufmerksam und beginnt selbst aktiv zu werden.

    Töchter Haitis ist ein Roman der haitianischen Schriftstellerin Marie Vieux-Chauvet, erschienen im Jahr 1954. Der Manesse Verlag hat sich dieses Buches im Rahmen des Mottos „mehr Klassikerinnen“ angenommen. So ist das Buch 2022 auf deutscher Sprache erschienen, übersetzt von Nathalie Lemmens und mit einem Nachwort von Kaima L. Glover, Professorin an der Columbia University, versehen. Ein sehr informativer Anhang mit Anmerkungen, Glossar und editorischer Notiz gibt umfangreich Auskunft über die politischen und gesellschaftlichen Haitis und zum Leben und Wirken der Autorin.

    Lotus ist eine Frau zwischen den gesellschaftlichen Linien. Ihre helle Haut macht sie Teil der Elite Haitis, ihre Herkunft als Tochter einer Prostituierten isoliert sie jedoch. Sie ist eine sehr einsame junge Frau, die ihren rechten Weg erst finden muss. Bei allem, was sie tut, ist sie in ihren Gefühlen äußerst wechselhaft, spielt eine dramatische Partitur vom Schluchzen du Zittern bis zur Euphorie. Das macht es schwierig, sich mit der Person Lotus anzufreunden, spiegelt aber im Kleinen auch die ständige Instabilität des Staates Haiti wider.

    Wie so viele Klassiker ist das Buch im historischen Zusammenhang zu lesen und zu verstehen. Die Autorin Marie Vieux-Chauvet ist doch selbst eine „Tochter Haitis“ und kann als Zeitgenossin, das Leben auf Haiti, das gesamte Lokalkolorit, die politischen Unruhen, die sozialen Ungerechtigkeiten und ihr brennendes Anliegen eindrücklich vermitteln.

    „Unser Land, das sich über einen Streit der Hautfarben entzweit hat, droht…noch weiter zurückzufallen. Es steht am Abgrund, also lasst es uns mit vereinten Kräften retten, indem wir auslöschen, was es schwächt: Armut, Unwissenheit, Dreck…“

    Was wissen wir schon über Haiti? Für mich war die Essenz des Buches, den Blick über den eigenen europäischen Tellerrand heben zu können und in eigentümlicher literarischer Form, Einblick in dieses ferne Land und seine Geschichte zu erhalten.

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  1. Unbekanntes Terrain

    „Das ist der Unterschied zwischen Regierungen und Menschen. Regierungen kümmern sich nicht, Menschen schon.“ (Mark Twain)

    Haiti, der mir bisher (literarisch) unbekannte Inselstaat in der Karibik, ist nicht unbedingt ein Urlaubsziel für mich – zu warm *g*. Wie gut, dass man die Hitze dort beim Lesen von Romanen nicht spürt.

    Dank des Manesse-Verlags war ich jetzt aber wenigstens lesend dort. Im Rahmen seiner „Mehr Klassikerinnen“-Reihe wurde jetzt „Töchter Haitis“ von Marie Vieux-Chauvet in der Übersetzung von Nathalie Lemmens veröffentlicht.

    Dabei handelt es sich um den Debüt-Roman (Erstveröffentlichung: 1954) der Autorin. Sie beschreibt darin die persönliche Entwicklung ihrer Protagonistin Lotus, einer zwischen der Oberschicht und dem einfachen Volk stehenden Tochter einer Prostituierten. Lotus hat von ihrer Mutter ein Haus geerbt, in dem sie zusammen mit zwei Bediensteten lebt und eins, dass sie vermietet hat. Entsprechend ihrer „Privilegien“ gegenüber dem einfachen Volk lebt sie ihr Leben zwischen flüchtigen Männerbekanntschaften und ihrer Freundschaft mit dem alten Charles, der ihr aus der Bibel zitiert. Als sie den Revoluzzer Georges Caprou trifft, ändert sich Lotus´ Leben von Grund auf…

    Marie Vieux-Chauvet hat Lotus nicht von vornherein als Sympathiecharakter angelegt – im Gegenteil: ihre teils naive Art und Weise nerven den Leser, die Augen geben einen rotierenden Rotor ab *Übertreibmodus aus*. Und doch packt die Geschichte die geneigte Leserschaft bei den Haaren, zieht sie durch Hoch und Tiefs in der Beziehung Lotus/Georges – und lässt sie zum Schluss mit einem Paukenschlag fallen.

    Doch das ist nur die eine Seite des Romans. Die andere befasst sich mit den politischen (Macht-)Strukturen Haitis, den Aufständen gegenüber dem korrupten Regime, dem sich ein tödlicher Disput zwischen Mulatten und Schwarzen anschließt.

    Dem eigentlichen Roman schließen sich ein umfangreicher Anmerkungsteil, ein Glossar und ein ausführliches Nachwort von Kaiama L. Glover an. Die Anmerkungen und das Nachwort zeichnen die historische Einordnung des Romans nach und geben einen Überblick über religiöse, kulturelle und örtliche Belange und Gegebenheiten. Die Leserinnen und Leser erhalten so also mehr als einen Roman für das (gut) investierte Geld, zumal die Aufmachung des ganzen Buches äußerst edel und geschmackvoll ist.

    Zu meinen nach der Lektüre spontan gezückten 4* Sternen muss ich jetzt doch noch den fünften zücken, da mich das Buch und die Geschichte auch nach ein paar Tagen nicht loslässt. Ich lege diesen Roman somit allen ans Herz, die Einblick in die haitianische Kultur, Geschichte und Literatur bekommen wollen.

    Somit 5* und eine absolute Leseempfehlung.

    „Ich kann nicht zu gestern zurückkehren, weil ich damals eine andere Person war.“ (Lewis Carroll)

    ©kingofmusic

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  1. Die Revolution

    Autorin
    Marie Vieux-Chauvet wurde 1916 in Port-au-Prince (Haiti) geboren. Sie entstammt einer großbürgerlichen Mulattenfamilie. Ihre Mutter kam von den Antillen und ihr Vater war ein haitianischer Politiker. Sie war mit Pierre Chauvet verheiratet. Sie schrieb Theaterstücke und insgesamt fünf Romane. Ihr Roman „Töchter Haitis“ erschien 1954. Nachdem François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufgeschwungen war, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie ging ins US-amerikanische Exil und lebte dort in New York.
    Marie Vieux-Chauvet starb 1973.

    Inhalt
    Der Roman „Töchter Haitis“ ist in der Zeit der Umbruchphase in Port-au-Prince 1940 angesiedelt.
    Im Zentrum des Romans steht die junge Waise Lotus Degrave. Sie lebt in Port-au-Prince in der geerbten Villa ihre Mutter. Sie ist Mulattin und gehört der mulattischen Gesellschaftsschicht an. Ihre zweifelhafte Herkunft, ihre Mutter war eine wohlhabende mulattische Prostituierte und ihr Vater ein weißer französischer Marineoffizier, versperrt ihr den Zugang zur Gesellschaft. Sie führt ein sorgenfreies Leben, verfügt über ausreichend finanzielle Mittel, um ihren Unterhalt ohne Arbeit zu bestreiten. Sie verachtet Männer.

    „Meine ärgsten Feinde waren die Männer, denn sie hatten mir meine Mutter gestohlen.“
    (S. 14)

    Erst als sie Georges Caprou kennenlernt, ändert sich ihre Einstellung. Zu ihm fühlt sie sich hingezogen, der erste Mann, vor dem sie Achtung hat.
    Georges Caprou, ein attraktiver junger Revolutionär, verändert ihr Leben. Er zeigt die Missstände auf, das Elend vor ihrer Tür und weckt ihr politisches Interesse. Sie unterstützt ihn bei seinem revolutionären Kampf. Der Sturz der Regierung ist erfolgreich, aber schon bald wird die Rivalität zwischen Mulatten und Schwarzen erneut angefacht. Lotus und Georges Caprou müssen fliehen.

    Sprache und Stil
    „Töchter Haitis“ zeigt die Ungleichbehandlung aufgrund von Klassenzugehörigkeit, Hautfarbe und Geschlecht und die Korruption und Brutalität des haitianischen Staates.
    Es gärt in der Bevölkerung der Unterdrückten. In dieser Zeit, als die Umbruchphase sich abzeichnet, setzt der Roman ein.
    Lotus erlebt Haiti als Polizeistaat, der nicht davor zurückschreckt, einen Dieb, der eine Kochbanane gestohlen hat, weil seine Familie hungern muss, brutal zu behandeln. Die rohe Gewalt erfährt ebenso seine Frau, die versucht, ihm zu helfen. Lotus merkt, dass ihr dieses Schicksal der Gewalt noch bevorsteht.

    „Heute schlug man Diebe, und eines Tages würden auch diejenigen geschlagen werden, die für Gerechtigkeit und das Wohl des Volkes kämpften“. (S. 21)

    Die ersten Zeichen des Auflehnens gegen Gewalt, Ausbeutung und eine Korruptionsgesellschaft werden sichtbar. Lotus stellt sich mutig dagegen.

    „Weiße Herren, ihr beutet den Schwarzen aus […].“ (S. 66)

    Sie zeigt ihre mutige, souveräne Haltung gegenüber einer zermalmenden Gewalt.

    Lotus steht nicht als Protagonistin, deren Leben im Detail gezeigt wird, sondern stellvertretend für die Gesellschaft und die Frauen im damaligen Haiti. Lotus befindet sich in der Mitte, weder schwarz noch weiß, weder arm noch richtig reich. Sie bewegt sich am Rande der Gesellschaft, allein als Frau in einem großen Haus, getrennt von den ärmlichen Hütten. Die Nachbarn beäugen sie misstrauisch. Die politische Ebene vertritt der Revolutionär Georges, der die patriarchalische Seite zeigt.

    „Die Lage war ernst. Nach und nach erfasste eine neue Geisteshaltung eine kleine Gruppe schwarzer Intellektueller, die für sich und die übrigen Schwarzen jene Achtung,
    jenen Respekt einforderten, die ihnen ebenso zustanden wie allen anderen Haitianern.“ (S. 163)

    Gemeinsam kämpfen sie. George schleust heimlich seine Freunde in ihr Haus, das nun ein gefährlicher Ort für sie wird.

    „Schwarze Anführer wollen dem Volk beweisen, dass allein die Mulatten für sein Elend verantwortlich sind. " (S. 182)

    War ihr zu Hause jemals ungefährlich? Sie ist von jeher verwundbar. Wegen ihrer Herkunft scheint die patriarchalische Welt sie als Freiwild betrachten zu können.
    Lotus begibt sich mehr und mehr aus ihrer sicheren Umgebung hinaus und kann nun „Sehen“. Sie sieht das Elend um sich herum, sie beginnt zu begreifen, dass ihre Tat, den Frauen bei ihrer Arbeit aufzuwecken, ohne selbst aktiv zu werden, nutzlos war. Jetzt beginnt sie zu helfen und merkt, wie dringend Hilfe nötig ist. Und auch George ist inzwischen bereit, Lotus anzuerkennen.

    Sie erkennt ihre eigene Hilflosigkeit. Das Buch „La Conscience“ von Victor Hugo (S. 120) steht stellvertretend für ihr „Gewissen“. Sie muss etwas verändern. Die Religion und Vodou helfen ihr dabei. Nebenbei erfahren wir etwas über den Kult von Vodou und Religion, die beide in Haiti nebeneinander existieren.
    DerArzt sagt, sie werde töten, auf die Frage, wen: „Ihre Seele, vielleicht“.

    Lotus Leben bekommt plötzlich einen Sinn. Ihr Denken zieht in eine andere Sphäre, so als ob sie nun lebendig geworden wäre, ihr Sein nimmt eine andere Form an, „sie wurde fortgetragen hin zu den Wolken, die den tiefblauen Himmel säumten.“ (Vgl. S. 121)

    „Wie durch ein Wunder war alle Traurigkeit, alles Grauen verschwunden, ich spürte wie Blitze mich durchzuckten, wie eine Vielzahl von Dingen mich belebte […]“. (S. 121)

    Marie Vieux -Chauvet erzählt die Geschichte in der Ich-Form aus Sicht von Lotus. Sie gibt mit dieser Erzählform den Frauen Haitis eine Stimme.

    Die Sprache ist schnörkellos und eindringlich. Gelegentliche Tempussprünge im Text sind gewollt. In der Übersetzung werden sie als „Besonderheit eines haitianischen Textes“ (S. 282) beibehalten.
    Kreolische Begriffe und idiomatische Wendungen werden übernommen und sofern sie nicht übersetzt werden, in Anmerkungen bzw. Glossar erklärt. Diese Umsetzung verleiht dem Roman Authentizität.

    Anmerkungen, Glossar, Nachwort und Editorische Notiz runden den Roman ab.

    Fazit
    „Töchter Haitis“ muss in den geschichtlichen Kontext eingeordnet werden. Ich empfehle für ein besseres Verständnis des Romans zunächst das Nachwort auf (S. 266 f.) und die Editorische Notiz auf (S. 281 f.) zu lesen.

    Bis heute hat der Roman an Aktualität nichts verloren. Es ist eine fiktionale Erzählung und gleichzeitig eine historische Geschichte. "Töchter Haitis" präsentiert die Absurdität der 1940er-Jahre eines rassistisch geprägten Landes.

    Marie Vieux -Chauvet ist Zeugin der Zeit, wie Machtpolitiker durch rassistische Hetze, Korruption und Ausweglosigkeit politischer Organisationen die haitianische Bevölkerung skrupellos manipulieren und sich nicht um die Nöte, insbesondere um die rechtlosesten Teile der Bevölkerung kümmern.

    „Mit Lotus Degrave bietet Marie Vieux-Chauvet uns ein Brennglas, durch das sie eine Gesellschaft sichtbar macht, die sich bis heute wieder auf polarisierenden ethnischen Absolutheitsansprüchen errichtet. Das war radikal in ihrer Zeit.“ (S. 280)

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  1. Emanzipationsprozess in Zeiten des Hasses

    Port-au-Prince, Haiti, in den 1940er Jahren. Lotus wächst als Mulattin privilegiert am Rande der Stadt auf. Nur wenige Mädchen sind mit ihr befreundet. Den Schwarzen ist sie zu hellhäutig, den Hellhäutigen passt ihre Herkunft nicht, denn ihre Mutter verdient ihr Geld als Prostituierte, der Vater gilt als verschollen. Mutter und Tochter leben in bescheidenem Wohlstand, sie haben Dienstpersonal, während in ihrer Nachbarschaft deutlich ärmere Schwarze leben, was Neid hervorruft. Lotus wächst sehr behütet auf. Sie verachtet ihre Mutter für das, was sie ist. Liebe erfährt das Mädchen nur durch das Dienstmädchen Maria. Als Lotus 15 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter, drei Jahre darauf auch Maria. Fortan fühlt sich Lotus einsam, sie leidet an Langeweile und Überdruss, wird von wirren Träumen gequält. Zum Glück hat sie Vater Charles mit seiner Familie auf der Nachbarschaft. Der gottesfürchtige Mann widmet sich liebevoll der jungen Frau und bringt sie immer wieder mit sich ins Reine.

    Wir begleiten Lotus über mehrere Jahre. Sie selbst erzählt uns ihr wechselhaftes Leben in kritischen, ehrlichen Rückblicken. Als Leser sieht man sie und ihre beiden Freundinnen aufwachsen, erlebt manchen Konflikt vor dem Hintergrund des im Land omnipräsenten Rassismus. Man erkennt die Probleme der schwarzen Bevölkerung, die völlig anders geartet sind, als die Nöte der launischen und Ich-bezogenen Protagonistin. Man sieht aber auch deren guten Willen, sich über gängige Handlungsmuster hinweg zu setzen. Durch ihre Herkunft steht sie zwischen den Stühlen und eckt immer wieder an. „Und erneut wird das Zwiegespräch meines Erbes in meinem Inneren zu einem kleinen Duell, zu einem fruchtlosen Kampf ohne Sieger und Besiegten.“ (S. 37) In der Rückschau erlangt sie Klarheit über viele ihrer Erlebnisse, die Erzählperspektive halte ich für sehr gelungen.

    Mit Georges tritt ein Mann in ihr Leben, der sich politisch engagiert und sich als Mulatte und Oppositionsführer des herrschenden Regimes für die Rechte der benachteiligten schwarzen Bevölkerung einsetzt. Lotus verliebt sich Hals über Kopf und wird dadurch mit der harten Realität konfrontiert. Sie unterstützt ihren Geliebten nach Kräften. Die Konsequenzen ihres Tuns werden ihr dabei erst nach und nach klar. Im Laufe des revolutionären Kampfes, der schließlich in einem Umsturz mündet und als paradoxe Folge die mulattische Bevölkerung zu Gejagten macht, erfährt Lotus eine interessante Wandlung und Entwicklung…

    Der Roman erschien erstmalig 1954. Man sollte ihn wissend um die historischen Hintergründe der Zeit lesen. Wie überall in der Welt war das damalige Frauenbild nicht mit dem heutigen vergleichbar. Insofern ist es legitim, dass man sich an Lotus´ teilweise naivem und selbstverliebtem Handlungen stört. Sie will oft das Richtige tun, will die Not ihrer Nachbarn lindern, erreicht aber nur das Gegenteil. Abgesehen von Vater Charles hat sie kaum Fürsprecher und kein Korrektiv. Frauen wurde zudem wenig Bildung zuteil und sie wurden für ein Leben im häuslichen Bereich ihrer Kaste erzogen. Man spürt zunehmend Lotus´ Aufbegehren gegen die gängigen Regeln. Sie kämpft für die Gleichheit der Menschen. Ihre Liebe macht sie dabei verletzlich.

    Der Roman liest sich stilistisch flüssig, die Sprache wirkt etwas altertümlich, wartet aber immer wieder mit wunderschönen Formulierungen und Metaphern auf. Das Buch wird an keiner Stelle langweilig. Zahlreiche Szenen machen die Umstände der Zeit erlebbar, zeigen deren Wirren, Konfliktbereiche und Ungerechtigkeiten anschaulich. Die Erzählerin stellt dabei ihre Emotionen und ihre Empfindungen in den Mittelpunkt. Sie leidet auch im Nachhinein mit dem jüngeren Ich mit, was tatsächlich manchmal etwas anstrengend sein kann. Mit zunehmendem Alter tritt aber ein deutlicher Reifeprozess bei der Protagonistin ein. Die Autorin versteht es, ihre Schauplätze bildlich und atmosphärisch dicht zu beschreiben. Zahlreiche hilfreiche Anmerkungen des Verlages geben Erklärungen zu Historie, Sprache und Übersetzung, so dass man einen umfassenden Eindruck der Lebensumstände, der Gesellschaft und der politischen Lage Haitis bekommt. Man lernt tatsächlich viel dazu.

    Am Ende reift die Erkenntnis, dass es auch im Rahmen von Regierungsstürzen selten gerecht zugeht. Die haitianischen Muster von damals spiegeln sich immer wieder in der Welt: Aus Kämpfern von heute werden Gejagte von morgen. Viele despotische Herrscher haben eben nicht das Wohl des Volkes im Blick, sondern nur den eigenen Wohlstand, die eigene Macht. Das verleiht diesem Roman Zeitlosigkeit. Zweifellos darf man aber auch den feministischen Aspekt nicht unberücksichtigt lassen. Marie Vieux-Chauvet legt den Finger immer wieder in die Wunde: „Die Erziehung einer Frau bereitet sie darauf vor, immer wieder an sich zu zweifeln.“ (S. 169) Lotus wächst in die Rolle der Kampfgefährtin hinein, muss auch eigenen Blutzoll entrichten. Am Ende hat das Leben sie geschliffen und zu einem eigenen Daseinszweck geführt.

    Ein sehr lesenswertes Buch, das den Emanzipationsprozess einer Frau in politisch bewegten Zeiten schildert. Die erstmalig ins Deutsche erfolgte Übersetzung ist dem Manesse Verlag im Rahmen seiner Aktion „Mehr Klassikerinnen“ zu verdanken. Der Übersetzerin Nathalie Lemmens, die den Feinheiten der in Haiti gebräuchlichen Sprache höchste Aufmerksamkeit zollt, gilt meine Anerkennung. Das Nachwort von Kaiama L. Glover gibt wertvolle Informationen zu Leben, Werk und Zeit. Ich empfehle den Roman uneingeschränkt allen Lesern, die Interesse an klassischer Literatur und am Eintauchen in fremde Kulturen haben.

    Große Leseempfehlung!

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  1. 4
    24. Okt 2022 

    Interessant im historischen Kontext

    Im Rahmen der Reihe vom Manesse Verlag kann man nun mal wieder eine gänzlich unbekannte, moderne Klassikerin aus einem Land entdecken, was in unserer heutigen Literaturwelt leider kaum auftaucht. Marie Vieux-Chauvet gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zur Bevölkerungsgruppe der sog. „Mulatten“ in Haiti. Haiti, ein Land, in dem es die einzige erfolgreiche Revolte gegen eine Kolonialmacht, nämlich Frankreich, gab, was seitdem jedoch durch ein ständiges Auf und Ab in seiner Politik gekennzeichnet ist.

    All dies und noch mehr erfährt die Leserschaft des Romans „Töchter Haitis“. Allein mithilfe des Romantextes der Autorin wäre es jedoch schwer, ein Verständnis für die Gegebenheiten und die Geschichte Haitis zu entwickeln. So macht in diesem Falle das Gesamtpaket aus prosaischem Text sowie Anmerkungen des Verlags, Nachwort von Kaiama L. Glover, Professorin an der Columbia University, und editorische Notiz den großen Wert dieser Veröffentlichung aus.

    Im Roman von Vieux-Chauvet begleiten wir die Ich-Erzählerin Lotus durch die politischen Unruhen Anfang des 20. Jahrhunderts in Haiti. Sie gehört eigentlich der bevorzugten und machthabenden Bevölkerungsgruppe der Mulatten an. Laut Anmerkungen war „Mulatte“ ursprünglich eine Bezeichnung für Personen mit einem schwarzen und einem weißen Elternteil, die nach Vertreibung der Franzosen zur tonangebenden Schicht wurden und im haitianischen Kontext eine gängige (Selbst-)Bezeichnung, kein beleidigender, rassistischer Begriff, wie im Deutschen. Gleichzeitig ist Lotus allerdings die Tochter einer Prostituierten, was sie in einen niederen Gesellschaftsstand bringt. Und sie ist eine Frau, was ihre Möglichkeiten in der Zeit der Handlung einschränkt. Somit verbindet die Autorin in diesem aus dem Jahre 1954 stammenden Roman die Themen „race, class und gender“. Die Protagonistin verliebt sich in einen Revoluzzer und schwankt im gesamten Roman zwischen politisch-gesellschaftlichen Engagement und Liebe für diesen Mann, wird Teil der Bewegung, die sich gegen die festgefahrene Ordnung aufbäumt, hat aber scheinbar gar kein intrinsisches Interesse daran, sondern scheint nur ihren Geliebten gefallen zu wollen. Über den gesamten Roman hinweg versucht sie, mit sich selbst und ihren Selbstzweifeln ins Reine zu kommen. So gestaltet sich der Roman fast wie eine späte Coming-of-Age-Geschichte.

    Lotus ist jedoch keine Sympathieträgerin in diesem Roman. Sie ist psychisch auffällig, wankelmütig und melodramatisch. Das macht sie für die Leser:innen unglaublich anstrengend. Ihr Gehabe ist nur schwer auszuhalten und nervt kolossal über den gesamten Roman hinweg. So oft stellt sie sich selbst als ein sensibles, naives Frauchen dar, dass diese Figur aber auch andere der Nebenfiguren antiquiert wirken. Ebenso altmodisch wirkt die überschwänglich, theatralische Sprache. Jedes Auf und Ab von Lotus‘ Gehabe macht die Sprache mit und unterstreicht den aufgeplusterten, antiquierten Stil des Buches. Würde ich allein dies bewerten, wäre ich wohl bei 2,5 bis 3 Sternen gelandet.

    Für mich war die Lektüre allerdings ungemein lehrreich und damit mehr als lohnenswert bezüglich des Wissenszuwachses. Da der Verlag mit seiner Aufarbeitung durch Anmerkungen, Nachwort und editorische Notiz wirklich eine herausragende Arbeit geleistet hat, hat er enorm zu meinem Verständnis der Relevanz des Romans im historischen Kontext und bezogen auf die Rolle der Frauen dort beigetragen. So habe ich über Haiti, dessen Geschichte, die politisch-gesellschaftlichen Zerwürfnisse und die Einwohner unglaublich viel gelernt. Insgesamt also ein durch die Aufarbeitung des Verlags lesenswertes Buch für alle, die mehr über Haiti erfahren möchten.

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  1. "Heute Jäger, morgen Wild"

    Literatur aus Haiti finden wir in Deutschland selten. Dieser Roman ist ein Klassiker; er erschien 1954 und spielt zum Großteil etwa Mitte der Vierzigerjahre. Die junge Mulattin Lotus führt als verwaiste Tochter einer Edelprostituierten, von der sie zwei Häuser geerbt hat, eine vergleichsweise sorglose Existenz in Port-au-Prince. Sie lebt in bescheidenem Wohlstand, kann sich sogar Dienstboten halten. Trotzdem ist sie unzufrieden: Tatenlos und machtlos vermerkt sie die Ungerechtigkeit um sich herum, die bittere Armut ihrer Nachbarn, die Überheblichkeit der hellhäutigen Mulatten - Nachfahren der französischen Kolonialherren - gegenüber den Schwarzen und nicht zuletzt ihre eigene Bedeutungslosigkeit, verglichen mit den Männern, mit denen sie Umgang hat. Halbherzig versucht sie alles mögliche, ohne sich recht klar zu werden, was sie eigentlich will. Die Liebe zu dem jungen Intellektuellen Georges weckt ihren Wunsch nach Veränderung des herrschenden Kastensystems. Unterdessen kommt es zu einem Umsturz, und innerhalb kurzer Zeit verkehren sich die Verhältnisse und die mulattische Bevölkerung sieht sich in den Stand von Parias versetzt. Sinnlose Gewalt ist ebenso an der Tagesordnung wie zuvor. Lotus und ihre Kampfgefährten verzweifeln angesichts dieses Aufruhrs.

    "Töchter Haitis" ist weitgehend ein psychologischer Roman, in dem die Erzählerin Lotus ihren Gemütsschwankungen und gescheiterten Vorsätzen nachspürt: sie macht sich ihr Leben selbst "zum Vorwurf als eine Ansammlung misslungener Versuche" (S. 34), sie klagt über Armut und Ungerechtigkeit, "das ganze elende, wimmelnde Leben entlang der Straßenränder" (S. 51), sie versucht sogar, sich Lohnarbeit zu suchen, scheitert aber schon am ersten Probetag. Auch bei Georges muss sie sich zunächst als Verbündete beweisen: "Die Erziehung einer Frau bereitet sie darauf vor, ein Leben lang an sich zu zweifeln" (S. 169). Ihrer inneren Ruhelosigkeit entspricht der wechselhafte, manchmal sentimentale, manchmal theatralische Stil. Lotus ist kaum vergleichbar mit den emanzipierten, kämpferischen Frauen, die es in Europa schon weit früher gegeben hat. Obwohl sie mit Fortschreiten der Romanhandlung an Reife gewinnt, bleibt sie bis (fast) ganz zum Schluss auf die Rolle der Helferin und Trösterin zurückgeworfen. Vielleicht hilft beim Verständnis dieser Erzählhaltung der Titel "Töchter Haitis". Es geht nicht nur um die eine Frau Lotus, die uns aus ihrem Leben erzählt, sondern allgemein um die haitianischen Frauen dieser Epoche. In einer Zeit schwierigster Umbrüche und rücksichtsloser Gewalt bleibt für die Frauen kaum ein Tätigkeitsfeld. Lotus liest in ihren sicheren vier Wänden Nietzsche und Romain Rolland, aber wo Polizeiknüppel regieren, wagt sie sich nur zaghaft aus ihrer Rolle und findet sich am Ende in ihrem eigenen Haus männlicher Gewalt ausgeliefert.

    Neben einem eindrücklichen Gesellschaftsbild bietet das Buch viel Lokalkolorit und plastisch beschriebene Nebenpersonen wie den bibelfesten Schuster Charles, das mürrische Hausmädchen Gertrude und viele andere. Besonder hervorzuheben sind die erklärenden Anmerkungen und das ausführliche Nachwort, das die Autorin in der haitianischen Literatur positioniert. Marie Vieux-Chavet ist dort eine immens wichtige Klassikerin. Die ausgezeichnete Übersetzung berücksichtigt auch den Sprachduktus der vielfach eingestreuten kreolischen Ausdrücke. Leseempfehlung!

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  1. Interessant und lesenswert

    „Ich blickte ohne Widerstreben oder Abscheu auf mich, erkundete voll Inbrunst jene Seele, die zu mir gehörte, horchte auf den neuen Tonfall meines Denkens und verstand, was es damit auf sich hatte.“ (Zitat Seite 80)

    Inhalt
    Lotus Degrave hat durch ihren französischen Vater eine helle Hautfarbe und gehört damit Anfang der 1940er Jahre in Haiti zur elitären Gesellschaftsschicht. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebt sie allein in der von ihrer Mutter geerbten Villa in Port-au-Prince. Da allgemein bekannt ist, womit ihre Mutter ihr Geld verdient hat, wird Lotus von ihrer Gesellschaftsklasse ausgegrenzt. Andererseits wird sie von den Schwarzen auf Grund ihrer hellen Haut genau dieser verhassten, herrschenden Klasse zugeordnet. So lebt sie trotz der Feste, die sie in ihrer Villa gibt, ein einsames, isoliertes, gelangweiltes Leben. Dann lernt sie Georges Caprou kennen. Er ist der Anführer einer Gruppe von Männern, die sich gegen die Ungerechtigkeiten des herrschenden Regimes auflehnen und eine Revolution planen. Durch ihn sieht sie endlich die Armut, das Leid und das Elend der Menschen, das schon in der Nachbarschaft ihres großen Anwesens beginnt, und beschließt, sich zu ändern, selbst aktiv zu werden.

    Thema und Genre
    Dieser Roman der haitianischen Schriftstellerin Marie Vieux-Chauvet ist vielseitig, einerseits sozialkritischer Gesellschaftsroman, zeigt er in der Entwicklung der jungen Lotus auch Elemente des Coming-of-Age-, Familien- und Abenteuerromans. Es geht um die Situation der Frauen in den 1940er Jahren in Haiti. Zeitlos aktuelle Themen sind die Gesellschaftsstrukturen, die tiefen Gräben zwischen den Bevölkerungsschichten durch Hautfarbe und Abstammung, damit verbunden Unterdrückung, Armut, Hass und Gewalt, und die sich daraus ergebende brisante politische Situation.

    Charaktere
    Lotus ist eine junge Frau, die durch das strenge Klassendenken isoliert ist. Von ihrem Leben gelangweilt, oberflächlich und eingebildet, ändert sie sich, als sie die Armut und das Elend der Menschen um sich herum bewusst erkennt. Zunächst will sie vor allem Georges mit ihrer neuen Haltung beeindrucken. Nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch gut durchdacht, immer wieder zweifelt sie an sich selbst, reagiert aufbrausend. „Die Erziehung einer Frau bereitet sie darauf vor, ihr Leben lang an sich zu zweifeln.“ (Zitat Seite 169)

    Handlung und Schreibstil
    Die Geschichte wird von Lotus selbst als Ich-Erzählerin geschildert. Die Handlung verläuft chronologisch und wird durch Erinnerungen ergänzt. Da die Autorin besonders auf die Situation der Frauen während dieser Zeit des Klassendenkens und der politischen Umbrüche eingehen will, erleben wir durch die gesamte Handlung auch die persönliche Entwicklung von Lotus Degrave mit, ihre Gedanken und ihre Selbstzweifel. Es sind diese inneren Monologe, in denen sie sich ausführlich mit ihren eigenen Befindlichkeiten und Gefühlen beschäftigt, welche die Sprache manchmal ausufernd, beinahe schwülstig, erscheinen lassen. Ich persönlich hätte daher die Geschichte lieber in einer personalen Erzählform gelesen. Andererseits ist es die Sprache der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde, er ist 1954 erschienen. Besondere Ausdrücke im Text sind mit Fußnoten versehen und werden in den Anmerkungen am Buchende erklärt. Wichtig ist das Nachwort, welches mit einer kurzen Biografie der Schriftstellerin beginnt und dann die geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge näher erläutert und die Figur der Lotus in diesem Kontext betrachtet. Dies sind wissenswerte Ergänzungen, die auch dem besseren Verständnis für die Hintergründe und Anliegen dieses Romans dienen und Informationen über ein Land, über das ich bisher wenig wusste.

    Fazit
    Ein facettenreicher, eindrucksvoller Roman, der interessante und zeitlos aktuelle Einblicke in die Gesellschaftsstrukturen, die Stellung und das Leben der Frauen und die Politik des Inselstaates Haiti bietet.

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  1. Haiti in den Vierzigern und eine Metamorphose

    Außer der geographischen Lage, der Hauptstadt und der verheerenden Wirbelstürme war mir über Haiti noch nichts bekannt. Dank des Buches ‚Töchter Haitis‘ - und den ausführlichen Erklärungen des Verlags Manesse in den Anmerkungen - wurden viele Wissenslücken diesbezüglich geschlossen. Ob es Pflanzen, Musik, Währung, oder die unterschiedlichen 'Phänotypen von Menschen gemischter ethnischer Herkunft' waren, die Informationen empfand ich als wohltuend umfangreich!

    Bei der Schilderung der Protagonistin wurde ein Bild einer jungen Frau entworfen, das wahrscheinlich zu jener Zeit - den vierziger Jahren - häufiger anzutreffen war und das für unsere heutigen Einstellungen sehr anstrengend ist! Lange Zeit nur um ihr eigenes Seelenheil besorgt, wirkt sie sehr egoistisch. Aber auch Männer kommen in diesem Roman nicht gut weg bei mir: viel zu machohaft! (Bei manchen Szenen wurde ich bei George an Rhett Butler in ‚Vom Winde verweht‘ erinnert!) Beispiel: das von männlicher Arroganz und Dominanz triefende: "Ich werde dich nehmen, wenn ich es will, Lotus."

    Die Themen ‚Vodou‘, Geistwesen und Visionen schienen ein allseits verbreitetes Phänomen gewesen zu sein, ich persönlich kann aber damit wenig anfangen! Erschütternd fand ich den Hass zwischen Schwarzen und Mulatten. Die Autorin Marie Vieux-Chauvet zeigte die strikte Trennung zwischen männlicher und weiblicher Welt und kämpfte mit ihren Büchern dagegen an und für mehr Durchlässigkeit.

    Meine Highlights bei den Personen waren Maria, das erste Hausmädchen, Charles, der Schuster, der viel heilsame Lebensweisheiten und Bibelsprüche parat hatte und der Arzt Dr. Garin, der Lotus‘ Mutter geliebt hatte und auch Lotus unterstützte.

    Dieses Buch hat mich gut unterhalten und vor allem informiert! Gut, die Selbstbezogenheit der Protagonistin ließ mich oft die Stirn runzeln, aber ich denke, es war die Intention der Autorin, diese auch oft überzeichnet darzustellen, damit – nachdem ja der Roman von der Entwicklung der jungen Frau Lotus handelt – auch der letzte Lesende merkt, dass da eine Metamorphose der Persönlichkeit stattfindet.

    Vier Sterne vergebe ich deshalb und empfehle es denjenigen Lesern, die an Haiti näher interessiert sind!

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Die schöne Menschenliebe: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die schöne Menschenliebe: Roman' von Lyonel Trouillot
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die schöne Menschenliebe: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
Verlag: Liebeskind
EAN:9783954380329
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Rezensionen zu "Die schöne Menschenliebe: Roman"

  1. 4
    28. Sep 2014 

    Eine Ode auf die Menschlichkeit...

    In seinem Taxi bringt Thomas die junge Anaïse in ein kleines Fischerdorf, das in einem entlegenen Winkel von Haiti liegt. Anaïse ist aus Europa angereist, um einem Familiengeheimnis nachzugehen, das sich wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben ausbreitet und dessen Ursprung in jenem Dorf liegt, aus dem auch Thomas stammt. Vor vielen Jahren hat sich dort ein tragisches Unglück ereignet.
    Der erfolgreiche Geschäftsmann Robert Montès - Anaïse' Großvater - und der ehemalige Polizeichef Pierre André Pierre sind nach einem nächtlichen Brand, der ihre benachbarten Häuser in Schutt und Asche gelegt hat, spurlos verschwunden. Sind die beiden einer Racheaktion zum Opfer gefallen? Oder haben sie selbst das Feuer gelegt, um ihre vermeintlichen Verbrechen zu vertuschen? Thomas warnt Anaïse, dass ihre Nachforschungen zwangsläufig ins Leere laufen werden. Denn er weiß, dass an diesem magischen Ort die Wahrheit allen gehört und niemand seinem Schicksal entfliehen kann.

    "Was ist denn so schlimm daran, wenn ich hierherkomme, um herauszufinden, was er gesagt, wovon er geträumt haben könnte? (...) Ich bin gekommen, um das Herz eines unglücklich geborenen jungen Mannes schlagen zu hören, der keinen Ort für sich hatte. Eines Jungen, der viele Annehmlichkeiten aufgegeben hat, um hier zum Leben zu erwachen und dann in ein ungewisses Anderswo zu gehen." (S. 152 f. und S. 171)

    Dies sagt Anaïse, deren Vater starb, als sie 3 Jahre alt war. Sie weiß nicht viel über ihren Vater, auch nicht woran er starb, und kaum etwas darüber, woher er kam. Einzig der Name Anse-à-Foleur bietet ihr einen Anhaltspunkt - und der Name ihres Großvaters: Robert Montès.
    Der seinerzeit sehr erfolgreiche Geschäftsmann Robert Montès hatte sich in dem kleinen Dorf am Meer ein Ferienhäuschen errichten lassen, identisch mit und gleich neben dem seines besten Freundes, dem Oberst Pierre André Pierre. In einer friedvollen, lauen Nacht vor 20 Jahren brannten unbemerkt die beiden Häuser ab, der Oberst und der Geschäftsmann verschwanden spurlos.

    Natürlich wurden Ermittlungen angestellt - aus der Hauptstadt wurde jemand entsandt, der als der beste Spürhund im Polizeidienst galt. Zwei hochangesehene Männer aus den höchsten Gesellschaftskreisen waren verschwunden, der Minister persönlich sah sich zum Handeln genötigt. Doch die Ermittlungen verliefen anders als erwartet...

    "Der Ermittler war mit Fragen, einem Auftrag und dem notwendigen Know-how zu uns gekommen, um Schuldige zu entlarven. Weggefahren ist er mit seinem Kündigungsschreiben in der Tasche und dem Namen für seine Bar: 'L'Anse-à-Foleur'."

    Spätestens jetzt wird deutlich, dass es sich bei diesem Buch in keinem Fall um einen Krimi oder Thriller handelt. Den größten Teil der Erzählung macht die Fahrt in das kleine Küstendorf aus - Thomas, der auch in Anse-à-Foleur verwurzelt ist, bringt Anaïse mit ihren Fragen in seinem Taxi zu ihrem Ziel. Und redet dabei ohne Unterlass. So viel, dass Anaïse zwischendurch sogar einschläft, aber der Leser erfährt dabei einiges über Land und Leute, den Geschäftsmann und den Oberst - und die Menschenliebe.
    Schnell wird deutlich, dass es keine Sympathieträger sind, die da einem mutmaßlichen Verbrechen zum Opfer gefallen sind: Robert Montès, der kalt lächelnde Geschäftsmann und Pierre André Pierre, der skrupellose Oberst. Zu keinem Zeitpunkt haben die beiden die Freundschaft des Dorfes gesucht, sie waren mit sich selbst zufrieden. Und alleine die Tatsache, dass die beiden miteinander befreundet waren, mutet schon erstaunlich an.

    "Nichts außer der Grausamkeit konnte die Freundschaft erklären, die Oberst Pierre André Pierre und den Geschäftsmann Robert Montès bis in den Tod verband." (S. 93)

    Ein mutmaßliches Verbrechen, das nie aufgeklärt wurde, die Fragen, die auf das Schweigen des Dorfes treffen - Thomas macht auch Anaïse keine Hoffnung, dass sie die Antworten erhalten wird, nach denen sie vielleicht sucht. Jeder, der den Fall aufklären wollte, kehrte unverrichteter Dinge zurück, aber bereichert um eine besondere Erfahrung.

    "Was ändert es, ob ich dir Lügen oder die Wahrheit über ihren Tod erzähle? Kann es ein Verbrechen sein, Glück zu schaffen?" (S. 146)

    Dies ist ein wahrlich außergewöhnliches Buch. Allein die Art des Erzählens - es geschieht so gut wie nichts, außer am Ende. Aber der Weg ist das Ziel, so sagt man doch so schön, und hier ist es wirklich so. Die Fahrt aus der lauten, heruntergekommenen Hauptstadt Haitis Port-au-Prince mit ihren großen Armenvierteln in das Küstendorf Anse-à-Foleur hat zugleich etwas Symbolisches: eine Reise durch die Geschichte Haitis, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu sich selbst.
    Bruchstückhaft erhält Anaïse gemeinsam mit dem Leser eine Flut an Informationen, und nach und nach präsentiert sich ein kompaktes Bild über die Zustände in Haiti, die Kontraste der Lebenswelten, Anspielungen auf historische Größen wie den langjährigen Diktator 'Papa Doc' - die Parallelen zu den beiden Opfern des mutmaßlichen Verbrechens drängen sich geradezu auf - die Überflutung durch den Tourismus --- und das entlegene Fischerdorf Anse-à-Fouleur, das geradezu wie ein Sehnsuchtsort erscheint.

    "Es gibt Städte, die lächeln, und solche, die finster dreinschauen. Solche, die grell angemalt sind wie ein Straßenmädchen, das sich jeden Abend verkleiden muss, um in den Kampf zu ziehen. Und andere, die nichts zeigen, nichts verkaufen, weder angeben noch sich zur Schau stellen, sondern unbefangen lächeln, wenn jemand zu Besuch kommt. So ist meine Stadt am Meer. " (S. 20)

    Der Schreibstil ist angenehm, oft poetisch - und wechselt zwischen langen, verschachtelten aber verständlichen Sätzen und sehr kurzen Sätzen. Der Eindruck, dass Thomas, der Taxifahrer, der Reiseführer, der Geschichtenerzähler, der Glückshelfer, ohne Punkt und Komma redet, wird noch dadurch verstärkt, dass in den meist vier- oder fünfseitigen Abschnitten keine weitere Untergliederung stattfindet, kein Absatz, keine Lücke im Text, alles ein Fluss.
    Erst gegen Ende lässt Lyonel Trouillot auch Anaïse zu Wort kommen, einige Seiten lang, und durch ihre Augen erlebt man das Dorf als Fremde. Auch 'Die schöne Menschenliebe' erhält noch das Wort, und hier erfährt der Leser das Besondere, den Zauber, den das Dorf ausmacht. Und die Einsicht, dass es Verbrechen gibt, bei denen die Moral über der Notwendigkeit zu stehen scheint, sie tatsächlich aufzuklären...

    "Jeder Mensch sollte der Glückshelfer eines anderen Menschen sein." (S. 32)

    Ein beeindruckendes Werk, das sich trotz des nicht allzu großen Umfangs nicht einfach runterlesen lässt. Dazu ein Cover, das fast nebulös und dadurch geheimnisvoll wirkend einen Blick auf das Fischerdorf Anse-à-Foleur gewährt. Für mich ein rundum stimmiger Roman, der auch nach dem Lesen noch nachhallt.

    Ich danke dem Liebeskind-Verlag ganz herzlich für die Überlassung des Rezensionsexemplars und die Möglichkeit, diese kleine Perle für mich zu entdecken.

    © Parden

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